Finnlands offene Weite

Schon der Titel hat etwas Poetisches und Sinnliches: „Sie flogen nachts“.
Wer flog nachts? Der puristisch-edle Umschlag zeigt Vögel. Sind sie gemeint? Oder vielleicht doch die Träume, welche die Hauptfigur nachts im Schlaf besuchen kommen? Mirja Lanz hat einen sehr sinnlichen und kunstvollen Debütroman geschrieben, der sich in keine Schublade stecken lässt, viele Fragen aufwirft und auf reizvolle Art und Weise große Freiheit für ganz individuelle, persönliche Assoziationen eröffnet.

Aava reist nach Finnland – sie scheint lange nicht mehr dort gewesen zu sein – und begibt sich auf die Suche nach ihrer Familiengeschichte. Ob sie auch von Heimat und Wurzeln sprechen kann, möchte sie herausfinden. Anhand von Fotos und Gesprächen mit Verwandten versucht sie, sich ein Bild zu machen. Visuelle Eindrücke und Geschichten stürmen ebenso auf sie ein, wie die unfassbare, intensive Schönheit der Natur um sie herum. Ihr Vorname Aava bedeute auf finnisch so viel wie „weit“ oder „offen“ und könnte wohl kaum treffender sein.

Die 1977 geborene Autorin beschreibt die karge Landschaft, das Langlaufen in der Loipe, den Winter und die schlichte Hütte, in welcher Aava Zuflucht findet.
Und immer wieder schleicht sich Tuuli – ein Frauenname, der aber auch „Wind“ im Finnischen bedeutet – in ihre Gedanken und ihre Träume:

„Ich habe von dir geträumt, murmelte Aava.
Ich bin aus dem Traum geboren, sagte Tuuli,
und ich träume weiter.“

(S.169)

Die Lektüre ist ein sinnliches Erlebnis: Klänge, Düfte, Farben und Texturen ergeben ein dichtes und eindrucksvolles Ganzes. Wer sich in die Sprache der Schweizer Autorin fallen lässt, wird mit kreativen Formulierungen belohnt, die man so noch nicht gelesen hat.

„Die Laute kugelten über ihr Trommelfell, und Aava wurde schläfrig in den plaudernden Stimmen. Der Kopf löste sich von der Unterhaltung und schaukelte auf ihren Wellen davon wie ein leeres Schneckenhaus. Aava war eine Muschel, ein Ohr oder Öhr, durch das sich alte Zeiten wanden, schallten und wallten.“

(S.18)

Vieles bleibt im Nebel, schemenhaft und undeutlich, wie der Blick durch die Eisschicht auf einem zugefrorenen See – manches ist nur zu erahnen. Fantasie ist gefragt und doch liegt der Reiz der Lektüre genau im Rätselhaften sowie der Weite und dem offenen Raum für eigene Interpretation.

„Aber du hast es mit einer rebellischen Geschichte zu tun: Sie wird erst auf dem Rückweg schön klingen. Damit sie diesen Rückweg aus der Wirklichkeit findet, hinterlassen wir Botschaften auf Papier.“

(S.67)

Nicht Handlung oder Plot stehen im Vordergrund, sondern Stimmungen und die innere, seelische Verfassung – gegossen in Worte voller Poesie.
Lanz löst sich von starren Regeln und den strikten Anforderungen an einen Roman, sie spielt mit der Sprache, mit der Form, sie lässt Sterne wir Schneeflocken über das Papier schneien.
Buchstaben tanzen über die Seiten, formen sich zu Regengüssen, zu Naturereignissen und werden zu Gedichten, die den Text immer wieder durchwehen wie der Wind die finnischen Wälder.

Die Jahreszeiten kommen und gehen. Die Natur ist der stille Star des Romans und die in Zürich geborene Autorin und Tochter einer Finnin findet in ihrem Debüt wunderschöne Bilder und schöpft in ihren Naturbeschreibungen wahrlich aus dem Vollen.

„Im Moos und in den Föhrennadeln blinken Lichtstempel, die in Spinnfäden gleiten und vergehen. Wolkenschatten wandern graublau übers Eis. Schatten wie Ahnungen. Nachdunkeln der Landschaft im Wolkenschatten.“

(S.116)

Zwischendurch blitzen Stellen auf, die auch als solitäre Gedichte gesehen und gelesen werden können und auch die so melodiöse, finnische Sprache findet immer wieder ihren Weg in den Roman und es ist schön, dass diese ausdrucksvollen, klingenden Worte bewusst im Original und für sich stehen dürfen – das ausführliche Glossar am Ende des Buches ist hier sehr hilfreich.

Ein Buch, so funkelnd wie die Sterne am Nachthimmel mit einer Sprache, in der man sich genussvoll einwickelt, wie in das schmeichelnde Handtuch nach dem Saunagang. Reduziert und klar auf der einen Seite und doch auch reich an experimentellen Sprachspielereien und Lautmalereien jenseits des Üblichen – ein mutiges, ungewöhnliches und poetisch expressives Debüt, das einen mitnimmt in den kalten, eisigen und klaren finnischen Winter.

„Sie flogen nachts“ ist ein Roman über Familie, über Heimat, die Suche nach den eigenen Wurzeln und über die Kunst, Geschichten zu erzählen. Ein Buch für alle, die Fragen spannender finden und mehr lieben als Antworten – voller Poesie, welche die Fantasie anregt, Räume eröffnet und die Weite in der Natur und der Seelenlandschaft spürbar werden lässt, sofern man bereit ist und sich die Zeit nimmt, sich darauf einzulassen.

Eine weitere Besprechung gibt es bei Letteratura.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Dörlemann Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Mirja Lanz, Sie flogen nachts
Dörlemann
ISBN: 978-3-03820-122-9

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Mirja Lanz’ „Sie flogen nachts“:

Für den Gaumen (I):
Dass die Zimtschnecke auch in Finnland ein beliebtes Gebäck zum Kaffee oder Tee ist, war mir klar, aber dass das finnische Wort dafür sowohl Hefeschnecke als auch Ohrfeige bedeutet wusste ich jedoch vorher noch nicht:

Korvapuusti: das Gebäck schlug aufs Ohr und auf den Bauch. Außen war die Kruste knusprig, innen war die Schnecke buttrig weich, süß und etwas herb von Kardamom und Zimt.“

(S.19)

Für den Gaumen (II):
Im Winter braucht man etwas Wärmendes und daher gibt es auch „Eintopf aus Wurzelgemüse“ (S.24).

Zum Weiterlesen (I):
Meine literarische Europareise führte mich schon bei meiner ersten Station nach Finnland: mit Tommi Kinnunens Roman „Das Licht in deinen Augen“, der eine dunkle, schmerzhafte Geschichte darüber erzählt, was es bedeutet Außenseiter oder Außenseiterin zu sein.

Tommi Kinnunen, Das Licht in deinen Augen
Aus dem Finnischen von Gabriele Schrey-Vasara
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-60078-7

Zum Weiterlesen (II):
Die poetische Sprache und die zauberhaften Naturschilderungen erinnerten mich auch an die wunderbaren Gedichte von Christine Langer in ihrem Band „Ein Vogelruf trägt Fensterlicht“, die ich letztes Jahr hier auf der Kulturbowle vorgestellt habe und die zu meinen persönlichen Glanzlichtern im Lesejahr 2022 gehörten.

Christine Langer, Ein Vogelruf trägt Fensterlicht
Kröner
ISBN: 978-3-520-76501-7

5 Kommentare zu „Finnlands offene Weite

    1. Danke, Alexander. Ja, ich denke, dass mich die poetische, stimmungsvolle Sprache auch für meine eigene Rezension inspiriert hat. Und es freut mich sehr, dass dieser Funke offenbar übergesprungen ist. Herzliche Grüße, einen schönen Abend und eine gute restliche Woche!

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    1. Dankeschön, Birgit. Auch mich faszinieren die skandinavischen Länder und Landschaften sehr. Das Buch transportiert die Weite und Offenheit vielmehr über die Sprache und die eindrücklichen Naturbeschreibungen ohne jetzt allzu konkret auf finnische Orte, Städte oder spezifische Sehenswürdigkeiten einzugehen – aber es beschreibt auf gewissen Weise ein Lebensgefühl. Herzliche Grüße und eine gute restliche Woche! Barbara

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