Tabaksaat und Liebespflänzchen

Der Tabaksaft, der unter anderem beim Ernten aus der Pflanze austritt, ist schwarz und klebrig. Nicht umsonst hat er daher bei Tabakbauern bzw. Planteuren im Odertal den Namen „Tabakpech“ erhalten. Und so heißt auch der feine Debütroman von Eva-Martina Weyer: „Tabakpech“. Die Journalistin, die in Schwedt an der Oder aufgewachsen ist und viele Jahre für eine Regionalzeitung gearbeitet hat, hat ausführlich über den Tabakanbau in der Uckermark recherchiert und spannt in ihrem ersten Roman einen zeitlichen Bogen von 1930 bis 1995. Entstanden ist ein berührender Roman, der die generationsübergreifende Geschichte der Frauen in einer traditionellen Planteursfamilie erzählt.

„Das Tabakpech war schwarz und hartnäckig und nur schwer abzuwischen. Es „peckte“, wie alle hier sagten, und zwar von der ersten Berührung an. Tabakpech ließ die Hiergeborenen nicht los.“

(S.34)

Der Tabakanbau hatte in der Uckermark bzw. im Odertal lange Tradition. Der Landstrich in Mecklenburg-Vorpommern war landwirtschaftlich geprägt und die Planteure blickten oft auf hugenottische Wurzeln zurück, französische Familiennamen waren keine Seltenheit. Es war ein hartes, arbeitsreiches Leben, bestimmt von der Natur und der Witterung – das glitzernde Berlin, die Großstadt war weit weg.

„In der Stube stand ein Sofa. Besser gesagt, eine Chaiselongue. Wer es sich leisten konnte unter den Planteuren, der stellte sich eine Chaiselongue ins Haus. Karl konnte. Er war schließlich Hugenotte und mit französischen Vorfahren gesegnet. Nicht einfach ein Bauer war er, sondern ein Planteur. Vielleicht spross deshalb in ihm jenes rätselhafte Feingefühl für französische Möbelmode. Und die hatte ihre Vollendung in einer Sitzgelegenheit mit dem unaussprechlichen Namen Chaiselongue gefunden.“

(S.58)

Jeder in der Familie – ob Groß und Klein – musste mit anpacken. Der Tabak musste angebaut, gehegt, gepflegt und geerntet werden. Die kleine Elfie verliert bereits früh ihre Eltern und wächst bei Tante Wilmine und Onkel Karl auf einem Tabakhof auf. Gemeinsam mit den anderen Kindern auf dem Hof wächst sie hinein in das Familienleben und das Tabakgeschäft.

„Was war der Tod, und warum hatte der Mond ein Gesicht? Das waren Fragen, auf die es keine Antwort gab. Die Abendsonne von Gottesgabe schien auf den Tisch, an dem die Einsamkeit lärmte.“

(S.23)

Es ist ein abgeschiedenes, zurückgezogenes Leben in den Dörfern, die so klangvolle Namen wie Gottesgabe oder Mühlraden tragen. Manchmal träumen die Mädchen auf dem Hof von einer anderen Zukunft. Grete sehnt sich nach Büchern, bricht dafür sogar heimlich in die Dorfschule ein und würde gern Lehrerin werden. Elfie ist glücklich, wenn sie singt. Doch es ist der Tabak bzw. diese klebrigen Pflanzen, die das Leben bestimmen.

„Eine seltsame Zeit war angebrochen. Sie war wie ein tiefes Luftholen, ein Schwebezustand, bevor etwas Großes begann. Dieses Beginnen spross in den Frühbeeten, in denen der Tabak sich daumenhoch reckte. Dort entfaltete sich dicht an dicht die Hoffnung des Jahres.“

(S.146/147)

Weyer beschreibt eindrucksvoll den Alltag und den Jahresablauf, der diese Familien prägt. Die Sorge um das Wetter, die Qualität der Pflanzen und um einen guten Preis sind immer präsent. Gleichzeitig erzählt sie über das Leben, die Sehnsüchte und die Träume der Frauen, die in schweren Zeiten dem Schicksal und dem harten Alltag die Stirn bieten müssen.

„Manchmal ist es das Dasein selbst, das tröstet. „Es wird schon“, sagen die Alten bis in unsere Tage. Ihre Prophezeiung stimmt. Meistens jedenfalls. Ein Tag legt sich zum anderen. Schnee schmilzt und Tabak keimt.“

(S.204)

Die Autorin fächert ein großartiges, vielschichtiges Zeitenpanorama auf – von den hugenottischen Wurzeln, über die Zeit zwischen den Kriegen, während des zweiten Weltkriegs bis hin zur Zeit des Sozialismus und dem Zusammenbruch der DDR.
Sie erzählt bewegend von schweigsamen Heimkehrern, die der Krieg verändert hat, aber auch von zarten Liebespflänzchen, die zwischen den Dorfbewohnern unaufhaltsam zu keimen beginnen und sich ihren Weg ans Licht suchen.
So schafft sie ein Buch, das sich dank der sympathischen Figuren, der spannenden historischen Hintergründe und der feinfühligen Sprache wunderbar liest und sich zu einem stimmigen, harmonischen Ganzen fügt.

„Tabakpech“ ist ein Buch über Werden und Vergehen und darüber im Einklang mit, aber auch in Abhängigkeit von der Natur zu leben. Es ist ein großer, gefühlvoller Familienroman, der auch vor ernsten Themen wie Suizid und den Folgen des Krieges nicht zurückscheut. Es ist lebendige und gelebte Geschichte ebenso wie leiser Liebesroman. Es erzählt von harter Arbeit auf den Feldern ebenso wie von der Sehnsucht nach Schönheit und einem besseren Leben.

Deutsche und deutsch-deutsche Geschichte bekommen ebenso Raum, wie die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die sich über die Jahre verändert.
All das und noch einiges mehr steckt drin auf knapp 280 Seiten. Eva-Martina Weyer hat – jedoch ohne es zu überfrachten – ein sehr vielschichtiges Buch über eine ganz besondere Region Deutschlands geschrieben, das wie das Tabakpech an den Händen der Planteure und Planteurinnen auch lange in meinem Gedächtnis haften bleiben wird.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag STROUX Edition, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Eva-Martina Weyer, Tabakpech
STROUX Edition
ISBN: 978-3-948065-38-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Eva-Martina Weyers „Tabakpech“:

Für den Gaumen (I):
Renate aus der Dorfwirtschaft Schwarzer Hahn hat ein besonderes Mittel, sich die Tabakaufkäufer gesonnen zu stimmen:

„Nachher würde sie dem Aufkäufer zwei Hackepeterbrötchen auf einem Stullenbrett reichen. Es war ein eingefleischtes Ritual, bei dem der Mann im blauen Kittel verlangte: „Aber mit dick Zwiebeln drauf.“ “

(S.15)

Für den Gaumen (II):
Und auch die Kinder hatten ihre ganz eigene Leibspeise:

„Wenn es Plinsen gab, schwelgten die Kinder im siebenten Himmel. Es war ein Festessen im August, bei dem die Mütter aus den ersten Äpfeln des Jahres Mus kochten, es auf jede gebratene Kartoffelplinse strichen und eine Prise Zucker drüberstreuten. Die knusprige Plinse zerschmolz im Mund mit der Süße des Sommers.“ (S.26)

Für den Gaumen (III):
Und noch eine Leckerei findet großen Anklang:

„Alle liebten dicke Milch. Sie schmeckte leicht säuerlich. Wenn man sie mit Zucker bestreute und einen Löffel Erdbeeren obenauf gab, war sie eine Speise, die der Himmel erfunden hatte.“

(S.153)

Zum Weiterschauen oder für einen Museumsbesuch:
Vor meiner Lektüre hatte ich noch nie vom Tabakanbau in der Uckermark gehört oder gelesen. Bei der Recherche während meiner Lektüre, bin ich auch auf die Website des Tabakmuseums Schwedt/Oder gestoßen.

Zum Weiterlesen:
Besondere Momente im Familienleben wurden beim Fotografen verewigt. Der Besuch bei Foto-Fritze war daher ein außergewöhnliches und bemerkenswertes Erlebnis:

„ „Gut so!“ Foto-Fritze drückte ab. Die Aufnahme machte er mit einer Leica. Das Modell war genau zehn Jahre alt.“

(S.172)

Über die Leica und die damit verbundene Familiengeschichte gibt es ebenfalls einen schönen historischen Roman von Sandra Lüpkes zu lesen, den ich bereits hier auf dem Blog vorgestellt habe: Das Licht im Rücken.

Sandra Lüpkes, Das Licht im Rücken
Kindler
ISBN: 978-3-463-00025-1

6 Kommentare zu „Tabaksaat und Liebespflänzchen

    1. Sehr gerne. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und viel Neues erfahren… wenn ich hier Deine Neugier wecken konnte und so etwas von meiner Lesefreude weitertragen konnte, ist das wunderbar! Herzliche Grüße und viel Freude beider Lektüre!

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    1. Dankeschön. In meinen Augen ist es auch ein besonderes Buch. Sehr rund, eine gute Mischung aus geschichtlichem Hintergrund, Familiengeschichte, eine Erzählung über Frauen und ihre Stellung in der Gesellschaft, aber eben auch über eine ganz besondere Region. Mir hat es große Lesefreude bereitet. Herzliche Grüße!

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