Brüder am Abgrund

Mattia Insolia hat 2020 mit seinem Roman „Die Hungrigen“ (Originaltitel: Gli affamati) ein bemerkenswertes Debüt in Italien hingelegt, das nun endlich auch in einer deutschen Übersetzung von Martin Hallmannsecker vorliegt und jetzt sicherlich auch das deutschsprachige Publikum berühren und bewegen wird.

Kurze Sätze, scharf, geschliffen, ein Paukenschlag gleich zu Beginn und sofort ist man mitten im Geschehen. Puh, was für ein erstes Kapitel. Starker Tobak, tiefer Schmerz und man möchte sofort mit den Figuren weinen.

„Camporotondo war ein undefinierbares Stück Land, das die Leute um jeden Preis zu verlassen versuchten, und wer blieb, schämte sich dafür. Dafür, sein Leben hier fortzusetzen. Es fehlte an allem. Luft, Licht, Raum für die Hoffnung, dass etwas Unerwartetes geschieht; ein Hühnerstall, ein Fegefeuer auf Erden.“

(S.18)

Insolia erzählt in „Die Hungrigen“ die Geschichte zweier Brüder in einem süditalienischen Dorf. Sie hausen zu zweit in einem heruntergekommenen Haus, der 22-jährige Paolo arbeitet als einfacher Hilfsarbeiter unwillig und lustlos auf dem Bau und hat ständig Stress mit seinem Vorgesetzten. Antonio ist drei Jahre jünger, gerade mit der Schule fertig und hat keine Ahnung, wie es für ihn weiter gehen soll. Eltern, die sich kümmern, gibt es nicht.

„Dieser Tag hatte gerade erst begonnen und schon hatte es sich die Welt mit Paolo verscherzt.“

(S.9)

Paolo ist wütend, zornig und immer auf Krawall gebürstet. Er eckt ständig und überall an. Meist reichen Kleinigkeiten, um ihn zum Explodieren zu bringen. Er verkehrt in den falschen Kreisen und verliert sich in einem Strudel von Gewalt und Kriminalität.

„Er fühlte sich, als stünde er auf einer Mine. Als werde er sein ganzes Leben auf derselben Stelle verbringen, gefangen in einer unbequemen Haltung. Und wenn er sich auch nur ein bisschen bewegte, würde alles in die Luft fliegen.“

(S.16)

Antonio – der Jüngere ist der Sensible der beiden. Er sehnt sich nach Liebe und träumt von einem anderen Leben, sucht Trost in der Literatur. Doch als die Aussicht und die Chance auf eine Besserung eintritt, verliert er die Courage.

„Jeder ist nur das, was er zu verlieren hat, und alles, was Antonio auf dieser Welt hatte, war sein Bruder.“

(S.51)

Mehr schlecht als recht schlagen sich die beiden durch ihren Alltag, der geprägt ist von Armut, Elend und Perspektivlosigkeit – zwei Brüder am Abgrund und stets kurz davor endgültig abzustürzen. Alleingelassen, hilflos, aussichtslos.

„Sie hätten gerne miteinander gesprochen. Beide. Aber das Schweigen, zu dem sie sich gegenseitig erzogen hatten, war ihnen so zur Gewohnheit geworden, dass sie nicht gewusst hätten, wo sie überhaupt anfangen sollten.“

(S.97)

Es ist genau diese Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit Gefühle auszudrücken, die Unbeholfenheit der Brüder im Umgang miteinander und mit ihrem Umfeld, die mich zutiefst getroffen und traurig gestimmt hat. So kann der Hunger nach Liebe und Anerkennung nicht gestillt werden und schlägt um in Frust, Wut und rohe Gewalt.

Auf engstem Raum – gerade einmal 200 Seiten – erschafft Mattia Insolia einen Ort und eine Atmosphäre, die einem selbst beim Lesen den Atem nimmt. Pure Emotionen: die Wut, die Perspektivlosigkeit, die Trostlosigkeit, die verzweifelte Suche nach Liebe und Zuneigung – das ist so konzentriert und dicht beschrieben, dass man sich gar nicht distanzieren kann. Man leidet mit den beiden und der Schmerz geht tief unter die Haut.

Sensiblen Menschen würde ich dieses Debüt nicht empfehlen. Der Roman ist wahrlich nichts für Zartbesaitete, denn Insolia schreibt schonungslos und brutal, er erspart seiner Leserschaft nichts. Drastische Gewaltszenen, große Brutalität, sadistische Qualen, das muss man aushalten können und das Buch hinterlässt zweifelsohne Spuren, beschäftigt noch lange nach der Lektüre und tut weh.

Woher kommt diese unbezähmbare Wut? Warum diese verheerende Gewalt?
Und doch findet man in diesem Debütroman auch Erklärungen und Antworten, erhascht einen Blick ins Seelenleben der jungen Leute und versucht, die beiden zu verstehen.

Die Geschichte der Brüder Paolo und Antonio ist herzzerreißend und es ist atemberaubend, in welch ausdrucksstarker Sprache – stark, intensiv und schmerzhaft – der 25-jährige Italiener diesen Debütroman verfasst hat.

Ein starker, aufrüttelnder Roman über Armut, Trostlosigkeit, Perspektivlosigkeit der Jugend und das Abdriften in Gewalt und Kriminalität – wichtige Botschaften, die sich der in Catania geborene Autor gleichsam von der Seele geschrieben hat. Große Literatur und eine neue, junge, italienische Stimme, von der man hoffentlich noch viel hören und lesen wird!

Mit Mattia Insolia’s „Die Hungrigen“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „22 für 2022“ erfüllt – Punkt Nummer 17) auf der Liste: Ich möchte einen Debütroman lesen. Ein unglaublich eindrucksvolles und eindringliches Debüt eines 25-Jährigen, das man so schnell nicht vergessen wird.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Karl Rauch Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Mattia Insolia, Die Hungrigen
Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker
Karl Rauch
ISBN: 978-3-7920-0269-8

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Mattia Insolia’s „Die Hungrigen“:

Für den Gaumen:
Einer der Brüder liebt Käse, der andere nicht. So landen sie dann häufig doch bei der Kompromisslösung: Pizza.
Allerdings läuft mir bei folgender Beschreibung auch das Wasser im Mund zusammen:

„Der Conad in der Via Rea war der größte Supermarkt in Camporotondo und hatte eine Käsetheke, bei deren Anblick Antonio in Verzückung geriet.
Asiago, Fontina, Taleggio, Mozzarella, Provola, Stracchino, Robiola.
Er hätte sich nur davon ernähren können, aber sein Bruder mochte Käse nicht.“

(S.16/17)

Zum Weiterlesen (I):
Wer sich für italienische Literatur interessiert, der kam natürlich in der letzten Zeit vor allem an Elena Ferrante’s Neapolitanischer Saga nicht vorbei und auch ich zählte zu den Begeisterten, die sich bereits vor dem Erscheinungstag immer schon auf den neuen Band freuten. Während Insolia auf gerade mal 200 Seiten einen kurzen Zeitraum im Leben männlicher Jugendlicher aus Süditalien erzählt, so beschreibt Ferrante in vier Bänden und auf deutlich über 2000 Seiten ausführlich die Lebensgeschichten zweier Freundinnen aus Neapel.
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand die Saga noch nicht kennt und sie kennenlernen möchte.
Der erste Band ist folgender:

Elena Ferrante, Meine geniale Freundin
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Taschenbuch
ISBN: 978-3-518-46930-9

Zum Weiterlesen (II):
In „Die Hungrigen“ hat der Roman „Stoner“ von John Williams eine besondere Bedeutung. Ich kann mich noch gut erinnern, als das Werk vor einigen Jahren wiederentdeckt und ins Deutsche übersetzt wurde. Gedanklich wanderte es bereits damals auf meine Merkliste, aber irgendwie habe ich es bis heute noch nicht geschafft, den Roman zu lesen.

John Williams, Stoner
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
dtv
ISBN: 978-3-423-14395-0

5 Kommentare zu „Brüder am Abgrund

  1. Hallo, liebe Barbara,
    während mich Geschichten von Brüdern und Hungrigen ansprechen, vertraue ich doch auch deiner Gewalt-Warnung.
    Im „Stoner“ von John Williams gibt es zunächst auch heftige Rückblicke auf den Zweiten Weltkrieg, dann wiederum auch eine lesenswerte Geschichte von Lesen und Lernen und Lieben.
    Friedliche Grüße
    Bernd

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Bernd,
      danke für Deine Eindrücke zu „Stoner“ – mal sehen, ob ich dieses Projekt irgendwann angehe. Aktuell warten noch (zu 😉 ) viele andere Bücher, die vorher gelesen werden wollen. Ebenso friedliche Grüße zurück nach Nürnberg! Barbara

      Gefällt 1 Person

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