„Seht mich an“ von Anita Brookner (1928 – 2016) ist ein Roman, der mich aufgrund seiner Klugheit und seines Scharfsinns regelrecht von den Beinen geholt, zugegebenermaßen wirklich überrascht und ins Staunen versetzt hat – eine großartige, wenn auch wehmütige Entdeckung in diesem Bücherfrühling.
Denn die Schilderung der tiefen Einsamkeit einer alleinstehenden Londonerin, die sich nach Liebe, Zuneigung, Aufmerksamkeit und Akzeptanz sehnt, ist tieftraurig, melancholisch und berührend und vor allem aufgrund der Sprache und Stilistik eine herausragende Leseerfahrung. Um so erfreulicher ist es, dass die Werke der preisgekrönten, britischen Autorin jetzt wieder aufgelegt werden und die verdiente Aufmerksamkeit und Würdigung erfahren.
„Weiser ist unter allen Umständen das Vergessen, weiser ist es, sich in der Kunst des Vergessens zu üben. Sich erinnern heißt, dem Feind ins Angesicht zu sehen. In der Erinnerung liegt die Wahrheit.“
(S.5)
Frances Hinton, die Ich-Erzählerin und Hauptfigur, arbeitet in einer wissenschaftlichen Bibliothek. Die Mutter, mit der sie zusammengelebt hat, ist vor kurzem verstorben und jetzt bewohnt sie – gemeinsam mit der ehemaligen, längst pensionierten Haushälterin – allein die altmodische und viel zu große Londoner Wohnung.
Nichts wurde verändert nach dem Tod der Mutter – weder die alten Möbel noch der festgefahrene Speiseplan getauscht. Frances lebt nicht ihr eigenes Leben, sondern scheint das ihrer Mutter fortzuführen.
„Seit dem Tod meiner Mutter habe ich niemanden mehr, mit dem ich über diese Dinge sprechen könnte, keinen, der so interessiert ist, der die Personen kennt und gern wüsste, wie es weitergeht, und dann mit solchem Entzücken reagiert.“
(S.20/21)
Sie beobachtet gerne, sieht genau hin: die Kolleginnen und Kollegen in der Bibliothek, die Besucher, die dorthin kommen. Einzige Freude für sie ist es, zurückgezogen zu Hause, ihre Beobachtungen und Studien in Worte zu fassen, zu schreiben. Das Schreiben wird zu ihrem Anker und ist ihre Strategie gegen die Einsamkeit.
„Das ist der Grund, warum ich schreibe und warum ich schreiben muss. Wenn ich mich von meiner Einsamkeit verschlungen fühle, von ihr versteckt, in Dunkel getaucht und unsichtbar gemacht, dann ist das Schreiben meine Möglichkeit, von mir zu reden. Die Leute daran zu erinnern, dass ich noch da bin.“
(S.25)
Als sie Nick und Alix – die als strahlendes Traumpaar gelten – kennenlernt, blüht sie kurz auf, genießt gemeinsame Abende und Freizeitaktivitäten und klammert sich an die Hoffnung, endlich Freunde, Anschluss und einen Lebenssinn gefunden zu haben. Doch schnell wird die Beziehung überschattet und die vermeintliche Freundschaft driftet ab ins Schädliche.
„Freunde können dein Leben verändern, und wenn du auch weißt, dass sie irgendwo existieren, triffst du sie nicht immer im rechten Augenblick.“
(S.49)
Der Roman ist unfassbar reich an klugen Sätzen, die geradezu dazu einladen, mehrfach gelesen zu werden und die vom scharfen Blick und der hohen Kunst Brookners zeugen, Augenblicke, Stimmungen und Figurenzeichnungen auf den Punkt zu bringen. Glasklare Sätze, die einen ins Mark treffen, hellwach werden lassen, die man sich merken, notieren und mit voller Aufmerksamkeit in Ruhe überdenken will.
„Zuweilen vermitteln einem die beobachteten Szenen und Menschen auf ihre Weise, dass man von ihnen ausgeschlossen bleibt. Und doch, die Faszination des so seltenen Beispiels des vollkommenen Menschen bleibt bestehen und verlangt, dass man die Feder niederlegt und sich an den Gegenstand seiner Bewunderung heranpirscht, ihn studiert, seziert, ihn sich durch Erfahrung aneignet und ihn liebt.“
(S.57)
Man hat die von ihr beschriebenen Charaktere mit all ihren Stärken, Schwächen, Sorgen und Nöten vollkommen lebendig vor Augen – in einer Klarheit und Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht.
Ich ziehe den Hut vor dieser großen Kunst, so treffend und hochintelligent zu formulieren, denn der Roman strotzt vor Scharfsinn und dem untrüglichen Blick einer Autorin, die es perfekt versteht, ihre Beobachtungen und Erfahrungen in die richtigen, perfekten Worte zu gießen.
„Ich wusste, wie unerträglich dies alles war, und ich ertrug es nur, weil mir ein flüchtiger Blick in die Welt draußen vergönnt gewesen war. Ich wollte nur sehen, wie die anderen, die freien Menschen, ihr Leben führten, und dann konnte ich mein eigenes beginnen.“
(S.70/71)
Das Buch geht unter die Haut und lässt zutiefst nachdenklich werden: Der traurige, melancholische Hilfeschrei einer einsamen Frau, sie sich nichts sehnlicher wünscht, als gesehen zu werden und so akzeptiert und geliebt zu werden, wie sie ist. Zugleich auch ein Roman darüber, welch einsames Geschäft das Schreiben sein kann.
Die Sehnsucht nach Freundschaft, Partnerschaft, Geborgenheit und Zuneigung und die Unsichtbarkeit alleinstehender Frauen bzw. die fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft durchzieht das gesamte Buch – es ist gleichsam das Fundament dieser Geschichte.
Kein geringerer als Daniel Schreiber, der in seinem 2021 erschienenen Buch „Allein“ selbst darüber geschrieben hat, was es bedeutet, allein zu leben und wie schnell die Grenze zur Einsamkeit überschritten werden kann, hat ein einordnendes und sehr bewegendes Nachwort verfasst, das interessante Aspekte und weitere Denkanstöße bereithält.
„Seht mich an“ gilt als das persönlichste Buch der Booker Prize-Trägerin des Jahres 1984 (für „Hotel du Lac“), die Kunstprofessorin in Cambridge war, in ihren Fünfzigern zu schreiben begann und selbst alleinstehend in London lebte. Eine bemerkenswerte Lektüre, die es lohnt, die Blicke und die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser auf sich zu ziehen und auch vierzig Jahre nach Erscheinen nichts an Aktualität verloren hat.

Mit Anita Brookners „Seht mich an“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „23 für 2023“ erfüllt – Punkt Nummer 7) auf der Liste: Ich möchte ein Buch aus den 80er Jahren lesen. Die Originalausgabe erschien 1983 in London, die deutsche Übersetzung 1987.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eisele Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Anita Brookner, Seht mich an
Aus dem Englischen von Herbert Schlüter
Eisele
ISBN: 978-3-96161-153-9
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Anita Brookners „Seht mich an“:
Für den Gaumen:
Auch kulinarisch werden die Gegensätze von Frances Umfeld verdeutlicht: während Freundin Alix ihre viel gepriesenen, eher unkonventionellen „berühmten Spaghetti“ (S.44) kocht, gibt es beim Krankenbesuch, den Frances der pensionierten Bibliotheksmitarbeiterin und Vorgängerin pflichtschuldig abstattet, traditionellen „Battenbergkuchen“ mit „hauchdünnen gebutterten Brotscheiben und Marmelade“ (S.89).
Zum Weiterschauen:
In der Bibliothek befasst sich die Hauptfigur des Romans Frances unter anderem mit den Gemälden von Francisco de Goya (vermutlich mit dem Werk „Das Irrenhaus“), dem z.B. auch Lion Feuchtwanger einen Roman gewidmet hat, und von dem sie im Roman konstatiert:
„Ich weiß sehr wenig über Goyas geistige Verfassung, nur so viel, dass sie kaum beneidenswert gewesen sein kann.“
(S.9)
Zum Weiterlesen:
Schon eine Weile liegt auch das mit dem Booker Prize gekrönte und viel gelobte „Hotel du Lac“ von Anita Brookner bei mir zur Lektüre bereit, das ich jetzt wirklich auch endlich bald einmal lesen möchte. Vielleicht begebe ich mich, wenn demnächst die Tage länger und wärmer werden, auf eine Reise an den Genfer See:
Anita Brookner, Hotel du Lac
Aus dem Englischen von Dora Winkler
Eisele
ISBN: 978-3-96161-107-2
Liebe Barbara,
aus der berührenden Lektüre hast Du wieder bemerkenswerte Zitate erlesen.
„Weiser ist unter allen Umständen das Vergessen, weiser ist es, sich in der Kunst des Vergessens zu üben. Sich erinnern heißt, dem Feind ins Angesicht zu sehen. In der Erinnerung liegt die Wahrheit.“ (S.5)
Dies gibt zu denken und zu philosophieren. Vergessen ist wohl eine hilfreiche Funktion des Gedächtnisses. Unter allen Umständen? Und wie ließe sich dies üben? Wie lange wird das Vergessen vorhalten, und wird ihm das Gedächtnis nicht bezeiten einen Strich durch die Rechnung machen? Etwas erinnern, mit Anteilen der Wahrheit, und im besten Fall mit einer neuen Sicht auf das Vergessene. Was wäre dann weise oder weiser: vergessen oder erinnern? Beides?
Danke für Deine Anregungen.
Schönen Sonntag
und herzliche Grüße
Bernd
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Lieber Bernd,
ja, schwierige Fragen und interessant Gedankengänge. Vermutlich ist es nicht erstrebenswert, das Vergessen zu üben. Vielmehr bleibt zu hoffen, dass das menschliche Gedächtnis sortiert und wir ohnehin (aus Selbstschutz) dazu neigen, uns meist (von schweren Traumata sicherlich abgesehen) eher an Schönes zu erinnern. Vielleicht liegt die Kunst darin, das Gedächtnis manches vergessen zu lassen, ohne die Wahrheit zu verlieren.
Herzliche Sonntagsgrüße aus dem schneebedeckten Landshut!
Barbara
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Ein schöner Blogbeitrag, der mein Interesse weckt – ich muss gestehen, ich habe von dieser Autorin bislang noch nichts gehört geschweige denn gelesen!
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Dankeschön! Ich mochte die Stilistik und die klugen Gedanken sehr. Für mich war es das erste Werk der Autorin, das ich gelesen habe, aber sicher nicht das letzte. Meine Neugier ist jetzt nochmal um so mehr geweckt und „Hotel du Lac“ liegt wie erwähnt auch schon auf meinem Stapel bereit – aber auch das Debüt „Ein Start ins Leben“ klingt sehr vielversprechend. Herzliche Sonntagsgrüße!
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