Zerbrechliches Glück

Es gibt sie, diese leisen, stillen, unaufgeregten Bücher, die man liest und die ihre ganze Wucht und Tiefgründigkeit erst dann entwickeln, wenn man aufmerksam ist und den Text eine Weile auf sich wirken lässt, sich öffnet für die Feinheiten, die auch zwischen den Zeilen zu finden sind: Janet Lewis’ „Draussen die Welt“, das 1943 im amerikanischen Original unter dem Titel „Against a Darkening Sky“ erschienen ist, ist eine feinsinnige und großartige Wiederentdeckung, welche die Lektüre lohnt.

Der Originaltitel bringt diese dunkle Wolke, die stets ein wenig über dem Werk schwebt und die auch bereits der Klappentext verheißt, gut zum Ausdruck – wohingegen der deutsche Titel „Draussen die Welt“ den Gedanken des geschützten Raums anklingen lässt, der einen Rückzugsort vor den Unwägbarkeiten und Schicksalsschlägen des Lebens bietet.

1929, eine Kleinstadt in Kalifornien – die heraufziehende Bankenkrise wirft ihre Schatten auch auf die ländliche Bevölkerung. Mary Perrault, die einst vor vielen Jahren gemeinsam mit einer Freundin aus Schottland in die Vereinigten Staaten ausgewandert war, lebt mit ihrer Familie ein beschauliches, arbeitsreiches Leben. Da ist der Haushalt, der Garten, die Kinder und die Verpflichtungen in der Dorfgemeinschaft mit Wohltätigkeitsveranstaltungen und Kirchenbesuchen – eine vermeintlich heile Welt.

„Dies war das ungeheure Drama, in dem sie mitwirkte, in einer Welt blinder Zerstörung Leben mit geduldiger Zärtlichkeit heranzuziehen. Dies war das Drama, indem sie an diesem Nachmittag ihre Worte gesprochen hatte, in dem sie, als Mutter und Ehefrau, für immer agieren würde.“

(S.59)

Die zunehmende Armut findet schleichend immer mehr ihren Weg in die Nachbarschaft und den Alltag der Menschen: da fehlt das Geld für ein neues Kleid, das für einen besonderen Anlass benötigt wird, da wird der Anbau von Gemüse im eigenen Garten und das Obst an den Bäumen immer wertvoller. Nicht nur die Arbeitslosigkeit nimmt zu, auch der Egoismus wächst und Menschen reagieren anders auf die eigene Not und das Unglück Anderer. Leise verschieben sich auch die moralischen Grenzen menschlichen Verhaltens.

Mary wird Zeugin von Schicksalsschlägen im näheren Umfeld: Trennungen, Krankheiten, tragische Unfälle, existenzielle Sorgen und doch versucht sie, sich ihre Empathie, ihre Mitmenschlichkeit und ihr persönliches Wertegerüst zu bewahren und das Erforderliche und Richtige zu tun. Sie flickt, näht, kocht und bäckt, hält Leib und Seele, sowie die Familie zusammen und versucht, der ruhende Pol im Auge des Sturms zu bleiben. Scherben werden zusammengekehrt und das Haus sauber gehalten.

Lewis beschreibt die Jahreszeiten, die Natur und den Lebensalltag mit feiner Präzision und großer Liebe zum Detail. Zudem ist es faszinierend, wie es ihr gelingt, auch die bedrohliche Stimmung zu erschaffen, die man während der Lektüre unterschwellig – wie eine dunkle Wolke am Himmel – immer spürt – jedoch so subtil, dass dies häufig im Unterbewussten bleibt.

Bei mir dauerte es ein bisschen, bis der Groschen gefallen war und sich für mich die ganze Genialität von Janet Lewis’ „Draussen die Welt“ offenbarte. Die Autorin hat den Roman unglaublich klug komponiert und nur selten spiegelt der Schreibstil und der Aufbau eines Textes so präzise auch den Charakter des Inhalts und der Hauptfigur wider wie in diesem Fall. Die innere Ruhe, die bodenständige, gefestigte Haltung, die auf menschlichen und ethischen Grundwerten beruht oder – wie man heute sagen würde – die Resilienz ist der rote Faden, der das Werk durchzieht.
Und manchmal scheint es geradezu, als hätte Lewis diese Geschichte vor 80 Jahren genau für unsere heutige Zeit geschrieben.

„Trotz Krieg, Mord und plötzlichem Tod, dachte sie bei sich, spülen muss man trotzdem.“

(S.361)

Janet Lewis, die 1899 in Chicago geboren wurde, lebte selbst viele Jahre in Kalifornien, wo sie 1998 in Los Altos starb. Ihr Werk umfasst Lyrik und vier Romane, darunter eine Trilogie über historische Gerichtsfälle. Sie war überzeugte Pazifistin und Kriegsgegnerin, politisch engagiert und setzte sich auch für die indigene und schwarze Bevölkerung ein.

„Draussen die Welt“ ist ein Buch über die Zerbrechlichkeit des Glücks und darüber, wie schnell sich Abgründe im Leben auftun können und wie diese doch zu überwinden sind. Ein Buch über eine Frau, die versucht, ihren Kindern und ihrem Umfeld ein moralischer Kompass zu sein, die richtigen Werte vorzuleben und zu vermitteln. Ein Buch über das Frausein, über Mutterschaft, über Widerstandsfähigkeit, innere Kraft und Stärke und darüber, wie man in Krisen über sich hinauswachsen und doch bei sich bleiben kann.

Ein facettenreicher Text voll differenzierter, feiner Nuancen, die eine bewusste und konzentrierte Lektüre verdienen.
Und ein gefühlvoller, lebensweiser und sensibler Roman, der zunächst ganz leise Töne anschlägt, für die man die Ohren spitzen muss, um sie zu hören und am Ende doch so tiefsinnig mit wichtigen Botschaften klar, deutlich und eindrucksvoll lange nachklingt.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim dtv Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Janet Lewis, Draussen die Welt
Aus dem amerikanischen Englisch von Sylvia Spatz
dtv
ISBN: 978-3-423-28318-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Janet Lewis’ „Draussen die Welt“:

Für den Gaumen:

„Ich habe zum letzten Mal Karamell gemacht, als ich ein kleines Kind war. Melasse ist keine da, aber Kakao. Dann mache ich eben Schokoladenfudge.“

(S.141)

Auf dem Blog „Die Jungs kochen und backen“ findet sich ein Rezept für alle, die keine Angst vor Kalorien und das Bedürfnis nach einer ordentlichen Portion Schokolade haben.

Zum Weiterlesen:
Schon seit einiger Zeit liegt auf meinem Stapel auch Janet Lewis’ Roman „Verhängnis“, der in einer vollkommen anderen Zeit und an einem anderen Schauplatz spielt: im Frankreich des Sonnenkönigs. Das Buch gehört zu Lewis’ Trilogie über historische Justizfälle – und vielleicht sollte ich nicht mehr lange mit der Lektüre warten und mich bald auf den Weg ins Paris des 17. Jahrhunderts machen…

Janet Lewis, Verhängnis
Aus dem Englischen von Susanne Höbel
dtv
ISBN: 978-3-423-28233-8

6 Kommentare zu „Zerbrechliches Glück

    1. Ja, das Besondere daran ist die Subtilität und wie gekonnt die Autorin ganz unterschwellig die Spannung aufbaut. Gerade dieses Fragile und der Gedanke, dass etwas ganz plötzlich zerbrechen kann, macht für mich die Genialität aus. Herzliche Grüße!

      Gefällt 1 Person

    1. Gern geschehen, Bernd. Ich finde, dieses Zitat passt einfach wunderbar zum Buch… und zur Hauptfigur, die versucht in schweren Situationen weiter zu machen… deshalb musste es einfach rein in meine Rezension.
      Herzliche Grüße und eine gute Woche! Barbara

      Gefällt 1 Person

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