Es gibt Bücher, die sich nur schwer in ein Genre oder Schema pressen lassen, weil sie aus dem üblichen Rahmen fallen und Neues wagen: als solches habe ich Angela Steideles „Aufklärung. Ein Roman“ empfunden. Denn es ist nicht nur ein historischer Roman, sondern zugleich ein feministisches Buch mit musikgeschichtlichen Bezügen und satirischen Anspielungen auf unsere heutige Zeit – verpackt in einer Handlung, die im Leipzig des 18. Jahrhunderts und der Epoche der Aufklärung spielt. Kann das funktionieren? Ich finde ja und es war ein wirklich besonderes, anspruchsvolles und zugleich witzig-geistreiches Leseerlebnis.
Wenn einem Buch der Monolog der Marschallin aus dem Rosenkavalier („Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding…“) vorangestellt ist, dann hat es bei mir ohnehin schon einen ziemlich dicken Stein im Brett und kann im Grunde nicht mehr verlieren.
Und auf spielerische, faszinierende Art und Weise ist es der Autorin tatsächlich gelungen, die Grenzen zwischen den Zeiten, zwischen der Vergangenheit und Gegenwart fließen und verschwimmen zu lassen.
Catharina Dorothea Bach (1708 – 1774) ist die älteste Tochter Johann Sebastian Bachs aus seiner ersten Ehe. Sie ist die Erzählerin des Romans und berichtet über ihr Leben im hochmusikalischen Haushalt der Familie Bach, ihre Bekanntschaft und Freundschaft mit der Schriftstellerin Luise Gottsched und das glänzende, blühende Leipzig des 18. Jahrhunderts – ein kulturelles Zentrum voller Musik, Theater und neuer Ideen.
Gleichsam als Antwort und Erwiderung auf die von ihrem Ehemann Johann Christoph Gottsched veröffentlichte Biografie, schildert Catharina Dorothea ihre persönliche Version der Geschichte und ihre Erlebnisse und Wahrnehmung der starken Frau und Persönlichkeit Luise Gottsched.
„Er hatte eine kluge Frau gewollt – nur für die Küche war sie zu schade, Kinder hatte sie noch keine. Einen Versuch war es wert. War sie wert. Fortan durfte Luise bei allen seinen Vorlesungen an der Tür lauschen und mitschreiben. Nur durfte das keiner wissen.“
(S.60)
Es ist spannend zu verfolgen, wie die Tochter Einblicke in die damalige Leipziger Gesellschaft, aber auch den Alltag des Hauses Bach und in das Wirken und Schaffen ihres berühmten Vaters gewährt sowie auch erfahrbar werden lässt, welche Rollen, Aufgaben und welcher Stellenwert den Kindern und weiblichen Familienmitgliedern zugedacht waren.
„Er selbst teilte sich die Nummer 24 zu, Friedemann die 45.
(S.140)
‚Und welche Nummer habe ich?‘
‚Ach, Caro. Gar keine natürlich.‘
‚Wie, gar keine?‘
‚Ehefrauen und Töchter zählt unser Vater nicht auf.‘ “
Besonders gern habe ich die Szenen gelesen, in welchen es um Bachs Musik geht. Steidele beschreibt lebendig das Klingen und Singen im Bach’schen Haushalt bzw. der Musikwerkstatt, in welcher die ganze Familie Noten schreibt, Stimmen setzt, Instrumente spielt, singt und zum musikalischen Gesamtkunstwerk beiträgt. Ein wohl geöltes, bestens funktionierendes, musikalisches Räderwerk, in dem ein Zahn in den anderen greift. Auch die Frauen waren eingebunden und Teil dieses Getriebes: Anna Magdalena – die zweite Ehefrau – war selbst eine hervorragende Sopranistin und auch die Erzählerin des Romans Tochter Catharina Dorothea hatte große musikalische Fähigkeiten.
Auch auf die wichtigsten Werke Bachs wird stellenweise relativ ausführlich eingegangen. So erfährt man Details und Anekdoten zur Entstehungsgeschichte so manchen Werks – auch wenn sich manchmal Fakten und Fiktion mischen – wie zum Beispiel des Weihnachtsoratoriums, der Matthäuspassion, des Wohltemperierten Klaviers oder der Kaffeekantate – und vieler weiterer mehr (mit reichen Fußnoten und den jeweiligen Nummern des Bachwerkverzeichnis versehen, so dass man alles schön auch nachrecherchieren oder -hören kann.)
„Als Sopran gibt man es ja nicht gern zu, aber die Entscheidung, den Alt zu bevorzugen, war goldrichtig. Als Männerstimme hoch, als Frauenstimme tief, steht der Alt quasi über den Geschlechtern und strahlt Güte, Menschlichkeit, Abgeklärtheit, Weisheit aus.“
(S.65)
Zudem stellt Steidele in ihrem Buch ganz klar die Frauen in den Mittelpunkt. Sie erzählt die Zeitgeschichte aus weiblicher Perspektive und im Roman wimmelt es von starken, kunstsinnigen und intelligenten Frauen wie Luise Gottsched oder Christiane Mariane von Ziegler, die aktive Rollen im künstlerischen und gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit einnahmen.
„Aber das geht doch nicht, Mme von Ziegler. Gelehrte Frauen gelten als Abschaum. Sie werden verspottet und verhöhnt. Wir müssen vorsichtig und diplomatisch sein.“
(S.194)
„Nein, wir müssen kämpfen, Mme Gottschedin.“
„Aufklärung. Ein Roman“ ist ein schelmisches Buch mit einem gewissen Schalk im Nacken, das immer wieder auf raffinierte Art und Weise auch unsere heutige Zeit und aktuelle Themen ins Leipzig des 18. Jahrhunderts transferiert: so wird gezwitschert oder im übertragenen Sinn gegendert, man trifft auf Gugl und Wikipedinger. Stellenweise trägt der Text so geradezu satirische Züge.
„Zwitschern Sie noch nicht, Mme Zieglerin? Henrici hat damit angefangen. Er lässt Gedichten auf lose Zettel in kleiner Auflage drucken und in den Häusern abgeben. Um seine Muse hier und dort „zwitschern“ zu lassen, sagt er, und den Alltag mit Poesie zu verschönern.“
(S.206)
Zum Roman gibt es zudem eine Website, die umfangreiches Zusatzmaterial zu Quellen, zitierten Werken und auch eine Playlist der Musikstücke zur Verfügung stellt. Ein weiterer Beleg – wie auch im Buch selbst stets zu spüren – wieviel Aufwand und Zeit die Autorin in ausführliche Recherche und fundierte Quellen investiert hat.
Angela Steidele hat einen außergewöhnlichen und reichen Roman auf nicht ganz 600 Seiten geschaffen, der vielleicht manchmal etwas Geduld und Konzentration erfordert, aber spitzzüngig mit viel Witz und Esprit ein opulentes Zeit- und Sittengemälde Leipzigs und der Aufklärung im 18. Jahrhundert aus der seltenen Frauenperspektive entwirft.
Ein amüsanter und vielschichtiger historischer Roman, der nicht nur Licht auf die erhellende Epoche der Aufklärung wirft – die sich gegen Ende des Buchs jedoch bereits wieder verdüstert – sondern uns gleichermaßen den Spiegel vorhält, indem er auf faszinierende Art und Weise auch viel über unser heutiges Leben erzählt.
Für Bach-Fans, Musikliebhaber und Freunde von gut recherchierten, niveauvollen, historischen Romanen mit einem gewissen Twist bzw. dem gewissen Etwas, sicherlich eine gute Wahl.

Mit diesem Buch habe ich einen weiteren Punkt meiner „22 für 2022“ erfüllt – Punkt Nummer 12) auf der Liste: Ich möchte ein Buch, in dem Musik eine Rolle spielt lesen. Die Werke Johann Sebastian Bachs sind geradezu der musikalische Grundton bzw. das Basso Continuo des Romans und spielen somit eine sehr wichtige Rolle.
Weitere Besprechungen gibt es unter anderem bei Letteratura und Bücheratlas.
Buchinformation:
Angela Steidele, Aufklärung. Ein Roman
Insel
ISBN: 978-3-458-64340-1
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Angela Steideles „Aufklärung. Ein Roman“:
Für den Gaumen:
Mit „Aal in weißer Sardellensauce“ (S.63) kann sich wohl nicht jeder Gaumen anfreunden. Getrunken wird gerne Punsch oder aber Gose, eine Biersorte, die für Leipzig typisch ist:
„Wir fuhren durchs tief verschneite Rosental und kehrten da, wo jetzt das Schloss steht, in einer kleinen Brauerei ein. Was war es bloß, das dieses Bier süffiger als mein eigenes machte? Salz und Koriander, aber auch etwas Unübliches bei der Gärung?“
(S.312)
Zum Weiterhören:
Bach, Bach und natürlich nochmals Bach. Das Buch wimmelt voll musikalischer Anspielungen, Erwähnungen und Hintergrundinformationen zur Entstehungsgeschichte und Eigenheiten der Werke Johann Sebastian Bachs: ob es die Kaffeekantate ist, das Weihnachtsoratorium, die H-Moll-Messe oder die Matthäus-Passion. Der ganze Roman klingt und singt.
Zum Weiterlesen (I) oder für einen Theaterbesuch:
Im Roman wird eine Aufführung von Gotthold Ephraim Lessings „Miss Sara Sampson“ besucht und ausführlich diskutiert.
Im Volkstheater Rostock steht der Klassiker übrigens im Dezember 2022 auf dem Spielplan – für mich leider zu weit entfernt für einen Theaterabend…
Gotthold Ephraim Lessing, Miss Sara Sampson
Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
Reclam
ISBN: 978-3-15-000016-8
Zum Weiterlesen (II):
Bachfans und allen, die sich gerne noch weiter und näher literarisch mit Johann Sebastian Bach beschäftigen wollen, kann ich Jens Johlers Roman „Die Stimmung der Welt“ empfehlen, den ich vor einigen Jahren gelesen habe:
Jens Johler, Die Stimmung der Welt
Alexander Verlag Berlin
ISBN: 978-3-89581-364-1
Ach, was für eine tolle Besprechung. Da geht einem das Herz auf. Nun werde ich das Buch kaufen, ob ich es nun dann bald oder demnächst oder übermorgen lesen werde, spielt dann keine Rolle mehr! Viele Grüße und vielen Dank!
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Dankeschön! Deine überschwängliche Rückmeldung freut mich und es schadet ja vermutlich auch nicht, einen Vorrat an guten Büchern zu Hause zu haben. In der Regel kommt irgendwann für jedes Buch der richtige Moment – oder zumindest für die meisten 😉 Herzliche Wochenendgrüße!
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Hab mich von dieser Buch- Besprechung gerne leselocken lassen.
Danke und viele Grüße
Amélie
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Das freut mich, Amélie. Dann wünsche ich eine interessante, unterhaltsame und musikalisch inspirierende Lektüre! Herzliche Grüße! Barbara
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I had the opportunity to enjoy the Christmas Oratorio in the main cathedral in Verona a few years ago. Happy weekend, Barbara!
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I am sure, that this was a wonderful experience – for me the Christmas oratorio (even if only as recording/CD and not live) is one of the perfect ingredients for festive christmas days. Thanks and a happy weekend also for you, Luisella! Buona notte and greetings to Finland!
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Many thanks. 😊🤗
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Schönen Dank und Gruß!
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Sehr gern geschehen, Bernd. Herzliche Grüße und Dir einen schönen Sonntag!
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Freu mich auch schon sehr auf das Buch. Habe es auf dem Weihnachtswunschzettel und hoffe sehr mein Wunsch wird erhört, sonst muss ich wohl selbst einkaufen 😉
Sehr schöne Besprechung, die meine Freude auf das Buch noch vergrößert hat…. Ich mach jetzt schon mal gleich eine Bach-Playlist an…
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Dann wünsche ich Dir ein braves Christkind, das den Wunschzettel genau und aufmerksam studiert. 🙂
Danke für die schöne Rückmeldung, es freut mich, wenn ich Dir noch zusätzlich Lust auf das Buch machen konnte und Bach geht sowieso immer und in allen Lebenslagen… ganz herzliche Grüße!
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Fand es so schön, dass du gleich noch andere Sinne mit angesprochen hast, ein Rezept, Musik natürlich, andere Bücher. Und auch, wenn ich Aal nicht kochen mag, ein Punsch ist zu dieser Zeit goldrichtig!
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Dankeschön! Das versuche ich eigentlich bei all meinen Beiträgen – quasi wie die Mischung in einer Bowle – Querbezüge zu Kulinarik, Kunst, Musik, anderen Büchern oder anderen Inspirationen zu schaffen, wo immer möglich. Und ja, draußen wird es kälter, dann kann die Punschsaison beginnen. Herzliche Grüße!
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