Raue Schatten in der Bretagne

Die Bretagne ist mehr als malerische Fischerorte, Austern schlürfen und windumtoste Küstenidylle. Die gebürtige Bretonin Claire Léost hat 2021 den Literaturpreis der Bretagne für ihren zweiten Roman „Der Sommer, in dem alles begann“ (Originaltitel: Le Passage de l’été) erhalten. Sie erzählt eine raue, geheimnisvolle Geschichte, in der sich die Schicksalsfäden dreier Frauen unterschiedlicher Generationen immer mehr ineinander verspinnen.

Die sechzehnjährige Hélène wächst in einem Dorf im bretonischen Hinterland fernab der Küste auf. Ihr Weg scheint vorgezeichnet zu sein, sie ist verliebt in ihren Schulkameraden Yannick, das Dorfleben ist übersichtlich und jeder kennt jeden.

„Wenn die Katastrophe eintritt, wirkt das einst schier Unüberwindbare – das eigene Nest verlassen, Freunden und Familie Lebewohl sagen und sich auf den Weg ins Unbekannte machen – plötzlich ganz leicht, wie die Flaumfedern eines Vogels. Aber zwei Tote, um eine echte Pariserin ohne Anhang und ohne Akzent zu werden, das war ein hoher Preis.“

(S.7/8)

Doch als eine neue Lehrerin aus Paris ins Dorf zieht – gemeinsam mit Tochter Lilly und ihrem Ehemann, der ein bekannter Krimischriftsteller ist und gerade versucht, eine Schreibblockade zu überwinden – weht urplötzlich ein anderer Wind.
Marguerite vertritt andere Ansichten, pflegt einen anderen Lebensstil als die Dorfbewohner und erkennt das große Potenzial ihrer Schülerin Hélène. Sie fördert sie, weckt ihren Ehrgeiz und vermittelt ihr die Liebe zur Literatur. Hélène blüht auf und merkt, dass das Leben auch mehr zu bieten haben könnte.

„Es gibt zwei Leben, das vor unseren Augen und dann noch ein zweites, das uns meistens entgeht. Maler und Poeten zeigen uns, was sie von diesem zweiten Leben sehen.“

(S.73)

Und auch Raymond der Schriftsteller fasziniert die junge Frau und scheint sie immer mehr auf mysteriöse Weise anzuziehen. Doch die Witwe und Besitzerin des Dorfladens Odette ist alles andere als glücklich über die Zugezogenen und die neuen Sitten, welche diese im Gepäck haben.

Hélène, Marguerite, Odette – drei Frauen, drei Generationen.
Hélène, die das Leben noch vor sich hat, die ein Schicksalsschlag früh erwachsen werden lässt und die für sich entscheiden muss, welchen Weg sie einschlagen will und ob sie es wagen wird, die Heimat und das Vertraute zu verlassen.
Marguerite, die in der Bretagne nicht nur unterrichtet, sondern auch versucht, ein Trauma ihrer Kindheit aufzuarbeiten, da sie dort nach ihrer leiblichen Mutter sucht, die sie nie kennengelernt hat.
Und Odette, die es nie leicht hatte im Leben, in der Jugend in Paris als Hausmädchen arbeitete, vergewaltigt wurde und der nach ihrer Rückkehr in die Bretagne auch der Mann früh verstarb.

In Rückblenden und mit Zeitsprüngen erzählt die Autorin aus den drei Frauenleben, über Liebe und Leid und über Wunden und Narben, welche die Zeit hinterlässt. Schon auf den ersten Seiten wird schnell klar, dass Léost keinen Wohlfühlroman mit Happy End geschrieben hat, sondern immer eine mysteriöse, dunkle und abgründige Seite mitschwingt.

Die gut 230 Seiten, die sich sehr flüssig und schnell lesen, gleichen einem Strudel, der sich immer schneller dreht und die Figuren auf verhängnisvolle Weise mit sich reißt. Léost erzählt melodiös und geradlinig zugleich über die Sehnsucht nach Liebe, über Fehlstellen im Familiengefüge, Lebensträume und auch über die Liebe zu Lyrik und Literatur.

„(…) und sie betrachten den Horizont, den Himmel, der sich nicht zwischen Nieselregen und den letzten Sonnenstrahlen entscheiden kann. Er schickt beides, und kurz darauf spannt sich wie eine Brücke ein doppelter Regenbogen über den Wald. Der Horizont, eben noch graublau, ist jetzt weiß. Die beiden sind hier geboren, sie wissen, dass es nicht lange dauern wird, bis alles in einem satten, schillernden Orange leuchtet, und trotzdem können sie sich nicht sattsehen an diesem Farbspektakel.“

(S.49)

Auf dem Umschlagbild steht eine Frau im Gegenlicht. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Claire Léost hat einen Roman geschrieben, der die Bretagne fernab des Klischees sonniger Urlaubsprospekte zeigt und vielmehr das Raue, Düstere und Geheimnisvolle zur Geltung bringt. Eine Geschichte über drei Generationen von Frauen, die nach und nach so manches Geheimnis der Vergangenheit offenlegt.

„Ihre Heimat, das ist nicht die anmutige Bretagne mit Meer und Möwen, den Gezeiten und dem Stechginster, der Salz und Sonne trotzt, nicht die Bretagne der Touristen und Segeljachten. Ihre Heimat, das ist das Landesinnere, die Bretagne der Kalvarienberge und Kapellen, mit moosbewachsenen Steinen, Farnkraut und Laubteppichen unter den Bäumen. Die Bretagne, in der man nicht Urlaub macht (…)“

(S.13)

Ein Buch, das wie gemacht ist für die ersten Sonnenstunden im Liegestuhl oder fürs Urlaubsgepäck – Spannung, Gefühl und drei französische Frauenleben, die sich zu einem sommerlich-bretonischen Leseerlebnis verweben und Lust darauf machen, die ursprüngliche Landschaft des Finistère, diesem Ende der Welt, zu entdecken.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Claire Léost,Der Sommer, in dem alles begann
Aus dem Französischen von Stefanie Jacobs und Jan Schönherr
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00387-1

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Der Sommer, in dem alles begann“:

Für den Gaumen (I):
Auch am kulinarischen Geschmack werden Unterschiede zwischen Zugezogenen und Einheimischen ersichtlich:

„Seit wir hier wohnen, ernähren wir uns ja praktisch nur noch von Meeresfrüchten.“
Hélène wagt nicht, ihr zu erzählen, dass hier sonst niemand Meeresfrüchte isst: Die sind sündhaft teuer und machen nicht richtig satt.“

(S.72)

Für den Gaumen (II):
Odettes Frühstück könnte ich durchaus etwas abgewinnen:

„Jeden Sonntag vor der Messe versorgte Odette ihn mit Buchweizen-Galettes, Konfitüre und selbst gebackenem Kuchen.“

(S.175)

Zum Weiterlesen:
Odette entdeckt in der Bibliothek ihres Pariser Dienstherren die Romane von Émile Zola für sich – vor allem den Zyklus über die Familie Rougon-Macquart:

„Dieser Zola und seine bettelarmen, von der Hauptstadt verschlungenen Provinzmädchen, diese Unmöglichkeit den Umständen zu entkommen, in die man hineingeboren wurde, all das erzählte von ihr, von Odette.“

(S.81/82)

Den Auftakt der 20-teiligen Romanreihe bildet:

Émile Zola, Das Glück der Familie Rougon
Übersetzt von Armin Schwarz
Jazzybee Verlag
ISBN: 978-3-8496-8653-6

4 Kommentare zu „Raue Schatten in der Bretagne

    1. Also bei uns war er am vergangenen Wochenende definitiv schon da, der Sommer: 26 Grad (Mitte April!) und die Außengastronomie überall gut gefüllt… also keine Bange, wahrscheinlich bekommen wir genügend Sommer oder so gar mehr als uns lieb ist… und falls nicht, gibt es immer noch die richtigen Bücher, um sich in Sommerstimmung zu bringen. Herzliche Grüße!

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