Andrea, Roth und die Erdbeeren

Ende Mai 1939 steht Andrea Manga Bell in Paris am Grab des Schriftstellers Joseph Roth, um sich von ihm mit einem Körbchen Erdbeeren zu verabschieden. Lea Singer erzählt in ihrem neuesten Roman „Die Heilige des Trinkers“ die Geschichte einer Frau im Hintergrund und die Geschichte einer intensiven und tragischen Liebesbeziehung.

Die Erdbeeren hatten für Joseph Roth die symbolhafte Bedeutung von Glück, das hatte er seiner Geliebten Andrea Manga Bell in einem persönlichen Moment anvertraut. „Erdbeeren“ lautet auch der Titel des Textes, der Fragment geblieben ist, da er ihn vor seinem Tod nicht mehr fertigstellte und der Roman über seine Kindheit werden sollte.

Wer war Andrea Manga Bell? Wer war die Frau an der Seite Joseph Roths, die ihn von 1929 bis zum Bruch im Jahre 1936 als Geliebte, Partnerin und Sekretärin durch Höhen und Tiefen begleitete?
Der Beantwortung dieser Frage versucht sich Lea Singer in ihrem Roman zu nähern. Sowohl Andrea Manga Bell, als auch Joseph Roth waren verheiratet, als sie sich 1929 kennenlernten. Roths Frau war seit langem erkrankt – eine Scheidung kam für ihn nicht in Frage – und Andrea Manga Bell war verheiratet mit Alexander Douala-Bell, dem Sohn des hingerichteten Douala-Königs in Kamerun Rudolf Manga Bell.

Gemeinsam mit ihren zwei Kindern lebte sie in Paris und Berlin ungeschieden, jedoch in Trennung von ihrem Mann, der ohne sie wieder nach Kamerun zurückgekehrt war.
Andrea Manga Bell – 1902 in Hamburg geboren – war Tochter einer Hamburgerin und eines afro-kubanischen Pianisten, wird stets als ausnehmend schöne Frau beschrieben, die jedoch aufgrund ihrer Hautfarbe auch immer wieder Opfer von Rassismus wurde.

Lea Singer beschreibt, wie sie Roth kennen- und lieben lernt. Ihre Fähigkeiten als Redakteurin – sie hatte selbst bei Ullstein gearbeitet – setzt sie schnell für ihren Lebensgefährten ein, tippt, redigiert und lektoriert seine Bücher.

„Ich begriff, dass die Stunde hohl ist. Ein Gefäß für das Geschehen. Und ich stopfte die Sekunden voll mit dem Glück meiner Liebe. Die Minuten mit der Überfülle meines Herzens. Und goss Ewigkeit in die Stunden. Sekunden, Minuten, Stunden sprangen, barsten, liefen über. Glockenschläge ertranken rettungslos im Meer meiner Liebe. Die Uhr ward machtlos. Ich hatte sie bezwungen. Man kann eine Stunde nicht gewinnen oder verlieren. Man kann ihr Sklave sein oder ihr Herr. Man bezwingt sie, indem man sie ausnützt, das heißt erfüllt.“

(S.27)

Das Zusammenleben gestaltet sich nicht immer einfach. Roths Alkoholsucht, seine verschwenderische Art, mit Geld umzugehen, und Andrea Manga Bells Kinder werden immer wieder zu Streitpunkten.

„Die Wahrheit als Abrissbirne für Lügengebäude, ihr gefiel das. Auch weil Roth ihr diese Abrissbirne geschenkt hatte. Wahrheitsliebe war in Literatenkreisen, und in denen kreiste A. seit Jahren, nicht verbreitet, zu wenig Unterhaltungswert.“

(s.35)

Joseph Roth schrieb in seine Aufzeichnungen oft von A. wenn er seine Lebenspartnerin meinte. A. wie Andrea, aber auch ein verkürztes, anonymes A., das vielleicht als Symbol für die Frau im Schatten, für die Stütze im Hintergrund oder für eine gewisse Heimlichkeit (obwohl sie die Beziehung nicht verhehlten) gelesen werden kann. Auch Singer verwendet dieses A. im Roman für ihre Hauptfigur.

Sie folgt ihm ins Exil, doch die sich stetig verschlimmernde Alkoholabhängigkeit Roths, sein gesundheitlicher Verfall und die eskalierenden Streitigkeiten kulminieren schließlich in der Trennung der beiden im Jahre 1936.

„Hadern Sie nicht mit Ihrem Schicksal?
Es ändert sich dadurch nicht.“

(S.54)

Joseph Roth tröstete sich mit Irmgard Keun, bevor er 1939 in Paris im Alter von nur 44 Jahren verstarb. Andrea Manga Bell verstarb 1985 im Alter von 83 Jahren ebenfalls in Paris.

„Was unbedingt zu verbergen war, konnte sich von heute auf morgen ändern. Was sich nicht änderte war, dass Geheimwissen eine Waffe war, mit der sich ohne Blutvergießen morden ließ.“

(S.120)

Lea Singer beherrscht die Kunst, die Atmosphäre der damaligen Zeit stimmungsvoll einzufangen. Sie schildert die Gesellschaften im Romanischen Café, das illustre Treiben auf dem Ku’damm, das lebendige Literaten- und Künstlermilieu in Berlin und Paris und sie beschreibt eine intensive und berührende Liebesgeschichte.

Zudem findet sie auch die richtigen Worte, die Schattenseiten und Probleme durch Joseph Roths Alkoholismus zu beschreiben, welche die Beziehung stark belasteten.

„Von Roth, von Nelly Kröger, den vaterlosen Trinkern, wusste A., dass die aus der Kindheit mitgeschleifte Angst, alleingelassen zu werden und nicht zu bestehen, eine nie verheilende Wunde war. Die Droge sedierte den Schmerz. Höher und immer höher dosiert, löschte die Droge diese Wunde für immer aus – mit dem Verwundeten.“

(S.273)

„Die Heilige des Trinkers“ ist sicherlich ein melancholisches und trauriges Buch, das nicht nur eine tragische Liebesgeschichte, sondern auch viele Szenen von Alltagsrassismus beschreibt, den Manga Bell erfahren musste. Es ist jedoch auch ein anrührender und großartiger Roman über eine starke Frau, die es verdient, aus dem Schatten Joseph Roths geholt und gewürdigt zu werden.

„A. spürte, dass ihr Puls sich beschleunigte, hörte oder las sie von den Erdbeeren. Ihr schien es, als wäre diese Geschichte das Woher und das Wohin von Roth, die, aus der alles wuchs und in der alles erstarb.“

(S.249)

Irmgard Keun, die selbst eine Liebesbeziehung zu Joseph Roth hatte, soll später gesagt haben, dass Manga Bell und seine Ehefrau, die einzigen Frauen waren, die er je geliebt hat.

Lea Singer hat ein feinfühliges, sensibles und tiefgründiges Buch auf Basis wahrer Begebenheiten verfasst, das durch seine Stilistik und Sprache besticht und sich wunderbar lesen lässt. Für alle, die Interesse an etwas Literaturgeschichte, an Literaten im Exil, an der Zeit der Dreißiger Jahre und natürlich an Joseph Roth oder einfach an einer gut erzählten Liebesgeschichte (ohne Happy end) haben, eine klare Leseempfehlung!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kampa Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Lea Singer, Die Heilige des Trinkers
Kampa
ISBN: 978-3-311-10050-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Lea Singers „Die Heilige des Trinkers“:

Für den Gaumen:
Der Alkohol überschattet alles in Joseph Roths Leben und im Buch. So spielen die Getränke auch im Roman eine deutlich größere Rolle als das Essen. Doch in Ascona zu Gast bei Erich Maria Remarque, werden Joseph Roth und Andrea Manga Bell bekocht:

„Es roch nach Röstkartoffeln und Rindsbrühe, die Wiener Haushälterin hatte Tafelspitz gekocht.“

(S.164)

Zum Weiterhören:
Andrea Manga Bell hört Josephine Bakers „Bye bye Blackbird“ (S.42) – ein Song aus dem Jahr 1926, der sich unter anderem hier auf YouTube finden lässt.

Zum Weiterlesen (I):
Vor einiger Zeit habe ich bereits einen Roman von Lea Singer hier auf der Kulturbowle vorgestellt: La Fenice erzählt die dramatische Geschichte von Tizians Venus und spielt im Venedig der Renaissance – übrigens einer der bislang erfolgreichsten bzw. klickstärksten Blogbeiträge meiner Website.

Lea Singer, La Fenice
Kampa
ISBN: 978 3 311 10027 0

Zum Weiterlesen (II):
Bei mir im Regal steht eine alte Ausgabe von Joseph Roths „Radetzkymarsch“, die ich vor vielen, vielen Jahren gelesen habe. Frisch inspiriert durch die aktuelle Lektüre, sollte ich vielleicht auch „Hotel Savoy“ auf meine Lese-To-Do-Liste setzen. Die wohl wichtigste Rolle in Singers Roman spielen jedoch die „Erdbeeren“, die Fragment geblieben sind und von Roth nicht mehr vollendet wurden.

Joseph Roth, Radetzkymarsch
dtv
ISBN: 978-3-423-12477-5

Joseph Roth, Hotel Savoy
dtv
ISBN: 978-3-423-13060-8

Joseph Roth, Erdbeeren: Und andere Fragmente aus dem Nachlass
Edition Holzinger
ISBN: 978-1515322511

3 Kommentare zu „Andrea, Roth und die Erdbeeren

  1. Hallo, liebe Barbara,
    vielen Dank für Deine Lektüre und Vorstellung.
    Wann immer die Rede ist von literarischen Personen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, schaue ich gerne nach und blättere bei Hermann Kesten. Hier finden sich zwei Stellen in „Meine Freunde, die Poeten“, Ullstein Werkausgaben, Hermann Kesten, Ullstein Taschenbuch, Frankfurt, Berlin, Wien, (1953, 1959,) 1980. Im Kapitel zu Heinrich Mann ist zu lesen:

    „In Sanary oder in Paris verabredete ich mit Heinrich Mann, wir wollten in Nizza zusammen ein Haus nehmen. Auch Joseph Roth wollte mit mir in Südfrankreich zusammen sein. Und so mieteten wir im Herbst 1934 auf der Promenade des Anglais Nr. 121 ein Haus mit drei möblierten Etagenwohnungen, im ersten Stock wohnten meine Frau und ich, über uns im zweiten Stock Joseph Roth mit der schönen Frau Manga Bell und darüber im dritten Stock Heinrich Mann mit Frau Nelly Kroeger. An blauen Abenden standen wir auf unseren Balkons und sahen wie die Sonne im Meer unterging und ihr Abschein die Wellen und den Himmel und die Wangen unserer Frauen rötete.“ (Seite 35 / 36)

    In Kestens Würdigung von Joseph Roth schreibt er kurz: „In der Emigration lebte Roth viele Jahre mit einer sehr schönen und witzig geistreichen Frau eines afrikanischen Königs, sie war die Tochter eines Kubaners und einer blonden Hamburgerin.“ (Seite 162)

    Ob dies mit der Schilderung von Lea Singer zusammen stimmt?

    fragt mit vielen herzlichen Grüßen aus Nürnberg
    Bernd

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    1. Lieber Bernd,

      Ich finde in Kestens Kurzzusammenfassung nichts, was Lea Singers Schilderung widerspricht. Auch sie beschreibt die Herkunft und die Schönheit, aber eben auch Witz, Esprit und Intelligenz von Andrea Manga Bell.
      Aber es ist schön, dass Singer sich der „Frau im Hintergrund“ Roths jetzt ausführlicher widmet und sie in ihrem ca. 300-seitigen Roman eben tiefgründiger und umfassender beleuchten und würdigen kann.
      Lea Singer – hinter der sich die Kulturhistorikerin Eva Gesine Baur verbirgt – recherchiert meines Erachtens nach auch gründlich für ihre fiktionalen Werke bzw. Romane, die oft kulturgeschichtlich interessante, reale Persönlichkeiten (MusikerInnen, LiteratInnen, KünstlerInnen etc.) in den Mittelpunkt stellen.
      Im Anhang ihres Romans erwähnt sie übrigens interessanterweise auch u.a „Joseph Roth: Das Porträt. Regie: Hermann Kesten“ vom WDR, Köln, gesendet am 1. Oktober 1970.
      Kestens Sicht ist somit mit großer Sicherheit ebenso eingeflossen.

      Herzliche Grüße nach Nürnberg und eine gute restliche Woche mit Feiertag wünscht, Barbara

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