Geschichtsträchtige Momentaufnahmen

Der Name Leica ist nicht nur Fotoenthusiasten ein Begriff, sondern ein Markenname, der sich tief in das Gedächtnis Vieler gebrannt hat. Sandra Lüpkes erzählt nun in ihrem Roman „Das Licht im Rücken“ die hochinteressante Geschichte der Familie Leitz, der Firma und vor allem auch der legendären Leica-Kleinbildkamera. Gleichzeitig zeichnet sie ein Zeitenpanorama deutscher Geschichte von 1914 bis zum Ende des zweiten Weltkriegs.

Fundiert recherchiert, fesselnd und mit unglaublicher Sogwirkung ist die Lektüre nicht nur spannend und ergänzt durch fiktive Elemente auch unterhaltsam rund, sondern gleichzeitig eine kurzweilige Geschichtsstunde, der man sich nicht entziehen kann.

„Von Mikroskopen versteht er vielleicht etwas, der Vater, von Linsen und Okularen. Aber vom Glück seiner Tochter hat er keinen blassen Schimmer.“

(S.29)

Elsie Kühn-Leitz (1903 – 1985) ist eine der zentralen Figuren des Romans. Die Enkelin des Firmengründers Ernst Leitz I. und Tochter Ernst Leitz II. wird als willensstarke und ambitionierte Frau dargestellt. Als LeserIn begleitet man sie von ihrer Kindheit als Zehnjährige im Jahr 1914, über ihre Jugendzeit, die im Hinblick auf das Elternhaus nicht immer konfliktfrei verlief, bis hinein in die dunkle Zeit der NS-Herrschaft, während der sie – wie auch ihr Vater – Juden half und deshalb auch mehrere Monate in Gestapo-Haft wegen „übertriebener Humanität“ verbrachte.

Elsies Vater Ernst der II. (1906 – 1979) führte das optische Unternehmen nach dem Tod seines Vaters ab 1920 alleine weiter. Er war es, der beherzt das unternehmerische Risiko einging und beschloss in einer Firma, die bisher vorwiegend Mikroskope herstellte, der Leica-Kamera in Zeiten der Hyperinflation dennoch eine Chance zu geben und er war es, der das Unternehmen durch schwierige Zeiten und die Zeiten des NS-Regimes führte.

„Den Menschen rinnt das Geld durch die Finger“, monologisiert Anton. „Ich sehe es doch an meiner Brieftasche. Aber die Photographien bleiben. Es gibt nur eine Sache, die nie an Wert verliert, nicht mal in schlechten Zeiten.“ Alle schauen Anton erwartungsvoll an. „Erinnerungen.“

(S.160)

Gewürdigt und den entsprechenden Raum im Roman bekommt auch der Meister und Erfinder Otto Barnack (1879 – 1936), der als beharrlicher und geduldiger Tüftler mit Herz gezeichnet wird, der die technische Grundlage für die Leica legte und Ernst Leitz II. von seiner Idee überzeugen konnte.

Basierend auf wahren Begebenheiten und realen Persönlichkeiten mischt Lüpkes auch fiktive Elemente in ihren Familien- und Gesellschaftsroman, der so nicht nur die Geschichte der Familie und Firma Leitz erzählt, sondern auch die Geschichte einer jüdischen Familie – insbesondere eines jungen Mannes in Elsies Alter – aus Wetzlar. In ihrem Nachwort beschreibt die Autorin es selbst wie folgt:

„Dieser Roman bewegt sich sehr eng an den Geschehnissen entlang, hat aber nicht den Anspruch, die Realität abzubilden. (…) Ein Zuviel oder Zuwenig aber stört den reibungslosen Ablauf. Deshalb habe ich Figuren und Szenen zusammengefasst oder erfunden, allerdings stets auf der Basis historischer Tatsachen.“

(S.472)

Wunderbar finde ich, dass am Ende ein ausführliches Personenregister enthalten ist, welches die Fakten und die Lebensläufe der wichtigsten Personen nochmals explizit und detailliert aufführt und in den historischen Kontext einordnet.

Es geht im Buch unter anderem um Innovationen, den Mut Neues zu wagen und um den dünnen Faden, an welchem oft hängt, ob ein Produkt eine Chance bekommt und zum Erfolg wird oder für immer auf dem Labortisch oder in der hintersten Ecke eines Schranks verstaubt.

Der Roman ist – um in der Sprache der Fotografie zu bleiben – wahrlich reich an unterschiedlichsten Blickwinkeln und Perspektiven, zumal er neben der Familiengeschichte der Leitzs und der weltberühmten Leica-Kameras auch die Macht der Bilder und den Missbrauch von Bildern zu Zwecken der Propaganda thematisiert.
Denn selbstverständlich kamen die handlichen Apparate auch während des zweiten Weltkriegs zum Einsatz und nicht immer war der Anspruch, die Realität ungeschönt in all ihrer Grausamkeit abzubilden.

Und es geht in „Das Licht im Rücken“ auch um menschliche Schicksale, um Familien und Beziehungen, um Vertrauen und Verrat, um Mut und Angst. Wie in der Fotografie arbeitet Lüpkes mit Licht und Schatten und hat einen lebendigen, soghaften, interessanten und hochspannenden Roman geschaffen, bei dem man erfreulicherweise auch noch etwas lernen kann: über die Geschichte der Fotografie, über eine eindrucksvolle Unternehmerfamilie und über ein Stück deutscher Geschichte.

Natürlich dürfen in einem Roman über die Leica und die Geschichte der Fotografie auch Fotos und Abbildungen nicht fehlen – und auch dieser Wunsch wird erfüllt: zwischen den Kapiteln gibt es nicht nur Abbildungen der verschiedenen Leica-Modelle, sondern auch historische Schnappschüsse und teils legendäre Momentaufnahmen für die Ewigkeit, welche die Zeiten und die wechselvollen Kapitel der Geschichte überdauert haben.

Mich hat der Roman vor allem aufgrund der sorgfältig aufbereiteten, historischen Hintergründe – wie auch bereits Lüpkes vorheriger Roman „Die Schule am Meer“ – wirklich gefesselt und sofort in seinen Bann gezogen, so dass ich das Buch nach Beginn der Lektüre kaum noch aus der Hand legen konnte. Daher gibt es hier eine Leseempfehlung aus Überzeugung!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kindler Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Sandra Lüpkes, Das Licht im Rücken
Kindler
ISBN: 978-3-463-00025-1

Abbildung: © Rowohlt Verlag

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Das Licht im Rücken“:

Für den Gaumen (I):
Trotz einer unruhigen Schifffahrt über den Atlantik wird an Bord einem Familienmitglied der Leitzs Folgendes serviert:

„Die Erinnerung an das opulente Frühstück, das aus Pampelmuse, einem Club-Sandwich und russischen Eiern bestanden hat, steigt ihm uncharmant die Kehle hinauf.“ (S.43)

(S.43)

Für den Gaumen (II):
Bei einem besonderen Anlass gibt es „Frankfurter Kranz mit kandierten Kirschen“ (S.50) – ein echter Kuchenklassiker.

Rezepte dazu finden sich zum Beispiel auf dem Blog „Die Jungs kochen und backen“ oder auf Marcs Blog „Bake to the roots“.

Zum Weiterschauen:
Ganz aktuell gibt es heute Abend (Donnerstag, 18.05.2023) um 20.15 Uhr auf ARTE die 44-minütige Dokumentation „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“ zu sehen, die ebenfalls von Ernst Leitz II. und seinem Einsatz zur Rettung von Juden während des Nationalsozialsmus handelt (und noch bis zum 15.08.2023 in der ARTE Mediathek verfügbar sein wird).

Zum Weiterhören:
Die zweite Frau von Ernst Leitz II. Hedwig war eine sehr gute Pianistin:

„Drinnen spielt Hedwig auf dem Steinway, Mendelssohn Bartholdy, „Wie die Zeit läuft!“, wenn ihn seine Ohren nicht täuschen. Ein unerbittliches Stück, auffordernd und voller Leben, Hedwigs Musikauswahl ist selten dem Zufall geschuldet.“

(S.109)

Zum Weiterschauen oder für einen Museumsbesuch:
In Wetzlar gibt es im Leitz-Park die Leica Welt und das Ernst Leitz Museum zu besichtigen – ich war selbst noch nicht dort, sondern habe bisher während und nach der Lektüre des Romans nur ein wenig auf der Website gestöbert.

Zum Weiterlesen:
Auch in „Das Licht im Rücken“ wird eine Brücke zu Sandra Lüpkes Roman „Die Schule am Meer“ geschlagen, den ich 2020 gelesen habe und sehr mochte. Günther Leitz, der jüngste Sohn von Ernst Leitz jun., besuchte die reformpädagogische Schule auf der Insel Juist ab 1927. Bei der Recherche zu ihrem vorherigen Roman stieß Lüpkes auf zahlreiche Bildaufnahmen, die Günther Leitz mit seiner Leica-Kamera gemacht hatte.

Sandra Lüpkes, Die Schule am Meer
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-27677-4

5 Kommentare zu „Geschichtsträchtige Momentaufnahmen

  1. Das hört sich wirklich äußerst interessant an! Da schlägt das Herz einer gelernten Fotografin, nämlich meins, gleich höher. Dankeschön für diese mitreißende Buchbesprechung! Herzliche Grüße, Bettina 📸

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    1. Als gelernte Fotografin liest Du das Ganze sicher noch einmal mit vollkommen anderen Augen. Mich hat diese Familien- und Firmengeschichte mitgerissen und fasziniert – vor allem auch aufgrund der zeitgeschichtlichen Querbezüge und der geschilderten Zivilcourage. Das dann auch in der gestrigen ARTE-Dokumentation noch bebildert und bestätigt zu bekommen, wird sicherlich dazu beitragen, dass es mir dauerhaft im Gedächtnis bleiben wird. Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende! Barbara

      Gefällt 1 Person

      1. Die Dokumentation „Die Nazis, der Rabbi und die Kamera“ steht noch bis 15.08.23 in der ARTE Mediathek zur Verfügung und ist wirklich sehenswert. Herzliche und sonnige Wochenendgrüße! Barbara

        Gefällt 1 Person

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