Ungleiche Brüder

Blut ist bekanntlich dicker als Wasser und Brüder bleiben Brüder, auch wenn das Leben sie in verschiedene Richtungen spült. Paolo Cognetti erzählt in seinem neuesten Roman „Unten im Tal“ von zwei Brüdern, die zwar – wie die Bäume, die der Vater bei ihrer Geburt pflanzt – in der selben Erde wurzeln und doch vollkommen unterschiedliche Lebenswege einschlagen.

Luigi und Alfredo sind in einem piemontesischen Bergtal – dem Valsesia – aufgewachsen. Zwei Jahre liegen zwischen den beiden, die ihre Kindheit in Abgeschiedenheit, Einfachheit und in einem rauen Umfeld verbracht haben. Die Tourismus-Homepages schwärmen heute von „unberührte(r) Natur, atemberaubende(n) Landschaften und grüne(n) Tälern durchzogen von kristallklaren Flüssen“ (Quelle: Homepage derlagiomaggiore), doch für die Jungen bedeutete es harte Arbeit, Kargheit und eingeschränkte Perspektiven.

„In eine Decke gehüllt, saß er da und rauchte, betrachtete die beiden Bäume neben dem Haus. Eine Lärche und eine Fichte, siebenunddreißig beziehungsweise fünfunddreißig Jahre alt: Ihr alter Herr hatte sie jeweils zu ihrer Geburt gepflanzt.“

(S. 40)

Wie die beiden Bäume, die der Vater für die Söhne pflanzte – eine Fichte und eine Lärche – könnten die Lebenswege der Brüder nicht unterschiedlicher sein.
Luigi hat das Tal nie verlassen, hat Elisabetta geheiratet und freut sich nun auf die Tochter, die sie gerade gemeinsam erwarten. Er arbeitet als Forstpolizist, ist gleichsam Hüter des Gesetzes, Bewahrer von Recht und Ordnung.

Alfredo hingegen ist schon früh auf die schiefe Bahn geraten, verbüßte Gefängnisstrafen und kehrte der italienischen Heimat den Rücken. Es konnte gar nicht entfernt genug sein – es zog ihn in die Weite Kanadas, wo Holzfäller gesucht wurden.

„Er stellte eine gute Laune zur Schau, die in einer Talkneipe im November genauso hervorstach wie ein Hawaiihemd. Luigi verspürte so etwas wie Zuneigung für ihn, auch wenn er nicht wusste, ob er sich geändert hatte.“

(S.35)

Doch jetzt ist er zurückgekehrt ins Tal, denn es gilt ein Erbe zu regeln. Der Vater hat ein Anwesen hinterlassen und die Brüder haben bei ihrem Wiedersehen so Manches zu besprechen und aufzuarbeiten.

„Du Lärche, bist dazu bestimmt, in der Sonne zu wachsen, hoch aufzuschießen, robust und gleichzeitig zerbrechlich, dich im Wind zu wiegen. Und du Fichte, wirst stattdessen im Schatten wachsen, dafür stark und robust sein, auch im Winter von Nadeln geschützt und an die Kälte angepasst. Letzteres bin ich.“

(S.69)

Gleichzeitig streift ein streunender, herrenloser Hund – oder gar doch ein Wolf – durchs Tal und reißt andere Hunde. Cognetti verknüpft auf künstlerische und gekonnte Weise die Geschichte dieses tierischen „Outlaws“ mit der Geschichte der Brüder.

Kaum jemand beschreibt die Welt der italienischen Berge so poetisch, atmosphärisch – zugleich karg, ursprünglich und doch faszinierend schön – wie Paolo Cognetti. Wer seine ersten Romane mochte, wird auch an „Unten im Tal“ wieder viel Freude haben. Sein Stil ist unvergleichlich und unwiderstehlich.

Denn er pflanzt in diese raue Welt Menschen aus Fleisch und Blut, mit all ihren Stärken, Schwächen, Zweifeln, Sehnsüchten und Leidenschaften. Seine Figurenzeichnung ist so eindringlich, dass man Luigi, Alfredo und auch Betta geradezu leibhaftig vor sich sieht. Man fiebert mit den Charakteren – unweigerlich.

„Noch vor zehn Jahren hätte er Elisabetta zum Baden mit hierhergenommen, aber für Bäder im Fluss gab es eine ganz bestimmte Phase im Leben – keine Ahnung, warum die irgendwann endete. Dann wurde es Zeit für Kinder, für den Kauf und die Renovierung ihres Hauses, für eine gut bezahlte Arbeit.“

(S.53)

Doch bei aller Rauheit gibt es auch schwebende, lyrische Stellen voller Zartheit, voller Empathie und Gefühl. Denn Cognetti versteht es, mit Sprache zu zaubern und hat so ein Buch voller Mitgefühl und Menschlichkeit, aber auch voller grandioser Landschaftsschilderungen geschrieben.

„Die Sonne ging im Norden unter, ein endloser Sonnenuntergang, stundenlang blieb sie am Horizont hängen. Bis ein Sonnenaufgang daraus wurde. Eine ganze Nacht lang lag ich im Schlafsack hinten auf dem Pick-up und schaute in den Himmel. Nie war mir klarer als damals, dass sich die Welt wirklich einen Dreck um uns schert. Und um mich schon gar nicht.“

(S.77)

„Unten im Tal“ ist ein kleines, feines Buch, das sich mit gerade einmal 140 Seiten an einem Abend oder Nachmittag lesen lässt und doch entsteht vor den Augen der Leserschaft eine eigene Welt und man riecht die frische Bergluft, die in der Nase beißt, hört den Fluss über die Steine rauschen und sieht die vom Wind zerzausten Bäume in den Himmel ragen.
Es ist ein Buch über Geschwisterliebe, Enttäuschungen, Verletzungen, Liebe und Tod, über unterschiedliche Lebensentwürfe und über die Wurzeln, die uns ein Leben lang prägen. Ein wunderbares, bereicherndes Buch für einen stillen Herbst- oder Winterabend, das dazu einlädt, sich literarisch in die Bergwelt des Piemont entführen zu lassen. Eine große Leseempfehlung und für mich sicher ein literarisches Glanzlicht in diesem Jahr!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Penguin Verlag (Random House), der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Paolo Cognetti, Unten im Tal
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt
Penguin
ISBN: 978-3-328-60364-1

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Paolo Cognettis „Unten im Tal“:

Für den Gaumen (I):
In der Talkneipe wird selbstverständlich getrunken und debattiert – unter anderem bei einer roten Rebsorte, die besonders im Piemont heimisch ist:

„Diskussionen, die beim Aperitif aufkamen. Bei einem zweiten Gläschen Bonarda, (…)“

(S.18)

Für den Gaumen (II):
Für körperlich arbeitende Männer gibt es in der „Croce Bianca“ ein besonderes Angebot:

„Ein festes Menü – Vorspeise, Hauptspeise, Beilage, Kaffee – für neuntausend Lire. Tageskarte: Polenta mit Rehgulasch, Tagliatelle mit Wildragout, Forelle in Alufolie mit Kartoffeln.“

(S.48)

Zum Weiterlesen (I):
Luigis Frau Elisabetta findet als Zugezogene Trost, Stärke und Lebensberatung in Büchern bzw. bei von ihr geschätzten Autorinnen:

„Einige davon haben ihr dabei geholfen, hier zu leben. Flannery O’Connor, diese seltsame junge Frau, die mit ihrer Mutter zusammenlebte. Und Tania Blixen, die Frau, die ihren alten Familiensitz ganz allein bewohnte.“

(S.98)

Was mich wieder daran erinnert, dass ich ja schon längst „Babettes Gastmahl“ lesen wollte:

Tania Blixen, Babettes Gastmahl
Übersetzt von Ulrich Sonnenberg
Manesse
ISBN: 9783717560012

Zum Weiterlesen (II):
Ich bin bereits seit „Acht Berge“ begeistert von Paolo Cognettis Büchern, verfolge daher stets sehr genau, was Neues aus seiner Feder kommt und habe sowohl „Mein Jahr in den Bergen“ als auch Das Glück des Wolfes sehr, sehr gerne gelesen. Letzteres habe ich auch bereits hier auf der Kulturbowle vorgestellt.

Paolo Cognetti, Das Glück des Wolfes
Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt
Penguin
ISBN: 978-3-328-60203-3

8 Kommentare zu „Ungleiche Brüder

  1. Hmmm jetzt möchte ich das Menü für körperlich arbeitende Männer essen begleitet von einem Glas Bonarda (oder zwei) und dieses feine Büchlein lesen. Ich mochte die „Acht Berge“ auch sehr und ich finde Cognetti passt bestens in den September. Liebe Grüße, Sabine

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    1. Da hast Du absolut recht, liebe Sabine. Das Buch ist ein wunderbares, warmherziges Herbstbuch und ich bin mir sicher, dass es Dir gefällt, wenn Du auch die „Acht Berge“ mochtest. Es hat mich sehr daran erinnert. Herzliche und sonnige Herbstgrüße! Barbara

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