Vom Weitermachen und im Fluss bleiben

Hätte ich das Buch nicht schon im Vorschaukatalog, sondern in der Auslage der Buchhandlung entdeckt, hätte ich wohl aus zwei Gründen ebenfalls sofort danach gegriffen: zum einen aufgrund des Namens der Autorin Katharina Hagena, die ich seit längerem sehr schätze und zum anderen aufgrund des wunderschönen Umschlagbildes, das leicht neblige Flussauen und Schilf am Ufer zeigt. „Flusslinien“ lautet der Titel des Romans und wie ich bei der Lektüre erfahre, handelt es sich um die Elbe als stetig fließenden Rahmen bzw. Kulisse der Handlung.

Die 102-jährige Margrit lebt in einer Seniorenresidenz am Elbufer. Früher war sie Dozentin für Stimmbildung und Atemübungen.

„Doch letztlich ist Schreien etwas Gutes. Es gibt der Stimme Kraft. Wenn das Schreien später durch Singen ersetzt werden kann, ist es aber besser für alle.“

(S.56/57)

Während sie sich von ihrem jungen Pfleger Arthur in den schönen Römischen Garten begleiten lässt, der so viele Erinnerungen an die Vergangenheit birgt, macht sie sich auch Sorgen um ihre Enkelin Luzie.

„Ihr ist klar geworden, dass sie ein paar wesentliche Dinge in ihrem Leben noch nicht zu Ende erinnert, noch nicht zu Ende gefühlt hat. Und bevor sie einen Abflug macht (sie liebt diesen Ausdruck, Brisko sagt ihn manchmal, bevor sie nach Hause geht), möchte sie die Dinge erledigen. Es eilt nicht, nichts eilt mehr, aber es ist dringend.“

(S.75)

Denn irgendetwas hat Luzie aus der Bahn geworfen, vom Kurs abgebracht. Sie hat die Schule kurz vor dem Abschluss hingeschmissen und plant jetzt ihr Zeichentalent als Tätowiererin auszuleben. Margrit spürt die Zerrissenheit der Enkelin und in den Momenten, in welchen sie sich von ihr als Versuchsperson Flusslinien auf den vom Leben gezeichneten Körper tätowieren lässt, kommt sie ihr näher. Da gelingt es ihr, dem Trauma der jungen Frau, der Wut und der Verzweiflung über zerbrochene Freundschaften nachzuspüren.

Margrit weiß aus ihren eigenen Lebenserfahrungen, dass sich der Lebensfluss nicht immer den direkten Weg sucht. Auch in ihrem eigenen Leben gab es Schleifen jenseits des Stroms, Umwege und Durststrecken zu bewältigen.

Und auch Arthur, der tagsüber alte Menschen betreut, sich im Naturschutz engagiert, Kröten über die Straße trägt, das Flussufer mit dem Metallsuchgerät absucht und den Strand reinigt, scheint etwas zu kompensieren. Auch in seinem Leben gibt es eine Leerstelle und er hat eine Wunde davon getragen, die nur schwer zu heilen scheint.

Katharina Hagenas Sprache ist schwebend und fließt so perlend, wie das Wasser des Elbstroms die Steine am Ufer umschmeichelt. Ein wirklicher Lesegenuss, mit schönen Bildern, zauberhaften Wortspielereien versehen und mit großer Zärtlichkeit formuliert. Ihrer Stilistik, dem melodiösen Klang ihrer Sprache bin ich schon nach wenigen Seiten wieder verfallen und lasse mich gern von ihren Worten wohlig umspülen.

„Menschen, die einen richtig zum Lachen bringen, das sagt sogar Margrit, sind selten, und wenn man einen gefunden hat, muss man ihn mit beiden Händen festhalten.“

(S.92)

Margrit, Luzie und Arthur sind Charaktere aus Fleisch und Blut, die sofort ans Herz wachsen. Vermutlich gerade weil das Leben bei ihnen schmerzliche Spuren gezogen und Narben hinterlassen hat. Wie die Nadelstiche der Tätowierung, die letztlich Flusslinien auf der Haut hinterlässt.

„Du weißt aber, dass das nicht gerecht ist, oder? Du erzählst kaum was, willst aber, dass man dir nachts Licht gibt und morgens Geschichten.“

(S.192)

Hagena spinnt gefühlvoll ein kunstvolles, verwobenes Netz unterschiedlichster Erzählfäden und Motive. Klug und souverän manövriert sie ihre Leserschaft durch die Untiefen menschlichen Daseins ohne je den Erzählfluss aus den Augen zu verlieren.

„- Alle Menschen haben irgendwas, mit dem sie klarkommen müssen.
– Wahrscheinlich.“

(S.287)

„Flusslinien“ packt nicht in Watte und ist kein Heile-Welt-Roman, sondern jede und jeder hat ein Päckchen zu tragen. Und doch hat die Geschichte, die durch ihre sprachliche Schönheit besticht, auch etwas Tröstliches. Der nächste Hoffnungsschimmer ist nie weit, sondern wartet schon am Ufer des Flusses.

In unserer lauten und aus den Fugen geratenen Welt, sind es wohl solche leisen, feinen Bücher, die zumindest für die Zeitspanne der Lektüre für unaufgeregte Lesemomente sorgen, die einen zur Ruhe kommen und in das Erzählte abtauchen lassen. „Flusslinien“ ist ein berührendes und herzerwärmendes Buch voller Menschlichkeit und wohltuendem Mitgefühl. Ein echtes Geschenk in diesem Bücherfrühjahr!

Und mit dieser Empfehlung, die von Herzen kommt, wünsche ich allen, die hier mitlesen und feiern: Ein frohes und gesegnetes Osterfest!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Katharina Hagena, Flusslinien
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00729-9

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Katharina Hagenas „Flusslinien“:

Für den Gaumen (I):
Bei Kuchen und Torten gehen die Meinungen ja gerne auseinander – so auch bei Margrit:

„Margrit mag zum Beispiel keine verzierten Torten. Sie behauptet immer, dass nur solche Kuchen wirklich etwas taugen, die ein wenig schroff aussehen.“

(S.90)

Für den Gaumen (II):
Margrit hat zudem die Theorie, dass es in ihrer Seniorenresidenz vorwiegend beiges Essen gibt. Und doch kann auch da hie und da mal ein kulinarisches Schmankerl dabei sein:

Apfelpfannkuchen mit Vanillesoße, beige, gewiss, aber dennoch ein Höhepunkt.“

(S.151)

Zum Weiterlesen:
Auch wenn es schon einige Jahre her ist (meine Taschenbuchausgabe ist von 2009 – und da habe ich es wohl auch gelesen), weiß ich, dass Katharina Hagenas Roman „Der Geschmack von Apfelkernen“ bei der Lektüre mein Herz im Sturm erobert hat. Ein Buch, das seitdem einen Ehrenplatz in meinem Regal hat und das ich wohl auch wieder mal zur Hand nehmen sollte.

Katharina Hagena, Der Geschmack von Apfelkernen
Kiwi Taschenbuch
ISBN: 978-3-462-04149-1

12 Kommentare zu „Vom Weitermachen und im Fluss bleiben

  1. „Der Geschmack von Apfelkernen“ ist auch eines dieser Bücher, die ich eigentlich schon längst einmal lesen wollte, aber dann doch nie gelesen habe. Vielleicht ist es ja jetzt wirklich einmal an der Zeit – und das Umschlagbild finde ich da fast noch schöner als das des neuen Romans. 🙂

    Ich wünsche Dir einen schönen Ostermontag! Durch den Tod von Papst Franziskus hat der Tag gleich eine ganz andere Wendung genommen…

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    1. Das stimmt, auch „Der Geschmack von Apfelkernen“ ist optisch wunderbar aufgemacht.
      Ich habe gerade nochmal kurz reingelesen.
      Der erste Satz lautet:
      „Tante Anna starb mit sechzehn an einer Lungenentzündung, die aufgrund ihres gebrochenen Herzens und des noch nicht entdeckten Penizillins nicht heilen konnte.“

      Bei mir liegt die Lektüre lange zurück, aber ich weiß noch, dass ich es damals sehr gerne gelesen habe. Vielleicht solltest Du den ca. 255 Seiten eine Chance geben. 🙂

      Und ja, dieser Ostermontag wir wohl besonders im Gedächtnis bleiben.
      Einer der Momente, bei welchen man in Erinnerung behält, wo man gerade war bzw. wie man von der Nachricht erfahren hat.

      Herzliche Ostermontagsgrüße!

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      1. Das ist auf jeden Fall ein erster Satz, der neugierig macht. Zufällig habe ich entdeckt, dass es auch eine Verfilmung von „Der Geschmack von Apfelkernen“ gibt.

        Einen fröhlichen Welttag des Buches wünsche ich Dir!

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      2. Dir wünsche ich natürlich auch einen schönen Welttag des Buches!
        Bei Verfilmungen bin ich persönlich grundsätzlich immer erst einmal skeptisch und wenn überhaupt schaue ich solche in der Regel nur, wenn ich vorher das Buch gelesen habe. 😉
        Herzliche und sonnige Feierabendgrüße!

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    1. Dankeschön, Alexander! Das freut mich sehr. Ich sende noch herzliche Grüße an diesem nachdenklich-besinnlich ausklingenden Ostermontag nach Berlin und wünsche Die eine gute restliche Osterwoche! Barbara

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