Vom Nachkommen

Bald ist November. Allerheiligen und Allerseelen sind nah. Mitte des Monats folgen Volkstrauertag und der Totensonntag bzw. Ewigkeitssonntag. Tage, an denen vielerorts traditionell der Verstorbenen gedacht wird. Tage des Gedenkens, des Innehaltens. Doch in der Regel verdrängen wir heutzutage Gedanken an das Sterben und an den Tod. In der modernen Gesellschaft schieben wir das Thema häufig weit weg – ein Tabuthema. Die in Ost-Berlin geborene Autorin Manuela Fuelle, die nicht nur literarisches Schreiben, sondern auch evangelische Theologie studiert hat, hat diesem Thema jetzt jedoch mit „Wir kommen nach“ ein sehr intensives und einfühlsames Buch gewidmet.

Der Roman beginnt auf dem Weg zur Beerdigung von Heide, die im Alter von 82 Jahren nur wenige Wochen nach einer Krebsdiagnose verstorben ist. Ihre Schwiegertochter – studierte Theologin – soll eine Trauerrede halten. Doch es fällt ihr schwer und die richtigen Worte fehlen.

„Darauf bin ich nicht vorbereitet, sage ich, und das ist nur teilweise gelogen. Ich kann jetzt von früher erzählen oder später von jetzt. Ich bin mir inzwischen sicher, alles andere übersteigt meine Fähigkeiten.“

(S.6)

So vieles geht ihr durch den Kopf und im Wechsel zwischen Rückblenden und der Situation kurz vor, während und nach der Beerdigung erfahren wir vieles über die Beziehung zwischen den beiden Frauen. Über ihr Kennenlernen, das Familienleben beider Generationen, die Eheprobleme.

So unterschiedlich die beiden waren, hatte sich doch über die vielen Jahren ein besonderes Band zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter entwickelt. Und so erzählt die Lektüre von einer starken Frau, die sich stets um alle gekümmert hat und ihre eigenen Bedürfnisse häufig hintenanstellte bis schließlich die Kraft zur Neige ging.

„Der Umgang mit Trauernden, mit Toten und das Verfassen von Trauerreden, von Trostreden, das war, wie ich selbst gesagt habe, nichts für mich. Auch der Umgang mit Sterbenden und Schwerkranken nicht, aber ich weiß, dass man das lernen kann und dass sogar ich – trotz dieser ständigen Widerspenstigkeit – schon sehr viel gelernt habe.“

(S.35/36)

Der Roman schildert die Perspektive der Schwiegertochter und ihren großen Verlust, den sie reflektiert und für sich einzuordnen versucht. Doch worauf kann sie in dieser Ausnahmesituation zurückgreifen? Kann sie Halt oder Trost im Glauben finden? In schönen Erinnerungen?

Fuelle beschreibt sehr offen und ehrlich das Gedankenkarussell, das im Trauerfall einsetzt. Die ganze Gefühlspalette, die in diesem Moment zuschlägt.
So kann man auch in der Sprache und Stilistik die Hilflosigkeit herauslesen, denn manche Sätze bleiben unvollendet. Fragmente. Unfertige Sätze der Autorin, die einem unsicheren Stammeln gleichen – ein Ringen um Worte. Um die richtigen Worte.

„All die Literatur, die sich mit Sterben, Tod und Jenseits beschäftigt wird ja erst von uns gesucht und später auch verstanden, wenn es an der Zeit ist.“

(S.31)

Die Hauptfigur wird zur Familienchronistin und übernimmt es, nicht nur das Leben der Schwiegermutter in Worten für die Nachwelt festzuhalten, sondern zugleich auch ihrem Schmerz und Kummer Ausdruck zu verleihen.
Zugleich erzählt sie die Lebensgeschichten zweier Frauen aus unterschiedlichen Generationen, beschreibt, wie sich das Rollenbild und Selbstverständnis der Frau in unserer Gesellschaft über die Jahre verändert hat.

„Wir werden immer an dich denken. Wir werden uns an alles erinnern und uns gegenseitig die Geschichten erzählen, die wir miteinander erlebt haben. Mein Kopf war vollkommen leer, als ich dieses Versprechen gab. Mein Gedächtnis war wie gelöscht.“

(S.44)

Mich hat unter anderem schon der Titel „Wir kommen nach“ länger beschäftigt. In all seiner Mehrdeutigkeit. Denn da sind ja zum einen die „Nachkommen“, die nach dem Tod der geliebten Person zurückbleiben. Die dem Wunsch „nachkommen“, die Erinnerung zu bewahren und die geliebte Person zum Beispiel in Form von erzählten Geschichten weiterleben lassen. Und die eines Tages dann auch selbst die letzte Reise antreten, der geliebten Person folgen bzw. eben „nachkommen“ – wohin auch immer das in der jeweiligen persönlichen Vorstellung vielleicht sein wird.

Und das sind nur einige Fragen, um die Fuelles Buch kreist: Was kommt danach? Und was erwartet die Nachkommen? Wie geht man mit Verlust und Trauer um?

Die studierte Theologin hat einen sehr persönlichen und wunderbaren Roman geschrieben, der versucht, nichts zu beschönigen, nichts klein zu reden. All der Schmerz, die Wut und die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Verlust der Schwiegermutter und Freundin bricht sich Bahn und darf das auch. Und doch blitzt da auch immer wieder ein Fundament auf – Gedanken, die in manchen Momenten Halt geben können. Es ist daher lohnend, sich in einem ruhigen Augenblick diesem nur vermeintlichen Tabuthema zu stellen. Manuela Fuelles Buch kann dafür kluge Denkanstöße geben, aber auch Mut machen und somit das passende Buch für diese Novembertage sein.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Stifter Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Manuela Fuelle, Wir kommen nach
Stifter Verlag
ISBN: 978-3-910227-03-3

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Manuela Fuelles „Wir kommen nach“:

Für den Gaumen:
Heide war ein Familienmensch, fürsorglich und stets für andere da. Dies drückte sie auch im Bekochen der Liebsten aus:

„Und wenn das an einem der Weihnachtsfeiertage gewesen sein sollte, dann aßen wir sicherlich Hirsch, Wildschwein, Ente oder Gans und dazu Rot- oder Grün- oder Rosenkohl und Klöße, und wenn das eher an einem der nachfolgenden Tage geschah, dann Rouladen nach dem Familienrezept und Rotkohl und Kartoffeln oder die weltbesten Königsberger Klopse. Vor- und Nachspeisen und tranken Kaffee und später Likör.“ (S.63/64)

Zum Weiterhören:
Die Musikauswahl bei Beerdigungen ist ein sehr emotionaler Aspekt und es gibt sicherlich Stücke, die immer wieder für diesen Anlass gewählt werden, wie zum Beispiel Bachs „Air“.

„Doch Bach ist eben Bach und Air ist eben Air. Selbst wenn der Verstand einem sagt, oje, nicht schon wieder Air, so ist man beim Anhören des Stücks doch ergriffen. (…) Und wir erheben unsere Herzen wortlos.“ (S.90)

11 Kommentare zu „Vom Nachkommen

  1. Hallo Barbara,

    auch wenn ich vermutlich erst einmal nicht zu diesem Buch greifen werde (die Konstellation Schwiegermutter/Schwiegertochter ist mir sehr fern), bin ich nach und durch deine Besprechung doch am Titel hängengeblieben, der mir wohl noch eine Weile im Ohr bleiben wird. „Wir kommen nach.“ Das ist ja auch eine zärtliche und doch deutliche Erinnerung daran, dass wir alle sterblich sind. Das kann manchmal eine andere Perspektive auf Situationen und Mitmenschen eröffnen und erinnert natürlich auch an Fragen, die wir nur zu gern verdrängen. Ich musste dabei an eine Stelle aus dem Buch von Stefan Schwarz „Bis ins Mark – Wie ich Krebs bekam und mein Leben aufräumte“ denken: „Das enge Herz der Welt wird einmal weit, und blumigere Naturen als ich fragen sich an dieser Stelle, warum wir uns nicht immer wie Todgeweihte (was wir sind, ist nur eine Zeitfrage) behandeln.

    Liebe Grüße

    Anna

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    1. Liebe Anna,
      Es ist schön zu lesen, dass mein Beitrag offenbar etwas angestoßen hat und bei Dir die feine Textstelle (danke fürs Teilen!) wieder zum Klingen bzw. wieder in Erinnerung gebracht hat. Und es ist wunderbar, dass Dich der klug gewählte Titel ebenso berührt wie mich.
      Die Konstellation Schwiegermutter/Schwiegertochter habe ich selbst im Buch nicht unbedingt als das Entscheidende empfunden, vielmehr kann es auch als ein Beispiel für eine generationenübergreifende Freundschaft oder familiäre Beziehung gelesen werden.
      Herzliche Grüße und komm gut durch den Herbst! Barbara

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  2. Liebe Barbara,

    zu den Feiertagen trägst Du eine besinnliche Lektüre bei und passendes Nachdenken über das Nachkommen. Mir fallen noch ein: Nachfolge und „follower“ oder „später nachkommen“ … Mitgefühl für die Schwiegertochter, die eine Traueransprache halten „soll“, wie sie sich müht damit und dazu verhält. Auch abgebrochene, unvollendete Sätze. Die Auswahl der Musik zur Trauerfeier. Du findest wieder feine Gedanken und Zitate, wie auch stimmungsvolle Bilder – und festtägliche Menuvorschläge.

    Danke, Wünsche und Grüße

    Bernd

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    1. Dankeschön, Bernd. Für die Ergänzung bzw. Erweiterung der Gedanken zu diesem Thema.
      Der gestrige Allerseelentag hat uns hier in Niederbayern fast durchgängig Regen und somit ebenfalls viel Zeit zum Nach- und Gedenken beschert.
      Herzliche Grüße, einen guten November und einen ruhigen Start in die neue Woche!

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  3. Liebe Barbara, Bloggerin und meine geschätzte Blogleserin Christiane von „Irgendwas ist immer“ hat mich zu deiner Buchbesprechung geführt. Denn wie jedes Jahr steht die November-Blogakion in unserem Totenhemd-Blog an. Dieses Jahr wird es etwas anders, bunt und vielfältig und nicht mit Datum strukturiert. Ich werde morgen deinen Blogpost gerne rebloggen im Totenhemd-Blog als Anregung und Inspiration. Alleine Deine Gedanken sind schön und inspirierend … die eine oder andere hat schon Interesse bekundet, sich schreibend zu beteiligen. Ich freue mich, dass Du deine Gedanken zum Buch hier genau zur richtigen Zeit mit uns teilst. Ein guter Einstieg in die Novemberzeit.

    Wenn Du bei mir nachliest, wirst du entdecken, dass ich Melles Buch „Haus zur Sonne“ vorgeschlagen habe.

    Lass uns diesen Monat in Verbindung bleiben. 

    Herzlicher Gruß. Petra

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    1. Liebe Petra.
      Herzlich willkommen auf meiner Kulturbowle!
      Schön, dass Du hier vorbeischaust und dank Christianes Hinweis fündig geworden bist.
      Einen guten November und viele Grüße! Barbara

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