Noir vor der Zeit

Literatur ist kraftvoll und vielfältig und gerade wenn man sich von ausgetretenen Lesepfaden und gewohnten Lesevorlieben ein wenig entfernt, kann es Bücher geben, die einen vollkommen überraschen. Víctor Català alias Caterina Albert i Paradís war mir vor der Lektüre von „Ein Film (3000 Meter)“ ehrlich gestanden kein Begriff. Doch während des Lesens rieb ich mir mehr als einmal verwundert die Augen, denn – kaum zu glauben – dieser avantgardistische Roman stammt bereits aus dem Jahr 1926 und aus der Feder einer Frau. Eine düstere Geschichte aus dem Gangstermilieu Barcelonas, der man aufgrund moderner künstlerischer Techniken und der unkonventionellen Erzählweise das Alter bzw. die fast hundert Jahre seit Erscheinen nicht anmerkt.

„Nun gut, teure Leserin, teurer Leser, wenn du die Schwelle überschreitest und dich anschickst, der Handlung zu folgen, die sich auf den Seiten dieses Buches entspinnt, wundere dich nicht und beklage dich nicht hinterher über das, was du dort vorgefunden hast, erwarte nicht, dass ich dir mehr liefere als ich versprochen habe, denn hier und heute verspreche ich dir nicht mehr als einen Film, mit all der Seichtigkeit, all dem Durcheinander, all der Willkür, all den Überzeichnungen, allen Freiheiten also, die diese Kunstform gestattet.“

(S.10)

Schon dieser Auftakt lässt einen zweifellos aufhorchen. Was bzw. welcher Film erwartet einen da jetzt auf den folgenden gut 450 Seiten?

Nonat ist ein Waisenkind und wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Er macht eine Lehre in einem Handwerksbetrieb und ist fest davon überzeugt, dass all das ein großes Missverständnis sein muss und irgendwo seine leiblichen Eltern auf ihn warten. Immer wieder macht er sich auf die Suche, denn für ihn ist vollkommen klar, dass er von reichen Eltern abstammt, die ihm ein anderes, ein besseres Leben ermöglichen könnten.

Er lebt gerne auf großem Fuß, doch mit seinem geringen Handwerkergehalt kann er sich all die luxuriösen Dinge, die ihm so viel bedeuten, und die geliebten Theaterbesuche nicht finanzieren. Wurzel- und haltlos, ohne moralisches Werte- und Grundgerüst gerät er so schnell auf die schiefe Bahn.

Dieser Nonat ist kein Held bzw. keine Hauptfigur, mit der man warm wird. Er ist unsympathisch, ein Gauner und Verbrecher. Jemand, der mit Absicht zu spät ins Theater kommt, um dann auch ja von allen gesehen zu werden. Er ist ein Gernegroß, der um jeden Preis etwas Besseres sein möchte und zutiefst davon überzeugt ist, dass er eine noble Abstammung besitzen sollte und Reichtum verdient hat.

„Aus diesen beiden Perspektiven hatte er, sehnsüchtig, atemlos, verzückt und voller Neid das verlockende Flair der begüterten Welt geschnuppert, er hatte das Verhalten der reichen Leute beobachtet, ihre Manieren, ihren Geschmack, ihr Auftreten studiert, aber immer nur fragmentarisch, unvollständig, aus einzelnen Blickwinkeln, die das Gesamtbild verzerrten. „Nein; er hatte das Liceu nie gesehen, er war nie dort gewesen; zwar war er dort gewesen und hatte es gesehen, aber nicht von den privilegierten Plätzen aus, den Plätzen der Privilegierten.“

(S.188)

Die Autorin beschreibt über weite Strecken ein dunkles, düsteres Barcelona, trifft den rauen Ton der Straße und nimmt mit ins Arbeiter- aber vor allem auch ins Gangstermilieu. Sie thematisiert Suizid, Krankheit, Tod, Gewalt und Verbrechen und der Roman mäandert. Die Lektüre erfordert eine gewisse Geduld und es ist nicht immer klar oder vorhersehbar, wohin diese dunkle Reise, die nichts für Zartbesaitete ist, noch führen wird. Stilistisch ist der Roman vielseitig, da gibt es schnelle, temporeiche Szenenwechsel und derbe Dialoge ebenso wie verspielte Formulierungen.

„Carlota hatte, wenn auch nicht in vollem Maß, so doch zu einem Gutteil, die Fantasie ihres Vaters geerbt, was allerdings kaum zum Tragen kam, weil die schwierigen Lebensumstände deren freie Entfaltung ohnehin nicht gestattet hätten. Auf jeden Fall hatte sie, verbrämt mit Ironie oder Bissigkeit – je nachdem, ob in ihr gerade Krieg oder Frieden herrschte -, einen stillen Hang zu romanhaftem Überschwang und schwülstiger deklamatorischer Leidenschaft.“

(S.103/104)

Liest man bei Wikipedia die Merkmale eines „film noir“ nach, dann findet man „Motive wie Geldgier oder Eifersucht“, „Helden, die ungewöhnlich lasterhaft und moralisch fragwürdig sind“ und „urbane Schauplätze“. All das trifft zweifellos auch auf „Ein Film (3000 Meter)“ zu, doch der außergewöhnliche Roman wurde bereits 1926 veröffentlicht, lange bevor man vom Genre „Noir“ zu sprechen begann.

Der Kupido Literaturverlag hat dem Buch eine Fotografie der Autorin vorangestellt, das eine junge Frau mit streng zurückgekämmten, zum Zopf frisierten Haaren und einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid zeigt. Es fällt zugegebenermaßen nicht leicht, dieses streng wirkende Bild in Einklang mit dem gerade gewonnenen Leseeindruck des überbordenden, glühenden Buchs voll blühender Fantasie und düsteren Motiven zu bringen, das seiner Zeit so weit voraus war. Caterina Albert i Paradís (1869 – 1966) entschied sich bewusst für eine Veröffentlichung unter männlichem Pseudonym und gilt als bedeutende Modernistin Kataloniens.

Ein überraschendes, wuchtiges Buch einer Autorin, die sich keinen literarischen Beschränkungen unterordnen wollte und mit Konventionen brach – ein wilder, ungestümer Geheimtipp, der jetzt – fast hundert Jahre nach Erscheinen – in der Übersetzung von Petra Zickmann auch im deutschsprachigen Raum zu entdecken ist.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kupido Literaturverlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Víctor Català (Caterina Albert i Paradís), Ein Film (3000 Meter)
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann
Kupido Literaturverlag
ISBN: 978-3-96675-270-1

© Coverbild: Kupido Literaturverlag

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Víctor Catalàs „Ein Film (3000 Meter)“:

Für den Gaumen:
Gleich zu Beginn des Romans stößt man auf einfache, sättigende Kost, denn da wird „im Handumdrehen eine Schüssel Brotsuppe mit Thymian und zwei Eier mit Speck vorgesetzt.“ (S.23)

Zum Weiterlesen:
Wer noch mehr Lust auf katalanische Literatur und die Stadt Barcelona als Schauplatz hat, dem kann ich auch Montserrat Roigs Roman Die Frauen vom Café Núria empfehlen, den ich letzten Monat hier auf der Bowle vorgestellt habe.
Drei Frauen, drei Generationen, drei Liebes- und Lebensgeschichten in Barcelona – eine Wiederentdeckung aus dem Jahr 1972.

Montserrat Roig, Die Frauen vom Café Núria
Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-582-7

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