Wärmende Empathie im Duett

Manchmal braucht es Bücher, die einem gut tun, das Herz wärmen und der Seele etwas Trost spenden. In der letzten Zeit habe ich zwei Bücher gelesen, die ich aus tiefster Überzeugung dieser Kategorie zuordnen würde: Axel Hackes „Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte“ und Ben Aitkens „The Marmalade Diaries“. Zwei Mal Sonnenschein zwischen Buchdeckeln und beides Lektüren, die wirklich wohltuend sind.

Als bekennender Axel Hacke-Fan hatte ich ja schon gespannt und voller Vorfreude auf sein neues Buch gewartet: „Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte“. Vermutlich einer der längsten Titel, der einen Umschlag in meinen Regalen ziert und ich habe es sofort nach Erscheinen im September gelesen oder besser inhaliert – auf einen Rutsch.

Und jetzt da ich endlich die Zeit und Muße finde, dieses strahlende und lichtdurchflutete Buch – der Umschlag mit den leuchtenden Sonnen tut hier auch optisch sein Übriges – hier auf der Bowle vorzustellen, habe ich mich sofort wieder festgelesen.

Ein gutes Zeichen, ein sehr gutes Zeichen und es ist auch wirklich ein kleines, feines und sehr gutes Buch. Wunderbar zu lesen, inspirierend, nachdenklich und selbstkritisch und doch auch ca. 220 Seiten, die Mut machen. Mut machen, dieser Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, mit Heiterkeit zu begegnen.

„Wenn es stimmt, dass man nicht leben kann, ohne heiter zu sein, dann muss ich diese Heiterkeit wichtig nehmen. Ich sollte nicht warten, dass sie um die Ecke kommt und mich befällt, sondern ich muss mich bemühen, nach ihr suchen, sie als immer vorhandene Möglichkeit des Lebens betrachten.“

(aus Axel Hacke „Über die Heiterkeit…“, S.42)

Axel Hacke versucht von verschiedensten Blickwinkeln den Begriff der Heiterkeit zu ergründen, zu definieren und greifbar zu machen. Was bedeutet Heiterkeit? Und wie kann man ein heiterer Mensch werden?

Er nähert sich unter anderem über Kunst, Kultur, Literatur – beschreibt den Zauber, den die Zeichnungen von Sempé auf ihn ausüben, die humoristische Kunst eines Loriot, den Witz und die Gelassenheit eines Peter Ustinov, ebenso wie die Schlitzohrigkeit des „Brandner Kaspar“. Sigmund Freud, Thomas Mann, Seneca und Epikur – er liest und zitiert die ganz Großen und schreibt in seinem unvergleichlich luftig-leichten Stil – gespickt und verziert mit witzigen Anekdoten aus seinem Alltag – führt hochinteressante Gedankengänge aus, regt zum Nachdenken, Reflektieren und Philosophieren an.

Ich mag den Stil, den Wortwitz, ich mag das feine Auge für die Mitmenschen und den Sinn für Humor – die gelungene Balance zwischen Heiterkeit und Ernsthaftigkeit, die auch Hackes Werken zu eigen ist.

Ein warmherziges, beseelendes und bereicherndes Buch, das man ohne Zweifel, immer wieder aufs Neue mit Gewinn zur Hand nehmen und wieder und wieder lesen kann. Wer also auf der Suche nach etwas Heiterkeit im Leben ist, sollte zu Axel Hackes Buch greifen. Ein Lichtblick und ein wahres Geschenk, das der Autor hier seinen LeserInnen gemacht hat. Wieder einmal.

„Wäre es nicht Unsinn, die Heiterkeit aus unserem Lebensplan zu streichen, weil die Umstände und Aussichten gerade enorm unheiter sind? Würden wir uns nicht gerade das nehmen lassen oder selbst nehmen, dessentwegen wir an diesem Leben hängen? Sollten wir nicht sogar gerade dann heiter sein, wenn die Zeiten es nicht sind?“

(aus Axel Hacke „Über die Heiterkeit…“, S.25)

The Marmalade Diaries“ ist ein Tagebuch – basierend auf einer wahren Begebenheit und beschreibt den Zeitraum von Oktober 2020 bis August 2021, in welchem der Mitte Dreißig-Jährige Autor und Journalist Ben Aitken im Rahmen eines „Share&Care“-Projektes ins Londoner Haus der 84-jährigen Witwe Winnie mit einzieht. Günstige Miete gegen etwas Unterstützung im Alltag, d.h. im Haushalt und Garten. Dass die Pandemie und Lockdownmaßnahmen die beiden im Grunde wider Willen zu einer unzertrennlich engen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißen würden, war zu Beginn der Vereinbarung nicht abzusehen.

„Aber dann geschieht es, dass sie ins Wohnzimmer geschlurft kommt, wo ich Tee trinke und die Nachrufe lese, und sie sagt, dass sie im Supermarkt Baked Beans gekauft hat, weil sie weiß, dass ich die gerne mag, und ich soll mich doch bitte bedienen, aber vorzugsweise, wenn sie nicht da ist.“

(aus Ben Aitken „The Marmalade Diaries“, S.128)

So ist es zum Beispiel Bens Aufgabe, den Kohleofen im Haus – also buchstäblich das Feuer – am Brennen zu halten. Das bedeutet morgens früh aufstehen und das schwache Glimmen wieder zu befeuern.

„Ich eröffne ihr, dass sie womöglich für ein paar Tage auf die Zentralheizung zurückgreifen muss. Sie sieht mich an, als hätte ich sie gerade gebeten, ihre Unterwäsche in Champagner zu waschen.“

(aus Ben Aitken „The Marmalade Diaries“, S.101)

Gleichzeitig ist es auch ein schönes Bild, das im übertragenen Sinne auch für den Lebensfunken, die Freude am Leben und das Durchhaltevermögen gesehen werden kann, den Ben durch seine liebevolle Fürsorge und sein aufrichtiges Interesse an Winnie am Glühen erhält und sie geistig wach bleiben lässt.
Die beiden liefern sich teils heftige Wortgefechte und spitzzüngige Scharmützel. Sie schonen sich nicht. Das kann stellenweise urkomisch, aber auch tieftraurig sein.

Je länger Ben bei Winnie lebt, je länger der Lockdown währt und die beiden auf ihre abgeschiedene Zweisamkeit zurückgeworfen sind, um so tiefer taucht Ben in Winnies Universum und Gedankenwelt ein. In die Trauer um den vor kurzem verstorbenen Ehemann und in diesen durchritualisierten Alltag, der bestimmt wird durch die ständige Sorge um den erwachsenen Sohn, der aufgrund einer Zerebralparese, die er bei der Geburt erlitten hat, in einer Pflegeeinrichtung lebt.

„Legte sie die Hand aufs Herz, müsste Winnie womöglich zugeben, dass ihre große Vorliebe für Orangenmarmelade weniger mit dem Geschmack als mit der Tatsache zu tun hat, dass sie Erinnerungen an ihre Kindheit wachruft.“

(aus Ben Aitken „The Marmalade Diaries“, S.224)

Er lernt umzugehen mit ihrem Zwang, sich nicht von verdorbenen Lebensmitteln trennen zu können, um nichts zu vergeuden und gewöhnt sich an ihre teils ruppige und ignorante Art. Es ist eine intensive und anstrengende Zeit – für beide.

„Während wir durchs Leben gehen, sammeln sich Assoziationen in unseren Hinterköpfen und auf den Zungenspitzen, wo sie über Tage oder Jahre lauschig und nutzlos ruhen, bis sie plötzlich wie ein paar Artischocken auf dem Küchentisch wachgerufen werden. Mehr Zeit, mehr Erinnerungen. Das Leben schreitet fort und verdickt sich. Es gewinnt Struktur, Gewicht, Stoff. Und indem es Stoff gewinnt, wird es gewichtiger. Ich freue mich auf den Moment in vielen Jahren, wenn jemand ein Glas selbst gemachter Orangenmarmelade vor mich hinstellt und ich an die Zeit zurückdenken muss, als ich mit einer Frau zusammengewohnt habe, die mich gleichermaßen erfreut, amüsiert, inspiriert, verblüfft und verärgert hat.“

(aus Ben Aitken „The Marmalade Diaries“, S.256/257)

Aitkens Buch ist wehmütig und witzig zugleich, zutiefst menschlich, ehrlich und voller Gefühl. Hätte mir jemand vor der Lektüre prophezeit, wie sehr ich die Lektüre eines weiteren Corona- bzw. Pandemiebuches genießen und schätzen würde, hätte ich es sicher nicht geglaubt. Aber „The Marmalade Diaries“ zählt aufgrund der geschilderten Mitmenschlichkeit und Herzenswärme definitiv zu meinen persönlichen Favoriten in 2023 – ein Lichtblick und Sonnenstrahl in dunklen Zeiten. Eine ganz große Leseempfehlung, die von Herzen kommt!

Weitere Besprechungen zu „Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte“ gibt es unter anderem bei Buchbube und transitnuremberg.

Buchinformationen:
Axel Hacke, Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten
und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte

Dumont
ISBN: 978-3-8321-6808-7

Ben Aitken, The Marmalade Diaries
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Dumont
ISBN: 978-3-8321-6819-3

***

Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich die beiden herzerwärmenden Bücher:

Für den Gaumen:
Am Ende von Ben Aitkens Buch gibt es das Rezept für „Winnies bittersüße Orangenmarmelade“ aus Sevilla-Orangen. Nicht nur der Paddington-Bär scheint also eine Vorliebe für Orangenmarmelade zu haben. Sonne im Glas!

Zum Weiterschauen:
Anlässlich des 100. Geburtstages von Loriot (am 12. November), waren in der letzten Zeit (und sind noch in den Mediatheken) viele Sendungen des beliebten Humoristen im Fernsehen zu sehen. Auch er darf in Hackes Heiterkeits-Buch natürlich nicht fehlen:

„Wann wäre der deutsche Fernsehzuschauer jener Jahre sich selbst näher gewesen als in Loriots Sketch vom Ehepaar, das vor einem kaputten Fernsehgerät hockt, es wie gewohnt anstarrend?“

(aus Axel Hacke „Über die Heiterkeit…“, S.56/57)

Zum Weiterlesen (I):
Zu meinen absoluten Leseglanzlichtern der letzten Jahre zählte zweifelsohne Axel Hackes „Ein Haus für viele Sommer, das ich auch bereits hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe. Auch dies ist ein Buch voller Sommersonne und Herzenswärme, das der Seele gut tut:

Axel Hacke, Ein Haus für viele Sommer
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-483-7

Zum Weiterlesen (II):
Schon öfter mal gehört oder gelesen habe ich von bzw. über Samuel Pepys Tagebuch. Und auch die folgende Bemerkung von Ben Aitken lässt mich zu dem Eindruck gelangen, dass eine Lektüre desselben wohl durchaus lohnenswert sein könnte:

„Ich lese im Tagebuch von Samuel Pepys. Offenbar hatte er einen besonderen Sinn fürs Glücklichsein, was sehr schön für ihn gewesen sein muss.“

(aus Ben Aitken „The Marmalade Diaries“, S.271)

Samuel Pepys, Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts
Ausgew., übers. und hrsg. von Helmut Winter
Reclam
ISBN: 978-3-15-020666-9

16 Kommentare zu „Wärmende Empathie im Duett

  1. Danke für deine Prise Fröhlichkeit zum Einläuten des Wochenendes! Ich werde mal ein Blick in das Buch von Axel Hacke werfen – Humor und Heiterkeit heißen ja nicht, dass einem der Ernst der Lage nicht bewusst ist. Es heißt aber zu wissen, wozu es sich lohnt, diese Phase durchzustehen – mir helfen manchmal auch die Vögel, die über der Stadt fliegen, an den unmöglichsten Stellen sitzen und zwitschern, um mich daran zu erinnern, dass alle ein Recht haben und etwas beitragen, nur dass ich leider nicht immer alles verstehe und weiß, worauf sich etwas bezieht 🙂 Viele Grüße!!

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    1. Sehr gern geschehen, Alexander. Es freut mich, wenn ich mit meinem Beitrag ein bisschen Heiterkeit und Fröhlichkeit rüberbringen konnte.
      Und ja, Vogelgezwitscher ist etwas Schönes… es lohnt sich hinzuhören und sich das auch immer mal wieder bewusst zu machen. Ich wünsche Dir ein schönes, heiteres Wochenende mit guten Büchern, schönen Momenten und Vogelgezwitscher und sende herzliche Grüße!

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    1. Liebe Anna, ich versuche, kein schlechtes Gewissen zu haben und bin mir ziemlich sicher, Du wirst es nicht bereuen.
      Da ich heute – auf Dein finales Anschubsen hin 😉 – Gabriele von Arnims „Der Trost der Schönheit“ gelesen habe und weiß, dass Du das mochtest, bin ich überzeugt, dass Du den neuen Hacke auch mögen wirst. Ganz herzliche Wochenendgrüße! Barbara

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  2. Was für eine Doppelpackung Du sendest, liebe Barbara,
    die Vorstellungen von Hacke und Aitken, fein drapiert. Freut mich, dass Dir die „Heiterkeit …“ gefallen hat. Dankeschön für Deinen Link.
    Und danke für die Orangenmarmelade. Das Zitat dazu von S. 224 spricht Bände. Ben sollte sich nicht ärgern, hat er doch bei und mit Winnie sein Buch erlebt und aufgeschrieben.
    Guten Spätherbst und
    schöne Grüße nach Landshut
    Bernd

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    1. Sehr gerne, Bernd. Ja, ich mochte die Heiterkeit und auch die Orangenmarmelade sehr.
      In Aitkens Buch überwiegt ganz klar die Dankbarkeit für diese Zeit und die Empathie, aber es ist auch natürlich, dass es bei engem Zusammenleben während des Lockdowns und fünfzig Jahren Altersunterschied auch mal Momente gibt, die ein wenig ärgern können. Auch das beschreibt er – doch stets respektvoll und wertschätzend. Schöne Sonntagsgrüße! Barbara

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