Venedig und Vivaldi – eine unzertrennliche Verbindung und eine Assoziation, die man sofort im Kopf hat. Doch Venedig hat darüber hinaus noch viel mehr an Musik zu bieten als die „Vier Jahreszeiten“ und den „prete rosso“, dem sich Tiziano Scarpa in seinem Roman „Stabat mater“ gewidmet hat. Willem Bruls hat in seinem Sachbuch „Venedig und die Oper – Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner“ auf seinen Spaziergängen durch die Lagunenstadt noch viel mehr musikalische Orte und Persönlichkeiten gefunden und zusammengetragen.
Doch erst einmal Auftritt Antonio Vivaldi:
„Ein neuer Komponist und Violinlehrer ist gekommen. Er ist jung, hat eine große Nase und rote Haare.“
(aus Tiziano Scarpa „Stabat mater“, S.77)
Tiziano Scarpa erzählt in seinem Roman „Stabat mater“ aus der Sicht des Waisenmädchens Cecilia, die als Säugling im Ospedale della Pietà abgegeben wurde, seitdem dort versorgt und erzogen wird, sowie eine musikalische Ausbildung erhält. Sie ist eine begabte Violinistin, doch die Werke des alten Don Giulio sind zunehmend vorhersehbar, ähneln sich alle und sind irgendwann keine große Herausforderung mehr für sie.
Als dann ein neuer, junger Priester in die Einrichtung kommt, der geradezu revolutionäre Musik komponiert, hebt er sie und ihr Geigenspiel gleichsam auf eine neue Ebene. Können trifft auf Können, eine Symbiose entsteht und doch schleichen sich nach und nach auch Dissonanzen ein…
Scarpa, der in Venedig geboren ist und 2009 für „Stabat mater“ den renommierten italienischen Literaturpreis Premio Strega erhielt, hat einen düsteren, intensiven und sehr reduzierten Roman geschrieben, der die Sicht eines Waisenmädchens beschreibt, das mit dem Schicksal hadert. Sie ist einsam, schreibt Briefe an die Mutter, die sie nie kennenlernte und die sie im Stich gelassen hat, sie hält Zwiesprache mit dem Tod, hat Albträume und leidet unter Schlaflosigkeit. Ein berührendes Schicksal und eine Zeitreise ins Venedig des 18. Jahrhunderts, die der Autor hier geschaffen hat.
Ein musikalischer, klug komponierter Roman in Moll, der Venedig und Vivaldi von einer anderen Seite – fernab der sonnigen Serenissima – zeigt.
Wer sich auf musikalische Streifzüge durch Venedig begeben und gleichsam lesend durch die Stadt flanieren möchte, kann dies wunderbar mit Willem Bruls „Venedig und die Oper – Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner“ tun. Man besucht wichtige Schauplätze, erfährt viel über Musikgeschichte, aber vor allem auch interessante Anekdoten aus der Welt der Musik und der Komponisten, auf welche die Serenissima eine große Anziehungskraft hatte.
Mit Bruls steht man an Monteverdis Grab in der Frari-Kirche und erfährt, welch große Bedeutung dieser für die Geburtsstunde der Oper hatte und auch die Geschichte seiner „Marienvesper“.
Er beschreibt aber auch die rege Theaterszene im Venedig der damaligen Zeit, die lebendige Opernwelt – natürlich darf auch die schillernde, dramatische Geschichte des Teatro La Fenice nicht fehlen – und er schildert auch die Faszination, welche die Stadt stets auf Künstler und Musiker ausübte.
Man begegnet natürlich Antonio Vivaldi, aber auch Georg Friedrich Händel, Richard Wagner und Luigi Nono. Gespickt mit Anekdoten, Zitaten und natürlich Inspirationen zum Nachhören von zahlreichen musikalischen Werken, ist die Lektüre so aufschlussreich wie unterhaltsam.
Die Liebe zur Musik, zur Oper und zu Venedig wird bei der Lektüre deutlich spürbar und wirkt unweigerlich ansteckend. Das ist wohl recherchiert, fachlich fundiert ohne auch nur eine Sekunde trocken oder langweilig zu sein. Kein Wunder, hat doch der Niederländer Willem Bruls Literatur- und Kunstgeschichte in Amsterdam studiert und als Dramaturg an verschiedenen europäischen Opernhäusern gearbeitet.
Der Autor hat somit einen feinen, abwechslungsreichen und hochinteressanten Kulturführer durch das musikalische Venedig geschaffen – ausgestattet mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Abbildungen und vielen Anregungen und Informationen für einen Besuch in der Lagunenstadt.
„Venedig widerlegt und widerstrebt Träumen von Rationalität und Fortschritt. Die Stadt lebt von der beständigen Wiederholung der immer gleichen Geschichten, wie sehr man auch versucht, ihnen hier zu entkommen. Für Nono war Venedig die symbolische Hauptstadt der Musik, aber auf eine ganz andere Weise, als wir vermuten. Er verband damit die akustischen Erinnerungen, Fetzen aus der Vergangenheit, die durch den Raum wehen, Reminiszenzen an das, was einmal gewesen war. Der Klang der toten Steine (…)“
(aus Willem Bruls „Venedig und die Oper“, S.248)

Mit Tiziano Scarpas „Stabat mater“ habe ich einen weiteren und somit den letzten (hurra!) Punkt meiner „23 für 2023“ erfüllt – Punkt Nummer 12) auf der Liste: Ich möchte ein Buch, in dem Musik eine Rolle spielt lesen. Musik prägt Cecilias Leben im Ospedale della Pietà und Antonio Vivaldi wird ihr Lehrmeister.

Buchinformationen:
Tiziano Scarpa, Stabat mater
Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth
Wagenbach
ISBN: 978-3-8031-3225-3
Willem Bruls, Venedig und die Oper
Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner
Übersetzt von Bärbel Jänicke
Henschel
ISBN: 978-3-89487-818-4
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Wozu inspirierten bzw. woran erinnerten mich die beiden Bücher über das musikalische Venedig:
Für den Gaumen:
Im Kloster bekommen die Mädchen in Scarpas Roman nahrhafte, wärmende Kost, zum Beispiel „Gemüsesuppe“.
„Auf der Oberfläche der Gemüsesuppe spiegelte sich schwach mein Kopf, ein Gesicht aus Zwiebeln und Kohl.“
(aus Tiziano Scarpa „Stabat mater“, S.33)
Zum Weiterhören:
Bruls beschreibt unter anderem auch die interessante Entstehungsgeschichte von Franz Liszts Spätwerk „La lugubre gondola“, das er in Venedig während eines Besuchs bei seinem Schwiegersohn Richard Wagner im Palazzo Vendramin komponierte und nach dessen Tod noch einmal überarbeitete.
„Das Stück ist von Introspektion und Reflexion geprägt, es scheint aus einer unendlichen Reihe bizarrer Variationen auf den Tristan-Akkord zu bestehen. Impressionistisch klingt der Wellenschlag des nächtlichen Canal Grande gegen die glatte Gondel.“
(aus Willem Bruls „Venedig und die Oper“, S.200)
Zum Weiterlesen (I):
Willem Bruls bezeichnet in seinem Buch Joseph Brodskys Novelle „Fondamenta degli Incurabili“ bzw. „Ufer der Verlorenen“ als eine „Liebeserklärung an Venedig“ (S.118) – ein Tipp, den ich schon häufiger bekommen habe und der daher jetzt endgültig auf meine Wunschliste wandert:
Joseph Brodsky, Ufer der Verlorenen
Aus dem Englischen von Jörg Trobitius
Hanser
ISBN: 978-3-446-20028-9
Zum Weiterlesen (II):
Bereits gelesen und für gut und lesenswert empfunden habe ich Peter Schneiders Roman „Vivaldi und seine Töchter“, der sich ebenfalls mit den Mädchen und der Musik im Ospedale della Pietà befasst. Während Tiziano Scarpa „Stabat mater“ bereits 2008 veröffentlichte, griff Schneider das Thema 2019 ebenfalls auf.
Peter Schneider, Vivaldi und seine Töchter
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05229-9
Und auch heute gibt es noch ein paar passende Fotoimpressionen:
so zum Beispiel einige musikalische Gedenkstätten und Denkmäler wie Monteverdis Grab in der Frari-Kirche, die Taufkirche von Antonio Vivaldi, das Baldassare Galuppi-Denkmal auf der Insel Burano, das Teatro La Fenice…






Danke Barbara,
für die schöne Musik und ihre literarische Verortung.
Herzliche Grüße
Bernd
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Sehr gerne, Bernd.
Ich wünsche Dir eine gute, klingende Woche und sende herzliche Grüße nach Nürnberg! Barbara
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