Arno Geiger zeichnet in seinem Roman „Unter der Drachenwand“ ein intelligentes und gefühlvolles Stimmungsbild des Jahres 1944 – der Spätphase des zweiten Weltkriegs. Die Menschen sind kriegsmüde und zermürbt und vor allem die junge Generation, die durch den Krieg um die unbeschwerten Jugendjahre betrogen wurde, bekommt im Roman des Österreichers – und Gewinner des Deutschen Buchpreises 2005 (für „Es geht uns gut“) – eine Stimme.
Bei diesem Roman handelt es sich um einen meiner „Regalschlummerer“ – so nenne ich Bücher, die schon seit längerem in meinem Regal auf den richtigen Zeitpunkt warten, gelesen zu werden. Der offizielle Fachbegriff ist wohl „Backlist“-Lesen oder auch „SUB-Abbauen“ (Stapel ungelesener Bücher), aber für mich und meinen Blog möchte ich solche Bücher zukünftig auch immer wieder als meine „Regalschlummerer“ vorstellen. Seit Sommer letzten Jahres (gleich nach Erscheinen der Taschenbuchausgabe) stand das Buch schon bei mir und jetzt war wohl der richtige Moment dafür gekommen.
Mondsee, ein idyllischer Ort in der Nähe von Salzburg – ein See umgeben von Bergen (wie z.B. der Drachenwand aus dem Buchtitel) ist der Schauplatz für Geigers Roman. Dort treffen Menschen mit unterschiedlichsten Schicksalen und aus verschiedensten Richtungen aufeinander. Der junge Soldat Veit Kolbe versucht, sich dort von seiner körperlichen wie seelischen Kriegsverletzung zu erholen. Die Zeit an der Front hat ihre Spuren hinterlassen und so versucht er, die Zeit der Genesung – bevor er wieder zurück in den Krieg ziehen muss – so lange wie möglich hinauszuzögern. In seinem einfachen Quartier trifft er auf die junge Mutter Margot, die es aus Darmstadt ins ruhige Mondsee verschlagen hat. Mit ihrer wenigen Monate alten Tochter wartet sie dort auf ein Lebenszeichen und die Rückkehr ihres Mannes, der ebenfalls im Krieg kämpft und seine kleine Tochter nicht aufwachsen sieht.
Am Ort gibt es ein Jugendlager für verschickte Mädchen und die junge Lehrerin Margarete hat alle Hände voll zu tun, die Gruppe Heranwachsender zu beaufsichtigen und im Zaum zu halten. Doch plötzlich verschwindet ein frühreifes Mädchen aus den Reihen ihrer Schützlinge spurlos. Die ganze Dorfgemeinschaft ist erschüttert und beteiligt sich an der Suche.
Jede der Figuren hat ihre eigene Geschichte und für sie wird der beschauliche Rückzugsort Mondsee ein schicksalshafter Ort, an welchem sie die Endphase des Krieges im Jahre 1944 erleben und abwarten. Es herrscht eine Atmosphäre des Wartens, der Angst, aber auch des Hoffens, der unselige Krieg möge bald enden.
Veit, der durch seine Verwundung und Erfahrungen im Kriegsgeschehen schwer traumatisiert ist und sich nur mit Medikamenten durch den Tag retten kann, findet in einem brasilianischen Gärtner, der in einem Gewächshaus Orchideen und Gemüse anbaut und nachts nicht schlafen kann, weil er das Gewächshaus heizen muss, einen Vertrauten und jemanden, mit dem er sprechen kann.
Mondsee ist für Veit ein Ort, an dem er fernab vom Kriegsgeschehen, ein klein wenig Normalität erfahren kann und mit Margot und der kleinen Lilo sogar wieder fast so etwas wie ein Familienleben führt. Und doch ist da die Trauer über die Kriegsjahre als verlorene Zeit und die Tatsache, dass man nie mehr der selbe Mensch sein wird als zuvor. Veit muss sich erst wieder einen neuen Platz im Leben suchen. Und immer noch ist da die Angst, wieder an die Front zurück geschickt zu werden.
In Briefen der Angehörigen kommt auch das Schrecken und das Leid an anderen Orten – Wien, Darmstadt, Ungarn – zum Ausdruck und so entsteht ein Bild dieser Zeit, das eindrücklich und berührend die Not und den Schmerz der Menschen schildert.
Zentral und besonders eindrücklich waren für mich die lähmende Angst und das Warten – die Schockstarre – der Menschen: Warten auf das Kriegsende, Warten auf Nachricht von den Angehörigen, Warten auf die Rückkehr des Ehemanns, Warten auf ein besseres Leben… dieses Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins und der verlorenen Zeit war für mich die große Klammer des Romans.
Was machen sechs endlos lange Jahre des Krieges mit den Menschen? Welche Überlebensstrategien entwickeln sie? Welche Traumata tragen sie davon? Und wie kann es gelingen, nach vorne zu schauen und dem Leben wieder ein wenig Glück abzutrotzen? Auf diese Fragen sucht Geiger mit seinen Figuren in „Unter der Drachenwand“ eine Antwort.
„Wenn man sich selbst kein Glück bereitet, ist man verloren.“
(S.300)
Und so wünschen sich diese jungen Menschen nicht mehr als Frieden und ein kleines Glück, um zur Ruhe zu kommen und unbehelligt von Schrecken und Krieg einfach nur leben zu können. Diese Sehnsucht nach den einfachen Dingen und einem glückenden Leben – in Geigers Worten und seiner Art zu Erzählen – hat mich sehr bewegt.
„Ruhig wird man erst, wenn man geworden ist, wer man sein soll.“
(S.473)
Ein berührendes Buch, das anhand persönlicher Schicksale im Kleinen, ein großes Stimmungsbild der Kriegsmüdigkeit im Jahre 1944 zeichnet – großartige Literatur, die aufwühlt und zum Nachdenken anregt.
Buchinformation:
Arno Geiger, Unter der Drachenwand
dtv Literatur
ISBN: 978-3-423-14701-9
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Wozu inspirierte mich „Unter der Drachenwand“:
Für den Gaumen:
Eine frische Tomate vom eigenen Strauch gepflückt, am besten noch warm von der Sonne – oft sind die einfachen Dinge die besten.
Für die Ohren:
In die Zeit und die Stimmung des Romans passt für mich die Musik der Comedian Harmonists und vor allem das Stück „Irgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bisschen Glück“ – als Ausdruck der Hoffnung darauf, dass man nach dem Krieg wieder seinen Platz im Leben findet.
Zum Weiterlesen:
Ein weiterer eindrücklicher Roman aus der Endphase des zweiten Weltkriegs, der sich literarisch einem anderen, grausamen Kapitel des Krieges widmet, ist Roman Rauschs Roman „Bombennacht“, der die Stunden vor und nach der Bombardierung Würzburgs am 16. März 1945 beschreibt.
Roman Rausch, Bombennacht
Echter Verlag
ISBN: 978-3-429-03885-4
2 Kommentare zu „Suche nach dem kleinen Glück“