Tim Krohn nimmt uns mit seinem neuen Roman „Die heilige Henni der Hinterhöfe“ mit ins Berlin des ersten Weltkriegs und der Zwanziger Jahre. Eine unterhaltsame Zeitreise mit einer liebenswürdigen Hauptfigur, die mein Leserherz höher schlagen lässt.
Henni – geboren 1902 – ist eine waschechte Berliner Göre. Ihr junges Leben ist geprägt von Einfachheit, Armut, dem ersten Weltkrieg und man könnte sagen, sie hat es nicht leicht. Und doch ist dieses junge Mädchen ein Stehaufmännchen, bewahrt sich ihre kindliche Naivität und geht mit einem unbändigen Lebenswillen und einer ungezügelten Lebensfreude jeden Tag hinaus in die Welt – besser gesagt ins turbulente Berlin – und macht das Beste daraus.
Fasziniert von Tanz und Theater will Henni Künstlerin werden, aber sie wird vor allem eines: eine erfolgreiche Lebenskünstlerin. Der Traum vom Ballett beginnt zunächst mal im Nachtclub als Nackttänzerin und Animierdame – Tanz ist das immerhin auch und Henni merkt, dass sie mit den Waffen einer Frau zumindest „Onkel Reimann“ von ihren Qualitäten überzeugen kann. Sie steigt auf zur Vorführdame für Unterwäsche im Kadewe, entdeckt den Jazz für sich und bekommt vom „Onkel“ eine eigene kleine Bude im Scheunenviertel finanziert. Sie schlägt sich durch mit Charme, Witz und Schlagfertigkeit. Sie weiß sich zu helfen und wenn ihr das Leben wieder einen Schlag verpasst, duckt sie sich weg und sucht sich einen Ausweg.
Die Heldin manövriert sich mit pragmatischem Geschick und Berliner Schnauze durch das politische Wirrwarr der Nachkriegszeit in der Hauptstadt. Sie begegnet Kommunisten, Sozialisten, Nazis und Künstlern – doch lassen sie auch all die Sprüche und Parolen weitgehend unbeeindruckt.
„Schön, Revolte“, sagte sie. „Aber Revolte wohin? Was soll denn nachher sein, wenn das Alte weg ist?“ „Na, Freiheit.“
(S.85)
In zahlreichen anekdotisch anmutenden Szenen lässt Tim Krohn ein atmosphärisches Milieu und eine turbulente, faszinierende Zeit vor den Augen des Lesers entstehen. Seine Art zu schreiben zeichnet sich für mich durch viel Liebe zu stimmigen Details und vor allem zu seinem Romanpersonal aus. Der Autor hat ein Händchen für das Zeichnen von Figuren – gerade wenn sie oft bewusst etwas Überzeichnetes haben und wie Karikaturen anmuten. Witzig ist das, wenn zum Beispiel der „rote Bruno“ – ein Fahrradmechaniker – Henni’s Bruder während und anhand einer Fahrradreparatur den Kommunismus und die Welt erklärt.
Diese Zeit nach dem ersten Weltkrieg war ein wahrer Schmelztiegel von Weltanschauungen, politischen Gesinnungen und künstlerischen Strömungen. Das kommt im Roman sehr gut zur Geltung. Aufstieg und Fall lagen stets nah beieinander.
Tim Krohn erzählt das in einem schnoddrigen Plauderton, der selbst schwere Schicksalsschläge und brutale Gewalt mit ironisch-zynischem Tonfall vermeintlich leichtfüßig am Leser vorbeiziehen lässt. Das ist stellenweise makaber, aber trotz aller Flapsigkeit nicht entwürdigend oder respektlos. Obwohl man beim Lesen doch hin und wieder schlucken muss, behält der Roman seine positive Grundstimmung und seinen humorvollen Klang.
Ich habe neue Wörter wie „Schmackeduzchen“ oder „Penunse“ kennengelernt, bin gedanklich in die damals einschlägigen und legendären Lokale wie Clärchens Ballhaus oder das romanische Café eingekehrt – eine amüsante Zeitreise, die mir Tim Krohn hier beschert hat. Schräge Figuren, witzige Dialoge und dennoch viel Wahres und geschichtlicher Hintergrund, der gut recherchiert und unterhaltsam in diesem Roman verpackt ist – das wahre, pralle Leben auf nur 250 Seiten.
Mein Herz hat Henni im Sturm erobert und wenn einem auch manchmal das Lachen im Hals stecken bleiben könnte, habe ich mich beim Lesen köstlich amüsiert.
Und vielleicht ist das auch eine Quintessenz aus dem Roman: All die Widrigkeiten des Lebens sind doch mit Humor und einem Lachen viel leichter zu ertragen.
Buchinformation:
Tim Krohn, Die heilige Henni der Hinterhöfe
Kampa
ISBN: 978 3 311 10026 3
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Die heilige Henni der Hinterhöfe“:
Für den Gaumen:
In Hennis Familie kommt als Essen für die Seele „Latkes mit Apfelmus und saurer Sahne“ auf den Tisch. Das sind in anderen Worten Kartoffelpuffer oder wie es in meiner Heimat heißt: Reiberdatschi. Eine Inspiration, die ich gerne aufgegriffen habe, da ich das mag und schon lange nicht mehr gegessen habe.
Zum Weiterhören:
Ich habe gelernt, dass es für Lieder mit den bestechenden Titeln wie „Mein Papagei frisst keine harten Eier“, „Ich reiß’ mir eine Wimper aus und stech‘ dich damit tot“ oder „Tante Paula liegt im Bett und isst Tomaten“ sogar eine eigene Genre-Bezeichnung gibt: Nonsense-Schlager. Diese Musik der Zwanziger und Dreißiger Jahre ist unter anderem vom Jazz geprägt, macht – oft auch aufgrund der unsinnigen Texte – gute Laune und passt für mich daher wunderbar zum Buch.
Zum Weiterlesen:
Klar denkt man bei diesem Titel sofort an Bertolt Brecht „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“. Und dieses Drama knüpft nahtlos an die Zeit an, die Tim Krohn in seinem Roman beschreibt, denn es ist während der Weltwirtschaftskrise 1929/1930 entstanden. Warum also nicht einmal wieder zu einem Klassiker greifen – bei mir war Brecht’s heilige Johanna vor vielen Jahren Schullektüre und steht – mit zahlreichen Notizen versehen – noch in meinem Regal.
Bertolt Brecht, Die heilige Johanna der Schlachthöfe
Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-10113-1
Ein Kommentar zu „Zeitreise mit Henni“