Biskuits in Barcelona

Drei Generationen, drei Ramonas, eine Stadt. In ihrem ersten Roman aus dem Jahr 1972, der im Original „Ramona, adéu“ heißt und den Auftakt einer Trilogie bildet, hat die katalanische Autorin Montserrat Roig (1946-1991) drei Frauen in Barcelona portraitiert. In der deutschen Übersetzung des Romans von Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt, die gerade bei Antje Kunstmann erschienen ist, spiegelt der Titel den beliebten Treffpunkt der Damen zum Austausch wider: „Die Frauen vom Café Núria“. Dort wird heiße Schokolade getrunken, werden Löffelbiskuits geknabbert und über das Leben gesprochen.

Eine Stadt, drei Frauen, drei Epochen:
Aus wechselnden Perspektiven erzählt Roig drei Frauenleben. Man begegnet drei Mundetas (die Koseform für Ramona): Großmutter, Mutter und Tochter. Angefangen zur Zeit der Jahrhundertwende, d.h. kurz vor 1900, während der Dreißigerjahre und Ende der Sechziger Jahre während der Studentenproteste.

„Die Stadt… Diese Stadt hatte nichts mehr gemeinsam mit dem idyllischen Barcelona der Dreißigerjahre und erst recht nichts mit dem legendären Barcelona des Fin de Siècle.“

(S.204)

Die Zeiten ändern sich.
Großmutter Mundeta besucht um 1900 die Oper im Liceu, führt mit ihrem Gatten Francisco ein komfortables Leben mit Dienstboten und schwelgt im Barcelona des glanzvollen Zeitalters des Fin de Siècle. Und doch ist da eine Leere, sie sehnt sich nach Liebe und Freiheit .

„Ich vermisse die Zeit, als ich noch ein Kind war und ich mich um nichts sorgte und mich alles glücklich machte. Wie viele Mußestunden meines Lebens habe ich nicht damit zugebracht, auf die Straße hinauszusehen, um ein Stück Himmel zu erhaschen, einen Wolkenstreifen, der größer und wieder kleiner wurde. So war ich nicht traurig, denn die Wolken erzählten mir von ihren Reisen, davon, wie klein die Welt für sie aussah und dass Amerika wie ein grünes Laken war und Spanien so winzig klein, dass es kaum sichtbar ist.“

(S.41)

Ihre Tochter Mundeta erlebt gerade die Zeit der Dreißigerjahre, die geprägt ist vom Bürgerkrieg in Spanien, besonders intensiv. Ein Leben voller Sorgen, auch um ihren Joan – die Härte des Krieges prägt ihre Lebensgeschichte.

Und Enkelin Mundeta verliebt sich während der turbulenten Zeit der Studentenproteste Ende der Sechziger Jahre in Jordi. Wildes WG-Leben, politische Diskussionen, aufgeheizte Stimmung und Mundeta schwankt zwischen wehmütiger Melancholie, einer Sehnsucht nach einer heilen Welt und zugleich einem Aufbruch in ein neues, selbstbestimmtes Leben…

„(…) Mundeta, du willst aber auch jeden Tag etwas anderes, und das, auch wenn es nicht so scheinen mag, ist ein Zeichen von Dekadenz. Am Morgen voller Sehnsucht, am Abend abenteuerlustig. Du spielst sämtliche Rollen einer Leinwanddiva, wechselst mühelos zwischen Glückseligkeit und Melancholie, Niedergeschlagenheit und Überschwang. Du bis alt und zugleich ein Kind, aber nie eine erwachsene Frau. Du bist honigsüß und verschlagen wie ein Fuchs. Ich wüsste nur zu gerne, wie die anderen Frauen aus deiner „außergewöhnlichen“ Familie so sind.“

(S.59)

Die Zeiten ändern sich, doch allen drei Frauen ist gemeinsam, dass sie sich nach einer erfüllten Liebe und Selbstbestimmung sehnen. Die Männer glänzen häufig durch Abwesenheit und so sind die Frauen oft auf sich allein gestellt. Sie kämpfen die weiblichen Kämpfe ihrer jeweiligen Zeit und arrangieren sich – mit ihrem Umfeld, ihren Beziehungen, ihrem Leben.

Roig romantisiert nichts. Sie spielt geschickt auf der Klaviatur der Gefühle. Es gibt Szenen – zum Beispiel bei Schilderungen des Krieges – die rau und hart sind und doch gibt es auch ganz zarte, weiche und poetische Stellen.
Gerade diese stilistische Bandbreite macht den Roman spannend, abwechslungsreich und besonders attraktiv. Andere AutorInnen hätten aus diesem Stoff einen opulenten, epischen Roman über viele, viele hundert Seiten oder gar mehrere Bände gemacht. Roig hingegen verstand es, kunstvoll auf engstem Raum punktgenau das Wichtige und Wesentliche zu erzählen, gleichsam die Essenz der Erzählung herauszukristallisieren. So bekommt der Roman auf gerade einmal knapp 220 Seiten eine enorme inhaltliche und emotionale Dichte und bewahrt sich zugleich auf faszinierende Weise eine gewisse Leichtigkeit.

„Wenn sie auf der Rambla die ersten Ausländer in grellen Anzügen und deren Frauen in weiten Hosen sah, die Verkäuferinnen vom Boqueria-Markt und die mit Gemüse und Geflügel übervollen Auslagen, die Seeleute, die alten Frauen in Trauerkleidung, die Maler, die unentwegt das bunte Treiben auf der Rambla festhielten, die feinen Herren mit Stock und Hut, die Priester und die Freudenmädchen, alle vereint in einer beschwingten Mischung aus Glückseligkeit und Resignation, kam ihr Barcelona wie eine prachtvolle, je geradezu kosmopolitische Blume vor, die in eternum ihre Blütenblätter verlor, schön und monströs zugleich; es war, mehr noch als eine Stadt, das Versprechen einer Stadt.“

(S.134)

Der heimliche Star des Romans ist die Stadt: Barcelona.
Die Liebe von Roig zu dieser Stadt, die auch ihre Heimat war, springt einem aus den Zeilen des Textes förmlich entgegen. Der Kontrast zwischen frischer Lebendigkeit und wehmütiger Melancholie, Verspieltheit und Klarheit machen den Zauber und Effekt dieses Romans aus.

Schön, dass die Autorin jetzt wieder in den Fokus rückt, denn ihr Roman ist nicht nur für Barcelona-Fans, sondern auch für LiteraturliebhaberInnen, die gerne eine frische, lebendige, wenn auch leider schon verklungene weibliche Stimme entdecken wollen, ein wirklicher Gewinn.

Montserrat Roig war Zeit ihres Lebens politisch aktiv, verfasste mehrere Erzählbände und war journalistisch tätig. Sie verstarb 1991 viel zu früh im Alter von gerade einmal 45 Jahren an Krebs. Ihre Barcelona-Trilogie mit den weiteren Teilen „Zeit der Kirschen“ und „Die violette Stunde“ wird der Verlag Antje Kunstmann im Herbst 2024 und Frühjahr 2025 wieder vollständig der deutschen Leserschaft zugänglich machen.

„Nein, sie würde Barcelona niemals verlassen. Jetzt, in der lauen Stille der nächtlichen Stadt, spürte sie das Verlangen, von ihr verschlungen zu werden, in ihrem schwindenden Wesen aufzugehen.“

(S.124)

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Antje Kunstmann, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Montserrat Roig, Die Frauen vom Café Núria
Aus dem Katalanischen von Ursula Bachhausen und Kirsten Brandt
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-582-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Montserrat Roigs „Die Frauen vom Café Núria“:

Für den Gaumen (I):
Im Café Núria sind „Schokolade und Biskuits“ (S.63) Seelentröster und Allheilmittel und ich habe selten bzw. noch nie eine so appetitanregende Beschreibung von heißer Schokolade gelesen (Achtung! Danach bekommt man eine solche Lust auf eine Tasse davon…, aber woher bekommt man so ein Wunderwerk?):

„Mundeta war müde, sie sehnte sich nach sämiger Schokolade mit Löffelbiskuits, einer dicken, heißen Schokolade, so dickflüssig, dass sie fast fest war. Sie würde jedes Biskuit langsam eintunken und einen kleinen Kreis in der Schokolade beschreiben, und nach und nach würden die Kreise größer werden, konzentrisch, und sie würde darin eintauchen wie das Biskuit, und dann die Schokolade bis zum letzten Rest aufschlecken.“

(S.77)

Für den Gaumen (II):
Ein spanisches Nationalgericht ist Stockfisch und die Zubereitung desselben eine Schlüsselqualifikation:

„Ich musste die Köchin entlassen, obwohl sie einen wunderbaren bacallà a la llauna macht. Francisco sagt immer, dass sie den Stockfisch so zu würzen versteht, dass er viel besser schmeckt als im Continental.“

(S.65)

Zum Weiterhören (I):
Es wird musiziert im Hause Ventura – ganz klassisch und verträumt mit dem Walzer aus Coppélia von Delibes, Débussys „Clair de lune“ und Tschaikowskis „Blumenwalzer“ (S.47).

Zum Weiterhören (II):
Andere Zeiten, andere Musik: In der Studenten-WG ertönt Otis Redding „I’m depending on you“ (S.121) – wer es schwungvoll mag, kann da ruhig mal reinhören…

Zum Weiterlesen:
Am Ende möchte ich noch eine Brücke schlagen:
Montserrat Roig erhielt für ihren ersten Erzählband aus dem Jahr 1971, der ihrer Romantrilogie voraus ging, den Victor-Català-Preis, benannt nach der Autorin des folgenden Buchtipps. Wer sich also gerne noch mit weiterer katalanischer Literatur befassen möchte: Ende Februar 2024 erscheint im Kupido Literaturverlag „Ein Film (3000 Meter)“ aus dem Jahr 1926 in deutscher Übersetzung von Petra Zickmann – verfasst von Caterina Albert i Paradis unter dem männlichen Pseudonym Victor Català. Auch hier gibt es eine Zeitreise nach Barcelona zu entdecken.

Victor Català d.i. Caterina Albert i Paradis, Ein Film (3000 Meter)
Aus dem Katalanischen von Petra Zickmann
Kupido Literaturverlag
ISBN: 978-3-96675-270-1

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