Buchclub im hohen Norden

Anfang der 2000er Jahre gab es eine Zeit, in welcher der deutsche Buchmarkt vollkommen abtauchte in die skandinavische Krimiszene und viele LeserInnen Mankell, Dahl, Nesser oder Lehtolainen für sich entdeckten. Auch ich habe damals mit großer Begeisterung viele skandinavische Krimis gelesen und eine der Reihen, die ich zu dieser Zeit regelrecht verschlungen habe, waren Liza Marklunds Krimis rund um die Journalistin Annika Bengtzon. Jetzt gibt es Neues von der schwedischen Autorin und zwar den vielversprechenden Auftakt zur Polarkreis-Trilogie und als ich erfahren habe, dass diese nicht nur im hohen Norden Schwedens spielt, sondern im ersten Band auch noch ein Buchclub junger Mädchen im Teenageralter mit Namen „Der Polarkreis“ (Schwedischer Originaltitel „Polcirkeln“ aus dem Jahr 2023) die Hauptrolle einnimmt, war klar, dass es Zeit wird, wieder einmal ins skandinavische Krimiuniversum abzutauchen.

Marklund hat ihren Trilogieauftakt auf zwei Zeitschienen gesetzt:
Im Jahr 2019 wird auf einer Baustelle die kopflose Leiche einer jungen Frau im Fundament einer Brücke gefunden. Der Zustand und die Kleidung lassen darauf schließen, dass es sich um die im Spätsommer 1980 verschwundene Tochter des damaligen Kommunalrats Sofia Hellsten handeln könnte. Bei ihrem Verschwinden war sie noch keine 18 Jahre alt.

„Es handelte sich um ein Mädchen oder möglicherweise um eine junge Frau. Wer weiß schon so genau, wo die Grenze verläuft? Bei der Volljährigkeit? Jedenfalls wussten alle sofort und mit ziemlicher Bestimmtheit, wem der Körper einmal gehört hatte. Sie hieß Sofia Hellsten und war keine achtzehn Jahre alt geworden. Ein Mädchen also.“

(S.5)

Sie war 1980 gemeinsam mit vier weiteren Mädchen Mitglied eines literarischen Buchclubs, der sich regelmäßig traf, um in kleiner Runde Bücher zu besprechen. Fünf junge Mädchen mit Interesse an Literatur, mit Träumen, Sehnsüchten und auch dem Wunsch, der Enge des kleinen Heimatorts zu entfliehen. Weg von jenem Ort, der vor allem geprägt ist vom nahen Militärstützpunkt, auf dem geheime Dinge vor sich gehen und weg aus einem Dorf, wo doch fast jeder jeden kennt. Fünf junge Mädchen, die auf der Suche nach Perspektiven sind, mit dem Wunsch, die Welt zu erobern und ihren eigenen Platz im Leben zu finden.

Und jede von ihnen auch mit eigenen Problemen, wie zum Beispiel einem pubertierenden kleinen Bruder, der Sorgen bereitet, oder einer psychisch kranken Mutter, die kaum noch allein gelassen werden kann. Zudem die für Teenager oft trostlose Zeit zwischen Liebeskummer, Schulbank und Parties, auf denen um die Wette gesoffen wird.

„Hauptsächlich bin ich auf der Suche nach einer Momentaufnahme aus dieser Zeit“, erklärte sie und leckte den Löffel ab. „Nach einer Stimmung, einer Atmosphäre. Was haben wir 1980 im nördlichsten Schweden gemacht, was haben wir gedacht? Wovon haben wir geträumt? Welche Spuren hat das Verschwinden eines jungen Mädchens bei uns hinterlassen?“

(S.146)

Und plötzlich verschwindet eine der Freundinnen an einem Sommerabend nach einem Treffen des Buchclubs spurlos. Der Lesekreis zerbricht, die Freundschaft hält dem Schicksalsschlag nicht stand und die Mädchen werden vom Leben in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Erst als fast 40 Jahre später im Jahr 2019 eine Mädchenleiche in Stenträsk gefunden wird, kommen die Frauen an den Ort des Geschehens und in die ehemalige Heimat zurück. Was war damals geschehen?

Wie schon in ihren früheren Krimis hält die Autorin auch in diesem Band der Gesellschaft den Spiegel vor, thematisiert aktuelle Probleme und gesellschaftliche Tendenzen. Sie schreibt über Alkoholismus, psychische Erkrankungen, sexuellen Missbrauch, das Erstarken rechtsradikaler Ansichten und vieles mehr.

Liza Marklund (Jahrgang 1962) ist selbst in der nordschwedischen Provinz Norrbotten in einem Dorf bei Piteå aufgewachsen. Sicher ein Grund, warum gerade die geschilderte, beklemmende Atmosphäre der Achtziger Jahre in diesem kleinen, abgelegenen Ort so stimmig und intensiv bei mir als Leserin angekommen ist, aber eben auch für Naturbeschreibungen, die vollkommen überzeugen. Denn auch diese hat die erfahrene Übersetzerin Dagmar Mißfeldt großartig ins Deutsche übertragen.

„Dort draußen flackerte das Polarlicht, dieses magische, unwirkliche Licht, das mitten am Tag etwa eine Stunde lang glomm. Die Sonne stand hinter dem Horizont, ein Streifen von rotem Himmel im Süden. Ein zögerliches Morgengrauen, das in Dämmerung überging, ohne sich je zu entwickeln.“

(S.49)

Dem Buch vorangestellt ist das Bild einer Karteikarte, wie sie früher in Bibliotheksbüchern enthalten war und dann mit Ausleihdatum gestempelt und dem Namen der oder des Entleihenden versehen wurde. Denn die fünf Mädchen im Roman waren Stammgäste in der örtlichen Leihbücherei und fleißige Leserinnen – kein Wunder also, dass es viele Punkte gibt, mit welchen sich passionierte LeserInnen gut identifizieren oder vielleicht sogar darin wieder erkennen können.

Liza Marklund hat in „Der Polarkreis“ erneut ihre sehr persönliche, eigene Stimme gefunden und den Krimi an Schauplätzen und in einem Milieu angesiedelt, das ihr sehr vertraut ist. Kein Wunder also, dass der Auftakt der Reihe so besonders durch hohe Authentizität, stimmige Atmosphäre und psychologisch spannende Figuren besticht.

Eine gute Zeit und ein willkommener Anlass also, um sich wieder häufiger in den skandinavischen Krimikosmos zu begeben. Die nächsten beiden Bände der Trilogie werden unter den Titeln „Das kalte Moor“ im Februar 2026 und „Der Sturmberg“ im Februar 2027 ebenfalls im Atrium Verlag erscheinen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Atrium Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Liza Marklund, Der Polarkreis
Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt
Atrium
ISBN: 978-3-85535-212-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Liza Marklunds „Der Polarkreis“:

Für den Gaumen:
Carinas Lesehunger wird wie folgt beschrieben:

„Sie verschlang Bücher, wie andere Bruta – Polarbröd in Milch.“ (S.18)

Bruta? Ehrlich gesagt noch nie gehört oder gelesen… und auch die Internetrecherche war nicht sonderlich ergiebig.

Zum Weiterhören:
Auch musikalisch wird der Zeitgeist der späten Siebziger bzw. frühen Achtziger Jahre versprüht:

„Auf der Storgata war der Verkehr zum Erliegen gekommen, und mehrere Gruppen hatten Lautsprecher auf den Dächern ihrer Autos montiert. It’s fun to stay at the YMCA, die Leute grölten mit, Hey there people, I am Bobby Brown, einige tanzten, Born to be Alive.“

(S.214)

„Y.M.C.A“ von den Village People ist ebenso wie „Born to be Alive“ von Patrick Hernandez aus dem Jahr 1978, während Frank Zappas „Bobby Brown (Goes Down)“ 1979 erschienen ist.

Zum Weiterlesen (I):
Das Erscheinen von Liza Marklunds Annika Bengtzon-Krimis in Deutschland mit dem Auftaktband „Olympisches Feuer“ fiel Anfang der Nuller Jahre in eine Zeit, in der ich – angesteckt vom weit verbreiteten Wallander-Fieber – viele skandinavische Krimis gelesen habe. Meine rororo-Ausgabe von 2001 ist daher sowohl in DM (19,90) als auch mit einem EUR-Preis (9,90) ausgezeichnet.

Liza Marklund, Olympisches Feuer
Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 3-499-22733-9

Zum Weiterlesen (II):
Die Auswahl des Buchclubs hat eine ziemliche Bandbreite: Da geht es unter anderem von Nabokovs „Lolita“ (1955) über Colleen McCulloughs „Dornenvögel“ (1977) bis hin zu einem Krimi-Klassiker des schwedischen Autorenpaars Maj Sjöwall und Per Wahlöö und zwar zum neunten und vorletzten Band der Martin-Beck-Reihe „Der Polizistenmörder“ (1976). Bei mir stehen auch einige der Sjöwall/Wahlöö-Krimis im Regal und ich habe durchaus Lust bekommen, wieder einmal einen Band zur Hand zu nehmen. In meinem Fall eine alte Wunderlich Taschenbuch-Ausgabe – neu gibt es die Bände derzeit in der rororo-Reihe.

Maj Sjöwall/Per Wahlöö, Der Polizistenmörder
Deutsch von Eckehard Schultz
Wunderlich Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-26605-8

Aktuelle Ausgabe:
Maj Sjöwall/Per Wahlöö, Der Polizistenmörder
Übersetzt von Hedwig M. Binder
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3-499-24449-0

5 Kommentare zu „Buchclub im hohen Norden

    1. Das freut mich, wenn ich Dir Lust auf die Autorin machen konnte. Ja, während Annika Bengtzon meist in Stockholm unterwegs ist, geht es jetzt mit dieser Trilogie hoch an den Polarkreis… mit „Norden des Nordens“ hast Du es also wirklich gut getroffen. 🙂 Herzliche Sonntagabendgrüße und eine gute kommende Woche!

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  1. 1000-Dank für diesen tollen Tipp! Ich liebe Bücher aus dem hohen Norden und die, die den Polarkreis zum Thema haben, ganz besonders. Da ich schon einige Male die Freude und das große Vergnügen hatte, meinen Urlaub jenseits des Polarkreises verbringen zu können, bin ich fasziniert von dieser fantastischen Landschaft, der überwältigenden Natur und ihren ganz besonderen Menschen.

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