Die in Nordirland geborene Autorin Maggie O’Farrell hat ihren neuen Roman „Porträt einer Ehe“ einer außergewöhnlichen – wenn auch tragischen – Frau der toskanischen Geschichte des 16. Jahrhunderts gewidmet: Lucrezia de’ Medici, eine Tochter des Cosimo de’ Medici.
Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag in Form einer historischen Notiz:
„Im Jahr 1560 verließ die fünfzehnjährige Lucrezia di Cosimo de’ Medici Florenz, um ihr Leben als Ehefrau von Alfonso II. d’Este, dem Herzog von Ferrara, zu beginnen. Weniger als ein Jahr später war sie tot. Als offizielle Todesursache wurde „Faulfieber“ angegeben. Doch gab es Gerüchte, ihr Mann habe sie ermordet.“
(S.5)
Was für ein Anfang und was für eine fesselnde und packende Geschichte, die O’Farrell diesem Auftakt folgen lässt.
Im 16. Jahrhundert wird an den europäischen Fürstenhöfen nicht aus Liebe geheiratet. Eheschließungen dienen dynastischen Gründen, dem Machterhalt und der Erweiterung des politischen Einflusses. Als ihre Schwester, die dem Herzog von Ferrara versprochen ist, unerwartet stirbt, rückt auf einmal die jüngere Lucrezia in den Fokus und muss die Stelle der Braut einnehmen.
Ein junges Mädchen von gerade einmal zwölf Jahren soll nun einen Mann heiraten, der viele Jahre älter ist als sie selbst und dessen einziges Ziel es ist, schnellstmöglich einen männlichen Erben zu zeugen. Allein die ihr sehr zugetane, liebevolle Kinderfrau Sofia versucht, die Eheschließung mit einer List noch eine Weile hinauszuzögern.
Lucrezia ist begabt, intelligent und so anders als ihre zahlreichen Geschwister. Sie liebt Tiere, ist wissbegierig und hat ein großes Talent für das Zeichnen und die Malerei.
„Sie erinnerte sich an jedes Wort dieser Geschichte, die ihnen der Lehrer vergangene Woche erzählt hatte; so funktionierte nun mal ihr Geist. Wörter drückten sich in ihr Gedächtnis wie eine Schuhsohle in weichen Lehm, der dann trocknete und hart wurde, wodurch der Abdruck für immer erhalten wurde. Manchmal fühlte sie sich so voll, ja übervoll mit Wörtern, Gesichtern, Namen, Stimmen, Dialogen.“
(S.43)
Sie ist fein- und kunstsinnig und zieht sich oft in ihre eigene Welt zurück.
Eine Schlüsselszene in Lucrezias Kindheit ist ihre Begegnung mit einer Tigerin, die im elterlichen florentinischen Palast zur Schau gestellt wird. Ihr Vater Cosimo hat ein Faible für Prunk und exotische Tiere. Völlig unerschrocken berührt das kleine Mädchen in einem unbeaufsichtigten Moment das Raubtier im Käfig. Sie fühlt mit dem eingesperrten Wesen, als ahnte sie schon ihr eigenes Schicksal voraus. Auch sie wird sich später in Ferrara und ihrer Ehe schutzlos ausgeliefert und gefangen fühlen.
„Nur sie weiß, dass sich innen drin, direkt unter ihrer kühlen Haut, etwas ganz anderes abspielt: Flammen lecken lebhaft und tröstend an ihrem Innern, ein Feuer wütet, kracht und schwelt, erzeugt Rauch, der in jeden Winkel dringt, in jeden Fingernagel und in jeden Zentimeter ihrer Glieder.“
(S.298)
Als die Ehe geschlossen wird, ist Lucrezia dreizehn Jahre alt, doch erst mit fünfzehn Jahren wird sie zu ihrem Ehemann nach Ferrara ziehen. Als sich der heiß ersehnte Nachwuchs nicht sofort einstellen will, wächst in Lucrezia die Angst, dass ihr Gatte ihr nach dem Leben trachten könnte.
Maggie O’Farrell beherrscht die Kunst, ihre Leserschaft ganz tief in die Seele und Psyche ihrer Figuren blicken zu lassen. So wächst einem Lucrezia während der Lektüre immer mehr ans Herz und – obwohl das tragische Ende unausweichlich scheint – leidet und fiebert man mit ihr.
Auch O’Farrell zeichnet und malt – wie ihre Hauptfigur und die Künstler, die Lucrezia für die Ewigkeit in ihrer jugendlichen Schönheit festhalten sollen – ein detailreiches, feinsinniges und tiefgründiges Porträt dieser intelligenten, eigensinnigen und kämpferischen jungen Frau, die so sehnsüchtig nach einem Ausweg aus ihrer hoffnungslosen Situation sucht. Und zugleich immer noch ein junges Mädchen ist, das Heimweh hat nach ihrem Elternhaus in Florenz und sich so sehr wünschen würde, sich wieder in den Schutz der Familie Medici stellen zu können.
„Wirklich wissen möchte sie: Regnet es in dieser Nacht in Florenz? Gibt es schon Herbstgewitter? Schwimmt Papa noch im Arno? Schwärmen Schwalben über der Piazza, wenn der Tag zu Ende geht? Fällt das Licht abends immer noch schräg in mein Zimmer, bevor es hinter den Dächern der Stadt verschwindet? Vermisst Ihr mich? Wenigstens ein bisschen? Geht je irgendjemand zu meinem Porträt und stellt sich davor?“
(S.338)
Der gut 460 Seiten starke Roman ist fein komponiert und enorm vielschichtig. Er offenbart immer wieder neue Aspekte im Leben der jungen Frau, die sich Stück für Stück zu einem tiefgründigen Charakter formen. Die wohlbehütete Kindheit an einem reichen Hof, die Erziehung und privilegierte Ausbildung, die sie genießen kann, ihr Verhältnis zu ihren Geschwistern, aber auch zu den Zofen, Dienstmägden und Kinderfrauen, das Heranwachsen zur Frau, der schwere Abschied von Florenz, die Einsamkeit und die zunehmende Angst in ihrer Ehe.
O’Farrell hat erneut – schon „Judith und Hamnet“, für das sie 2020 den Women’s Prize for Fiction erhalten hat, war wirklich grandios – einen herausragenden und sehr besonderen Roman geschrieben. Mit den von ihr gewählten geschichtlichen Stoffen und ihrer unfassbar tiefsinnigen und sinnlichen Art zu schreiben, spielt sie, was historische Literatur anbelangt, in einer eigenen Liga. Denn höchst selten findet man Frauenfiguren, deren Gefühle, Ängste und Gedankenwelt so intensiv, so unmittelbar und mit einer solch authentischen Wahrhaftigkeit beschrieben sind, so dass sie ganz tief im Inneren berühren und sich dauerhaft ins Gedächtnis graben. Ein starkes Buch von einer Autorin, bei der ich mich heute schon auf jedes weitere, hoffentlich noch kommende Werk freue – in mir wird sie eine sichere Leserin haben.
Weitere Besprechungen gibt es bei Feiner reiner Buchstoff und der Klappentexterin.

Mit Maggie O’Farrells „Porträt einer Ehe“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „23 für 2023“ erfüllt – Punkt Nummer 2) auf der Liste: Ich möchte einen historischen Roman lesen. Die Autorin lässt die Zeit der Medici im Florenz des 16. Jahrhunderts wieder lebendig werden .

Buchinformation:
Maggie O’Farrell, Porträt einer Ehe
Aus dem Englischen von Thomas Bodmer
Piper
ISBN: 978-3-492-07176-5
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Maggie O’Farrells „Porträt einer Ehe“:
Für den Gaumen (I):
Auch kulinarisch unterscheiden sich die Vorlieben der Eheleute deutlich – aber auch diesbezüglich bin ich eindeutig auf Lucrezias Seite:
„Anstelle der schweren Fleisch- und Fischgerichte, die Alfonso bevorzugt, bestellt sie Milchpudding, frisches Brot mit salziger Kruste, Feigen, die aufgeschnitten und mit Weichkäse serviert werden, und Aprikosensaft in einem zarten Kelch.“
(S.268)
Für den Gaumen (II):
Wer während eines Toskana-Urlaubs die Gelegenheit bekommt „die weißen Tranchen von lardo crudo“ (S.330) zu probieren, sollte sich diese nicht entgehen lassen. Der weiße Rückenspeck, der aus der Gegend um die Marmorstadt Carrara stammt und dort in Marmortrögen reift, ist eine besondere Spezialität.
Zum Weiterschauen:
Gemälde und Porträts spielen im Roman eine große Rolle – Lucrezia muss Malern Modell stehen. Auf Wikipedia ist das Porträt der „Lucrezia di Cosimo de’ Medici“ von Agnolo Bronzino zu sehen, das auf mich bereits traurig und düster wirkt.
Zum Weiterlesen (I):
Dem Buch vorangestellt ist ein Zitat aus Robert Brownings Gedicht „My last duchess“ – das vollständige Gedicht im Original findet man hier.
Zum Weiterlesen (II):
Das erste Werk der Autorin, das ich im Herbst 2020 gelesen und hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe, hat mich absolut begeistert: „Judith und Hamnet“. Der Roman über die Familie Shakespeares, in welcher vor allem seine Frau im Mittelpunkt steht und in dem unter anderem erzählt wird, welche Auswirkungen der Verlust des Sohnes Hamnet auf das schriftstellerische Schaffen des Dramatikers hat, ist ein großartiges und sehr lesenswertes Buch, das vor allem durch die eindringliche Darstellung der Trauer der Mutter um ihr Kind äußerst ergreifend ist. Eine große Leseempfehlung!
Maggie O’Farrell, Judith und Hamnet
Übersetzt von: Anne-Kristin Mittag
Piper
ISBN: 978-3-492-07036-2
Das Tigerin-Zitat hat mich sehr überzeugt und tiefbewegt … sehr sogar. Ich werde mich dem Buch mal langsam annähern, mal sehen, wie nahe ich ihm komme. Danke für den Tipp!
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Gern geschehen, Alexander. Mir gefällt die Sprache Maggie O’Farrells sehr (übrigens auch grandios übersetzt von Thomas Bodmer), ihre Bilder, ihre faszinierende und eindrucksvolle Art, tief in die Gefühlswelt ihrer Hauptfigur blicken zu lassen. Das findet man in dieser Intensität selten. Viel Freude beim Annähern, herzliche Grüße und ein wunderbares Wochenende mit guter Lektüre! Barbara
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