MeeresliebhaberInnen und Fans von poetischer, expressiver Literatur aufgepasst: Mariette Navarro’s erster Roman „Über die See“ ist ein außergewöhnliches und intensives Leseerlebnis, das viel Freiheit für persönliche Assoziationen und Interpretationen lässt.
Der Roman macht es mir dieses Mal fast ein wenig schwer, den Inhalt zusammenzufassen, ohne zu viel zu verraten. Doch so viel bereits vorweg: nicht die Handlung macht dieses Buch zu etwas Besonderem oder Unvergesslichem, sondern die Sprache und das inspirierende Element bzw. das Mystische, das von ihm ausgeht.
Deshalb gibt es dieses Mal nur wenige Worte zum Inhalt:
Ein Containerschiff befindet sich auf dem Weg in die Tropen und plötzlich – kurz hinter den Azoren – konfrontiert die Mannschaft, die ausschließlich aus Männern besteht, die Kapitänin mit einem ungewöhnlichen Wunsch. Sie möchten das Schiff kurz stoppen, um im offenen Meer eine Runde zu schwimmen. Ein bislang unvorstellbarer, nie dagewesener Vorgang und zu ihrer Überraschung lässt sie sich darauf ein und gewährt den Kollegen dieses Abenteuer. Sie bleibt als Einzige allein auf dem Schiff zurück und während die Motoren stoppen, die Männer ins Wasser abtauchen und einen unvergesslichen Moment erleben, nimmt ihr Gedankenkarussell immer mehr an Fahrt auf. Kann sie ihrem Instinkt vertrauen oder wird sie ihre Entscheidung bereuen?
„Es ist eine Legende, mein Guter, und seit wann darf man auf einem Schiff keine Legenden mehr erzählen?“
(S.93)
Die Autorin spinnt gleichsam literarisches Seemannsgarn, bei welchem man immer wieder den Wahrheitsgehalt vom Fantastischen unterscheiden muss. Was ist wahr und was spielt sich nur in den Köpfen ab?
Selten habe ich ein Buch gelesen, das meine Gedanken auf solche Weise zum Fließen angeregt und in verschiedenste Richtungen gelenkt hat.
Was ist da nicht alles an Themen auf engstem Raum – wie in einer Schiffskajüte – verborgen und versteckt: da ist die starke Frau, die besonders hart arbeiten muss, um sich im Männerberuf als Kapitänin und als Führungspersönlichkeit gegenüber ihrem männlichen Personal durchzusetzen. Da ist aber auch die Tochter, die dem Vater nacheifert und in seine Fußstapfen treten will.
Ein Grundgedanke, der sich für mich durch den Roman zieht, ist der Gedanke der Freiheit und die Idee, im Hier und Jetzt und im Moment zu leben.
„Sie vergessen ihre Ängste und sind rasch voller Stolz darauf, einen Augenblick völlig frei gewesen zu sein, mutig, stark, athletisch, unbeschwert, glücklich, auserwählt, ausdauernd, einzigartig und lebendig.“
(S.52)
Ein literarisches Experiment, das sehr auf die Gefühlswelt, sowie Elementares und Essenzielles konzentriert ist und klar macht, dass man nicht alles rational begreifen kann. Und so wie plötzlich auf See ein unerklärlicher Nebel aufkommt, so bleibt auch bei der Lektüre so manches hinter Schleiern verborgen, die es zu lüften gilt.
Ohne dass ich es genau benennen konnte warum, spukte mir manchmal Edgar Allan Poe durch den Kopf, vielleicht weil der Roman doch durchaus auch seine mysteriösen und düsteren Momente hat, die einen etwas schaudern lassen und Gänsehaut erzeugen.
„Je näher man den Tropen kommt desto senkrechter und schneller taucht die Sonne abends ins Meer. Bald ist es dunkel, bald wird dieser Tag eine unbequeme Erinnerung sein, die man besser vergisst und dem unbeteiligten Logbuch anvertraut.“
(S.112)
Wohin treibt das Schiff? Ist es führungslos oder noch unter Kontrolle? Und wohin führt die Handlung des Buches? „Über die See“ ist eine mysteriöse und rätselhafte Lektüre – es hat etwas Rauschhaftes, das sich schwer beschreiben lässt.
Mariette Navarro, Dramaturgin und Schriftstellerin, die bisher vor allem Theaterstücke geschrieben hat, ist mit ihrem Debütroman ein fantastisches und sehr sinnliches Buch gelungen, das durch die poetische Sprache lange nachklingt.
In Frankreich wurde das Werk mit dem „Prix Léonora Miano“ ausgezeichnet. Inspiriert wurde die französische Autorin zu diesem Roman, als sie selbst im Rahmen einer Autorinnen-Residenz für acht Tage auf einem Frachtschiff auf offener See mitreiste.
Ein kleines, feines Buch mit gerade einmal 157 Seiten, welches jedoch die grenzenlose Weite des Ozeans vor der Leserschaft ausbreitet und unfassbar großen Raum für persönliche Gedanken und die individuelle Auslegung und Einordnung des Gelesenen bietet.
Ein Buch über die Kraft und Macht der Natur und darüber wie klein wir Menschen sind – nur kleine schwimmende Punkte im riesigen Ozean – der Witterung, der Gewalt der Wellen und den eigenen Gefühlen schutzlos ausgesetzt.
Navarro’s Buch ist grandiose Literatur, in die man genussvoll selbst in einem ruhigen Moment abtauchen, sich von den angenehmen Wogen ihrer melodiösen und poetischen Sprache umspülen lassen und sich für einen Augenblick treiben lassen kann. Ein lebendiger Beweis dafür, dass Literatur Magie entfalten, Gedanken wie eine Meeresströmung in Fluss bringen kann und auf jeden Fall ein ganz besonderes Werk – abseits des Mainstreams – in diesem beginnenden Leseherbst.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kunstmann Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Mariette Navarro, Über die See
Aus dem Französischen von Sophie Beese
Verlag Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-510-0
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Mariette Navarro’s „Über die See“:
Für den Gaumen:
Die Verpflegung an Bord und der kulinarische Aspekt bleibt wie vieles im Nebel und relativ unspezifisch, jedoch erfährt man Folgendes über die Vorlieben der Kapitänin:
„Dabei ist sie es, die abends ein Glas Wein trinkt, immer zur gleichen Zeit. Am liebsten mag sie es, wenn genau in diesem Moment der Regen in Böen an die Scheibe klatscht. Dann löst sie ihre Haare, lässt ihre Kopfhaut atmen. Die Offiziere sind auch da, aber für einen kurzen Moment entspannt sie Schultern und Gesicht.“
(S.15)
Zum Weiterhören:
Bei der Lektüre habe ich mir dieses Mal nichts Musikalisches notiert, allerdings könnte Claude Debussy’s „La Mer“ eine gute musikalische Begleitung zur Lektüre darstellen. Auch hier spiegeln sich die unterschiedlichen Facetten des Meeres in vielen Klangfarben und wecken Assoziationen.
Zum Weiterlesen:
Maritime Lektüre und Romane, die am Meer spielen, ziehen mich immer wieder an. Wer auf der Suche nach einem spannenden Krimi ist, der in jeder Zeile die Brandung, die Wellen und den Ozean atmet, der sollte auch Roxanne Bouchard’s Krimi „Der dunkle Sog des Meeres“ für eine Lektüre ins Auge fassen, den ich bereits auf der Kulturbowle vorgestellt habe:
Roxanne Bouchard, Der dunkle Sog des Meeres
Aus dem Französischen von Frank Weigand
Atrium Verlag
ISBN: 978-3-03882-129-8
Oh, das ist was für mich. Klingt ungemein verlockend !!
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Es ist auf jeden Fall etwas Besonderes. Rätselhaft, mystisch und ein Leseerlebnis der anderen Art! Herzliche Grüße!
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Ich kaufe mir das Buch sofort. Das hört sich nach genau einer Leseerfahrung an, die ich mag, ein auf den Worten und zwischen den Wolken der Bedeutungen getragen Werden! Danke fürs Aufmerksammachen!
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Sehr gerne, ich bin gespannt, wohin es Dich tragen wird und was Du dann auf Deinem Blog berichten wirst! Viel Freude und Genuss bei der Lektüre! Schöne Sonntagsgrüße!
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Habe es mir gerade als Hardcover bestellt. Danke nochmals!
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Gern geschehen, dann wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen!
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Am Mittwoch gab es zu dem Buch einen Beitrag in der „Lesart“ in Deutschlandfunk Kultur. Da fand ich den Roman schon verlockend, was Deine Rezension nun noch gesteigert hat.
Im neuen Newsletter von Axel Hacke geht es übrigens um eine Figur aus „Ein Haus für viele Sommer“, die nun quasi zum Leben erweckt wurde. Das finde ich sehr amüsant.
Einen schönen Sonntag und viele Grüße
Christoph
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Danke für die Tips, da werde ich dann mal nachhören bzw. nachlesen. Ich fand diesen Roman einfach mal erfrischend anders… Dir auch schöne und entspannte Sonntagsgrüße! Barbara
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