Ein Buch in die Hand nehmen, es sich bequem machen und die Reise beginnt: Es geht ab nach Italien mit zwei Büchern, die sofort Lust auf das Land machen und den Zauber spürbar werden lassen: Tim Parks’ „Der Weg des Helden – Auf den Spuren Garibaldis von Rom nach Ravenna“ und Stefan Ulrich’s „Und wieder Azzurro – Die geheimnisvolle Leichtigkeit Italiens“.
Und obwohl sich die gewählten Routen und die Art des Reisens bei beiden doch deutlich unterscheiden, vereint beide Autoren die große Faszination und Liebe zu ihrer Wahlheimat (im Fall von Tim Parks) bzw. der ehemaligen Heimat auf Zeit (im Falle des früheren Rom-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung Stefan Ulrich).
Tim Parks machte sich im August 2019 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Eleonora Gallitelli auf eine 30-tägige Wandertour, um den Weg, den Giuseppe Garibaldi und seine Frau Anita im Jahr 1849 mit ihren Anhängern auf ihrer Flucht aus Rom zurücklegten, nachzugehen: Zu Fuß – lediglich mit Rucksäcken und Wanderstöcken – eine körperliche und psychische Herausforderung und eine ganz besondere Erfahrung.
„Garibaldini lautete der Name, den die Italiener den Männern gaben, die freiwillig mit Garibaldi in den Kampf zogen. Man war sich einig, dass sie alle vom selben Schlag waren. Schon bald wurde der Begriff aus seinem spezifischen historischen Kontext herausgerissen und bezeichnete ganz allgemein Personen, die kühn und idealistisch sind, die Risiken eingehen, die vielleicht auch naiv, ja unüberlegt handeln.“
(aus Tim Parks „Der Weg des Helden“, S.21)
Basierend auf historischen Aufzeichnungen und Notizen von Zeitzeugen – suchen sie den Weg, aber auch die Beweggründe und die Motivation Garibaldi’s und seines Gefolges. Was bedeutete dieser Fußmarsch, bei dem es galt, den Verfolgern immer einen Schritt voraus sein zu müssen? Welche Schwierigkeiten, Widrigkeiten und Herausforderungen galt es zu meistern?
„Wir reden während der vielen Stunden unterwegs über alles Mögliche, aber ein Thema kommt immer wieder auf: Angst. Die banale Angst vor dem Verkehr, vor Hunden, davor, kein Bett für die Nacht zu finden. Die schwerwiegendere Angst, die alle an ihrem Platz im Leben ausharren lässt: die Angst, keinen neuen Job zu finden, wenn ich den jetzigen kündige, die Angst, nicht genug Geld zu haben, (…) Angst ist der größte Feind der Freiheit.“
(aus Tim Parks „Der Weg des Helden“, S.216)
Und so beschreibt Tim Parks nicht nur die geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1849, sondern setzt sie in direkten Kontext mit seinen Reiseerfahrungen aus dem August 2019. Die vielen, steinigen Kilometer bei hochsommerlichen Temperaturen hinterlassen ebenso Spuren an Körper und Geist, wie die Begegnungen mit den Menschen (VermieterInnen, WirtInnen oder Baristas), die er auf seinem Weg trifft.
„Klar, wenn es das Wort pittoresk noch nicht gäbe, dann müsste man es für die Toskana erfinden. Sie ist unerbittlich schön, und das auf eine äußerst beruhigende Art. Die Landschaft hat nichts von der wilden Rauheit Latiums oder Umbriens. Jedes Foto taugt zur Postkarte.“
(aus Tim Parks „Der Weg des Helden“, S.223)
Die Route führt ihn von Rom über zahlreiche Stationen in kleinen und größeren Orten bis nach Ravenna – stets im bestmöglichen Gleichklang mit Garibaldi’s Reiseroute und Zeitplan von 1849.
„Die heiße Sonne, die diesige Luft und ein allgemeines Gefühl großer Weite führen unterwegs zu einer trägen Benommenheit. Man ist zugleich glücklich und erschöpft. Man möchte, dass die Wanderung ewig weitergeht, und man möchte, dass sie sofort vorbei ist.“
(aus Tim Parks „Der Weg des Helden“, S.373)
Die Lektüre ist nicht nur geschichtlich interessant, sondern auch in hohem Maße unterhaltsam und liest sich herrlich süffig und flüssig: Man lernt die Lasagne-Theorie kennen, bekommt ein aktuelles politisches Stimmungsbild des Landes, leidet mit bei Wespenstichen und Blasen an den Füßen oder der Panik über ein verlorenes Handy. Und man wird Zeuge von vielen interessanten Begegnungen mit Menschen in abgelegenen Agriturismi, beim stärkenden Espresso in der Bar oder dem wohlverdienten Abendessen nach langen Wandertagen.
Ein reiches, bereicherndes und vielseitiges Buch, das viel zu bieten hat und mir sehr gut gefallen hat.
Eine vollkommen andere Reise durch Italien – von Nord nach Süd mit einigen Schleifen und Abstechern – macht der ehemalige Rom-SZ-Korrespondent Stefan Ulrich in „Und wieder Azzurro“. Er möchte für sich die Frage beantworten, warum Italien für ihn – und für viele deutschsprachige Urlauber – bereits von Kindheit an Sehnsuchtsort Nummer eins ist.
„Ein Zauber Italiens geht von seinem Sinn für Farben aus. Vielleicht lautet die Formel für Italien überhaupt so: Farben und Licht.“
(aus Stefan Ulrich „Und wieder Azzurro“, S.93)
Ulrich geht den Faktoren und Ursachen seiner Italienliebe auf den Grund, versucht, diese zu enträtseln und auszuformulieren: Kunst, Kultur, Lebensart, Essen und Trinken, Farben und Licht, die Wärme und die Sprache… und … und … und…
„Ich weiß nicht mehr, wann mich das Italienische gepackt hat, diese vokalreiche, klangvolle Sprache, die so großzügig und sinnenfreudig ist wie das ganze Land.“
(aus Stefan Ulrich „Und wieder Azzurro“, S.108)
Es gibt viele Gründe, Italien zu lieben und so sucht er diese – zunächst gemeinsam mit seiner Tochter, dann mit seiner Frau und später alleine mit dem Auto reisend – an zahlreichen Orten: ob am Brenner, in der Bergwelt Südtirols, in Malcesine am Gardasee, in seiner geliebten Maremma oder in Städten wie Florenz oder Rom, aber auch an traumhaften Stränden, in abgelegenen Dörfern des Südens bis hin nach Sizilien und Trapani als letztem Ziel seiner Reise. Er erfreut sich am Wiedersehen mit Freunden und Bekannten, mit geliebten, altbekannten Orten und entdeckt doch auch neue, unbekannte Seiten des facettenreichen Landes.
Und wieder Mal habe auch ich bei der Lektüre viel gelernt und Neues erfahren: So zum Beispiel, dass Molise das italienische Bielefeld zu sein scheint, dass man Häuser in Italien für einen Euro kaufen kann – jedoch nur, wenn man sie dann auch entsprechend renoviert – oder dass es Mode aus Orangenschalen gibt.
Was mir jedoch bereits vor der Lektüre klar war, dass ich die Faszination für Italien mit Stefan Ulrich teile und er mir mit vielem aus der Seele spricht. Seine Begeisterung und Liebe zu diesem Land und seine reichen, fundierten und intelligenten – jedoch nie abgehobenen – Beobachtungen und Schilderungen fangen den Zauber auf unwiderstehliche Art ein.
Kein Wunder also, dass ich ihn nur zu gerne auf seiner Reise begleitet und mich jeden Abend aufs Weiterlesen gefreut habe. Ein Buch für Genießer. Und schon alleine die Literaturliste gibt wieder so viele Anregungen zum Weiterlesen und Weiterschmökern, dass es eine wahre Freude ist.
„Dieses satte, leuchtende Blau ist nicht nur die Farbe Marias, sondern auch Italiens. Wer an Italien denkt, der denkt an dessen blauen Himmel, das Meer, die Trikots der Fußball-Nationalmannschaft oder eben, wie Antonia, an Madonnen im blauen Mantel. Und ist Blau nicht auch die Farbe der Sehnsucht, der Weite, der Harmonie und der Freiheit, alles Empfindungen, die mit Italien verknüpft sind?“
(aus Stefan Ulrich „Und wieder Azzurro“, S.165)
Wer also wie ich gerne wieder einmal ausgiebig in Italiensehnsucht schwelgen möchte, der kann mit diesen beiden Büchern herrliche Lehn- oder Liegestuhlreisen unternehmen ohne sich Blasen an den Füßen laufen zu müssen oder auf der Autobahn im Stau zu stehen. Einfach eines der Bücher schnappen, abtauchen und einen blauen, italienischen Moment genießen!
Buchinformationen:
Tim Parks, Der Weg des Helden
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
Kunstmann
ISBN: 978-3956144851
Stefan Ulrich, Und wieder Azzurro
dtv
ISBN: 978-3-423-35181-2
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich die beiden Italien-Bücher:
Für den Gaumen (I):
Bei den anstrengenden Tagesmärschen durch teils unwegsames Gelände und durch sengende Hitze, hat vor allem die Flüssigkeitszufuhr bzw. das Wasser, aber auch die „Cedrata“, welche sich Tim und Eleonora immer wieder gönnen, meist höchste Priorität. Und da sie sich vegetarisch ernähren freuen sie sich über „mit Reis gefüllte und mit Knoblauch, Minze und Basilikum gewürzte Tomaten, eine römische Spezialität“ (S.49) oder „pici con broccoli“ (S.253).
Für den Gaumen (II):
Dass die Küche Italiens bzw. die typischen Speisen und Getränke auch ein Grund für die Faszination des Landes sind, wird in „Und wieder Azzurro“ schnell klar:
Es wird stets gut gegessen und getrunken, z.B. „Tagliatelle al Tartufo“ oder Rinderbäckchen, bzw. „Guancalino di manzo, in Amarone geschmort, mit hausgemachter Polenta und Kürbispüree“ (S.73) – dazu gerne auch ein Glas Morellino di Scansano.
Zum Weiterhören:
Stefan Ulrich beginnt seine Italienreise im Norden des Landes und kommt da auch mit dem Ladinischen in Berührung – die Gruppe Ganes bietet mit ihren Songs in ladinischer Sprache eine schöne musikalische Gelegenheit, mal in diesen Klang hineinzuhören.
Zum Weiterlesen (I):
Wer Italien lieber mit dem Zug als zu Fuß erkunden möchte, dem kann ich Tim Parks’ amüsantes Buch „Italien in vollen Zügen“ ans Herz legen. Auch dieser Reisebericht der anderen Art ist wirklich unterhaltsam:
Tim Parks, Italien in vollen Zügen
Aus dem Englischen von Ulrike Becker
Goldmann
ISBN: 978-3-442-15953-6
Zum Weiterlesen (II):
Kennen- und schätzen gelernt habe ich Stefan Ulrich durch seine Bücher, die er über seine Zeit als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Rom und Paris verfasst hat. Zum Beispiel die lebendigen und amüsanten Schilderungen der Turbulenzen und des Kulturschocks, den die vierköpfige Familie u.a. in der Anfangszeit in Rom erlebt, sind sehr unterhaltsam zu lesen:
Stefan Ulrich, Quattro Stagioni – Ein Jahr in Rom
Ullstein Taschenbuch
ISBN: 9783548284026
Er selbst hat hingegen auf seiner Italienreise unter anderem den Klassiker schlechthin im Gepäck:
Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise
dtv
ISBN: 978-3-423-12402-7
2 Kommentare zu „Heldenhaft ins Blaue“