Anna Kalthoff (1866- 1932) lebte in Zeiten des Umbruchs. Sie erlebte Krieg, Systemwechsel und die Einführung des Frauenwahlrechts. Sie war das „Fräulein Lehrerin“, doch entschied sich später für die Ehe und dafür, eine Familie zu gründen. Sie wurde Mutter und sie war die Urgroßmutter von Henning Sußebach. In „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ begibt sich der Journalist auf Spurensuche, setzt Puzzlestücke zusammen und füllt die Lücken mit Recherche, zeitgeschichtlichem Wissen und fachlich fundierter Fantasie. Vollkommen zu Recht steht und stand dieses Buch auf den Bestsellerlisten und der Sachbuchbestenliste des Deutschlandfunks.
Viel ist nicht erhalten geblieben von diesem eindrucksvollen Leben der Anna Kalthoff: wenige Erinnerungsstücke, einige Briefe und Dokumente. Es ist nicht viel, was die Jahrzehnte überdauert hat. Doch der Autor und Urenkel nimmt diese Funde als Anlass, sich intensiv mit seiner Vorfahrin und ihrer Zeit auseinanderzusetzen.
„Anna, so erzählen es die Ältesten in meiner Familie, verstieß früh gegen Konventionen und verließ alle Pfade, die für sie vorgezeichnet waren. Sie ergriff Chancen, die sie nicht hatte, und behauptete sich so in einer Epoche, in der eigentlich Männer den Frauen die Plätze zuwiesen. Sie wird nicht die einzige gewesen sein. Wir unterschätzen so viele gelebte Leben. Nahezu jeder Mensch wird dem Treiben der Geschichte einmal die Stirn geboten haben. In jeder Biografie spiegelt sich Weltgeschehen (…)“
(S.9)
Er befragt Verwandte und konsultiert Archive. Dabei macht er erstaunliche Entdeckungen und seine Bewunderung, der Respekt und Dankbarkeit für die Lebensleistung dieser klugen und zupackenden Frau wachsen mit jeder neuen Information, die er seinem Bild hinzufügen kann.
So entsteht nach und nach ein sehr lebendiges Porträt einer unkonventionellen und fortschrittlichen Frau, die emanzipiert war – lange bevor dieses Wort Eingang in den täglichen Sprachgebrauch gefunden hat.
Doch wer war Anna? Im Jahr 1887 tritt sie nach Schul- und Studienzeit im Dorf Cobbenrode im Sauerland im Alter von nur 20 Jahren die Stelle der Dorfschullehrerin an. Lehrerinnen mussten gemäß dem Lehrerinnen-Zölibat unverheiratet sein.
Doch nach einiger Zeit verliebt sie sich. Schließlich gibt sie, nachdem sie beharrlich gewartet und um ihren vier Jahre jüngeren Clemens gekämpft hat, der Liebe wegen ihre sichere Stellung auf, heiratet. Doch das Eheglück währt nur kurz.
Als Clemens durch einen Unfall stirbt, ist Anna schwanger.
„Im Gasthof zur Post, der nach wie vor existiert, habe ich zwischen den Testamenten der Vogelheims und den Fotos, die Annas Leben bebildern, keine Kampfschrift, keinen Aufsatz und kein Gedicht einer Helene Lange, Bertha von Suttner oder Elsa Hielscher-Panten aufstöbern können. Dennoch wirkt Anna in deren Sinne. In der Abgeschiedenheit trägt sie ihren Teil zu den emanzipatorischen Multiples bei. Sie führt ein auf disziplinierte Weise aufsässiges Leben. Sie ist eine Revolutionärin, die alle Verpflichtungen erfüllt, ob als Lehrerin, Gattin, Witwe, Mutter oder Geschäftsfrau.“
(S.118/119)
Es sind harte Zeiten, die Sterblichkeit ist hoch – Krankheiten und Krieg fordern viele Todesopfer. Auch in Annas Familie und näherem Umfeld.
Doch Anna, die nicht nur ihren Beruf und ihren Mann verloren hat, nimmt ihr Schicksal in die eigene Hand. Sie bringt ihr Kind zur Welt, übernimmt das Geschäft ihres Mannes und führt ab dann geschickt und selbstbewusst die Post im Ort.
Sie setzt sich in einer Männerwelt durch und das Leben wird noch so manche Überraschung und Wendung für sie bereithalten.
Sachbuch klingt viel zu trocken, für das, was Sußebach mit diesem Werk geschaffen hat. Denn es liest sich wunderbar flüssig, unfassbar lebendig und ist voller sinnlicher Szenen, Beobachtungen und großartig recherchierter zeitgeschichtlicher Fakten, die bereichern und für so manchen Aha-Moment sorgen.
„Sehen, Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen, Wärme und Kälte, Schmerz. Die sinnlichen Eindrücke, die Präsenz der Natur: Das ist wieder nur die heutige Vorstellung einer damaligen Gegenwart. Jede Rückschau geht aus von einem Standpunkt in Raum und Zeit, der wieder den Blickwinkel beeinflusst.“
(S.123)
Der Autor, der ZEIT-Redakteur ist und bereits mit renommierten Preisen wie unter anderem dem Theodor-Wolff-Preis und dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet wurde, weckt die Neugier seiner Leserschaft, vielleicht auch selbst mal ein wenig Ahnenforschung zu betreiben. Doch wieviel wissen wir wirklich von und über unsere Urgroßeltern?
„Es gibt eine Metapher, die den Beitrag der Annas unter unseren Ahnen besser abbildet, als das Motiv eines scheinbar mühelos wachsenden Baumes. Ein Sinnbild, das Lasten und Schmerzen nicht auslässt. Es ist ein uralter Spruch, Ursprung unbekannt und etwas in Vergessenheit geraten, so wie uns das Bewusstsein dafür verloren gegangen ist, dass wir ohne die Ideen, den Mut und das Durchhaltevermögen unserer Vorfahren heute nicht das Leben, die Rechte, die Freiheiten und Möglichkeiten hätten, die wir haben und die uns manchmal allzu selbstverständlich erscheinen. Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen. Und auf denen von Riesinnen.“
(S.142)
Sußebach hat mit großer Feinfühligkeit ein sehr wertschätzendes und liebevolles Buch über seine Urgroßmutter und über eine starke, bewundernswerte Frau geschrieben, die ihrer Zeit sicherlich weit voraus war.
Stilistisch wie sprachlich brillant und zudem äußerst einfühlsam ist so ein Text entstanden, der nicht nur eine Lebens- und Familiengeschichte, sondern auch sehr viel historisch-zeitgeschichtlich Interessantes erzählt.
Hochintelligent verbindet der Autor die private Familienbiografie mit einem klugen Blick auf das große Ganze und soziale Entwicklungen – bis hin zu einem kritischen Hinterfragen unser heutigen Gesellschaft.
Gerade in diesen lauten Zeiten, sind es solche leisen, feinen und durchdachten Leseperlen, die besonders wohltuend sind. Für alle, die ihre Weihnachtseinkäufe noch nicht erledigt haben und Kurzentschlossene, die noch auf der Suche nach einem Lektüre- oder Geschenk-Tipp sind, möchte ich hier eine große Empfehlung aussprechen, die von Herzen kommt. Perfekt auch für alle, die zwischen den Jahren das Lesejahr nochmal mit einem echten Glanzlicht ausklingen lassen möchten.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim C.H.Beck Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Henning Sußebach, Anna oder: Was von einem Leben bleibt
C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-83626-8
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Henning Sußebachs „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“:
Für den Gaumen:
Auch die Essgewohnheiten haben sich mit der Zeit stark verändert:
„In nord- und mitteldeutschen Landarbeiterfamilien isst ein Erwachsener zwischen 500 und 800 Kilogramm Kartoffeln pro Jahr, das Zehnfache der heutigen Menge. Hinzu kommen Brot und Mehlsuppen, Eier, Fleisch und Milch sind Luxusprodukte, Tomaten und Reis nahezu unbekannt, Mehlspeisen wie Spätzle nur im süddeutschen Raum verbreitet.“ (S.144)
Zum Weiterschauen:
Die Buchgestaltung bzw. das Umschlagbild finde ich bei „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ebenfalls ausnehmend gelungen. Verwendet wurde ein Bild des französischen Malers Léon Giran-Max (1867 – 1927) mit dem Titel „Frau in einem Mohnfeld“ – in meinen Augen ein zauberhaft schöner Farbverlauf.
Zum Weiterlesen:
Ursula März – eine Kollegin Sußebachs bei der ZEIT – hat vor einigen Jahren mit „Tante Martl“ ebenfalls ein Buch über eine Familienangehörige und Lehrerin geschrieben. Auch ihr Buch mochte ich sehr und habe es bereits hier auf der Bowle vorgestellt.
Ursula März, Tante Martl
Piper
ISBN: 978-3-492-31682-8
Schön und auch lehrreich sind solche Spurensuchen vor allem, wenn es um eigene Verwandte bzw Vorfahren geht. Klingt verlockend.
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Dankeschön, freut mich, wenn ich die Neugier wecken konnte. Ich fand das Buch großartig und habe es sehr gern gelesen. Eine echte Lesperle in diesem Jahr!
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