Unvergesslicher Sommer

Auch wenn der Sommer mancherorts noch etwas auf sich warten lässt, gibt es ja immerhin die Möglichkeit, sich diesen literarisch ins Haus zu holen. Ein herzerfrischender Sommerroman ist Johanna Sebauers Debüt „Nincshof“, der letztes Jahr erschienen ist und seither hier bei mir auf dem Stapel geschlummert und noch auf den richtigen Lesezeitpunkt gewartet hat. Die Nominierung Sebauers für den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb bei den „Tagen der deutschsprachigen Literatur“ (26.-30. Juni 2024) in Klagenfurt war jetzt ein willkommener Anlass, ihr Buch endlich zu lesen. Und was soll ich sagen? Gut, dass mich dieser Wink jetzt im Sommer erreicht hat, denn es passt einfach perfekt in diese Jahreszeit.

Nincshof ist ein kleines Dorf im Burgenland – irgendwo im Nirgendwo kurz vor der Grenze zu Ungarn. Es ist Sommer, die Hitze liegt schwer über der weiten, steppenartigen Landschaft und die Menschen sehnen sich nach Ruhe und Abkühlung.
Die pensionierte Witwe Erna Rohdiebl nutzt die lauen Nächte, um – nicht ganz legal – heimlich im Pool der verreisten Nachbarn zu schwimmen. Ihre ganz persönliche kleine Flucht aus dem Alltag, etwas Muße und Abkühlung der erhitzten Gemüter.

Denn da gibt es ja auch noch die Oblivisten, ein kleines, umtriebiges Grüppchen von drei Männern, denen es am liebsten wäre, ihr Dorf würde von der Landkarte verschwinden, von allen vergessen werden und die alles daran setzen, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Da kommt es natürlich extrem ungelegen, dass das neu ins Dorf gezogene Ehepaar aus einer bekannten, schon von Berufs wegen neugierigen Dokumentarfilmerin und einem passionierten Züchter seltener Irrziegen besteht. Denn sie stellt Fragen nach der Vergangenheit des Ortes und er will seine heißgeliebten Schützlinge – gleichsam auf der Alpakawelle mitschwimmend – am liebsten per Social Media vermarkten.

„Viel Gerede hatte es gegeben während der Bauphase. Alle hatten irgendwo etwas über die Neuen aufgeschnappt, bei der Wirtin zusammengetragen und mit Pusztafeigenschnaps, dem stärksten Flüssigkleber für Ziegel aus Halbwissen, zu wilden Gerüchten ausgebaut.“

(S.18)

Als die Gruppe auf Ernas revolutionäres Potenzial und ihre zupackenden Fähigkeiten aufmerksam wird, mutiert ihr Wohnzimmer schnell zur Schaltzentrale der Oblivisten, die dort gestärkt von Ernas guten Kochkünsten und befeuert vom Pusztafeigenschnaps die weiteren Aktionen planen, um Nincshof endlich dem großen Vergessenwerden näher zu bringen.

„Der Vorsprung, den man als Mensch, der den Großteil seines Lebens schon hinter sich hatte, gegenüber Jüngeren genoss, umfasste zwei Gewissheiten, die den meisten Jüngeren, glücklicherweise, fehlten: dass erstens Leben auch Leid bedeutete. Und dass zweitens das auch hierbei das Wesentliche war, weil auf das auch ein aber nicht nur folgte und sich genau deshalb all der Kummer, der einen manchmal befiel, trotzdem lohnte.“

(S.325)

„Nincshof“ lässt sich ganz entspannt ohne Weiteres als gewitzte, leichtfüßige Sommerlektüre lesen, doch das würde Sebauers Roman nicht ganz gerecht werden. Denn unter der hitzegeladenen Ferienatmosphäre – gleichsam im Schilf verborgen wie auf dem in meinen Augen grafisch sehr gelungenen Umschlagbild des Buches – steckt noch viel mehr. Da verstecken sich zwischen den Zeilen und hinter amüsanten Szenen auch die Ängste und Sehnsüchte unserer heutigen Zeit und der modernen Gesellschaft. Denn die junge Autorin beschreibt die zwischenmenschliche Dynamik in kleinen Ortschaften, den Trend zum Minimalismus, die Sehnsucht nach Entschleunigung ebenso wie die Angst vor allem, was fremd ist.
„Nincshof“ und einige seiner BewohnerInnen verkörpern den Wunsch nach Ruhe, Ordnung und einer heilen Welt auf dem Land mit weniger Hektik, weniger Empörung und weniger – auch medialer – Aufmerksamkeit – ohne zu vergessen, das romantisierende Landleben zu entglorifizieren und der Gesellschaft auch den Spiegel vorzuhalten.

Johanna Sebauer, die 1988 in Wien geboren, im Burgenland in einem Dorf aufgewachsen ist und jetzt in Hamburg lebt, besticht durch die feine Beschreibung zwischenmenschlicher Beziehungen und einer Sprache, die frisch, gewitzt, klar und verspielt zugleich daherkommt.

Gemeinsam mit 13 weiteren Bewerber*innen wird Sebauer dieses Jahr am Wettbewerb für den Ingeborg-Bachmann-Preis teilnehmen und dort aus bisher noch unveröffentlichten Texten lesen. Ich bin gespannt und habe mir fest vorgenommen, in ihren Beitrag mal reinzuschauen und reinzuhören – zumal es auch ein „on demand“-Angebot auf der Website des Bachmannpreises gibt, wenn man nicht Zeit hat, die Lesungen live im Fernsehen auf 3sat zu verfolgen.

Sebauer hat mit „Nincshof“ auf jeden Fall einen fantasievollen und liebenswerten Roman für Jung und Alt geschrieben. Erfreulich und wohltuend anders besticht er in meinen Augen durch eine charmante und intelligente Kombination aus augenzwinkernder Leichtigkeit und zum Nachdenken anregenden Tiefgang.

Nicht zuletzt lohnt es sich, die Bekanntschaft von Erna Rohdiebl zu machen – einer ganz und gar wunderbaren Hauptfigur:

„Wahrscheinlich war es der Genügsamkeit geschuldet, die sich langsam an einen heranschlich und irgendwann nicht mehr fortging, während eines langen, mal gelebten, mal ertragenen Lebens, dass Erna Rohdiebl in jeder Jahreszeit, in jedem noch so brummenden Sommer, in jedem noch so klirrenden Winter etwas zu finden wusste, woran sie sich erfreuen konnte. Sie mochte den Frühling für das Grün, das er in die Landschaft schickte, das schüchtern in die Gegend kroch wie den Menschen die Röte in die Wangen. Sie mochte den Sommer für die Kindheitserinnerungen, die er weckte, von allen Erinnerungen die intensivsten, prall wie Wassermelonen, laut und farbenfroh. Den Herbst mochte sie für den süßen Geruch der auf die Ernte wartenden Trauben in den Reben, die goldene Luft und warmen Wollschals. Den Winter für das Gefühl, gerade etwas geschafft zu haben, nach dem man guten Gewissens kleiner werden und sich ausruhen durfte.“

(S.274)

Ist diese Textstelle nicht einfach nur schön?

Wer also mehr über Nachtschwimmen, Irrziegen oder das Versöhnungspotenzial von Kaiserschmarrn erfahren und sich von einer leicht schrägen, ungewöhnlichen, humorvollen Geschichte überraschen lassen möchte, dem kann ich diese zauberhafte Sommerlektüre mit Sonnenscheinflair nur ans Herz legen.

Weitere Besprechungen zum Roman gibt es unter anderem bei Poesierausch und Buch-Haltung.

Mit „Nincshof“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 24 für 2024erfüllt – Punkt Nummer 17) auf der Liste: Ich möchte ein Sommerbuch lesen. Der Roman versprüht auf charmante Weise sommerliche Atmosphäre und lädt ein zu einem ungewöhnlichen literarischen Ausflug in die Nähe des Neusiedler Sees.

Buchinformationen:
Johanna Sebauer, Nincshof
Dumont
ISBN: 978-3-8321-6820-9

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Johanna Sebauers „Nincshof“:

Für den Gaumen:
Ein Allheilmittel, Seelentröster und Inspirationsgeber im Dorf ist die heimische „Pusztafeigenmarmelade“ (S.11) oder natürlich der hochprozentige „Pusztafeigenschnaps“ (S.18).

Zum Weiterschauen oder Weiterklicken:
Die „Tage der deutschen Literatur“ in Klagenfurt finden dieses Jahr vom 26. bis zum 30. Juni 2024 statt. Alles Wichtige über den Ingeborg-Bachmann-Preis, die Statuten, die Nominierten und die Jury findet man auf der Homepage des Wettbewerbs. 3Sat überträgt auch dieses Jahr die Eröffnung, die Lesungen und die Preisverleihung.

Zum Weiterlesen:
Sprachlich schöne und intelligente Literatur hat auch die Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Preises aus dem Jahr 2020 verfasst – ich mochte und mag die Texte von Helga Schubert in ihrem Band „Vom Aufstehen“ sehr.

Helga Schubert, Vom Aufstehen
dtv
ISBN: 978-3-423-25129-7

7 Kommentare zu „Unvergesslicher Sommer

  1. Ja, wirklich schön! Sie passt auch auf die Kulturbowle selbst, oder nicht. Schön, dass du mir das Buch auch nochmal ans Herz legt, ich hatte es nämlich auch vor zu lesen und immer wieder verschoben. Mal sehen, ob’s gelingt, aber wenn du als Weiterlektüre Schubert vorschlägt, wie kann ich da eigentlich zögern? Ein schönen Spätsonntagnachmittag Gruß! Danke für deine gute Laune!!

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    1. Danke, Alexander. Ja, ich versuche auch, immer die Augen für die schönen Dinge des Lebens offen zu halten… und vieles lässt sich mit guter Laune einfach besser ertragen – auch wenn es nicht immer leicht fällt. Ich wünsche Dir einen entspannten und hoffentlich gut gelaunten Sonntagabend! Schön, dass Du vorbeigeschaut hast und herzliche Grüße! Barbara

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      1. Ich bleibe ein treuer Leser, liebe Barbara! Ich mag die Kulturbowle und deine Fröhlichkeit zu sehr. Ich fühle mich hier sehr gut aufgehoben! Fröhliche und herzliche Grüße zurück!!

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      2. Sehr schön. Das freut mich, Alexander. Du bist immer ein gern gesehener Gast hier auf meiner Bowle. Herzliche Grüße und bis bald! Barbara

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    1. Oh, das freut ich, wenn ich Deine Neugier wecken konnte, Sabine!
      Ich habe es als erfrischende Abwechslung vom Mainstream empfunden und es passt einfach perfekt in den Sommer… im Winter hätte es mich sicherlich nicht so gekriegt…
      Ach ja, habe noch gesehen, dass das Taschenbuch wohl im September kommen soll… Herzliche Grüße! Barbara

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