Schon der Titel von Uwe Neumahrs Sachbuch „Das Schloss der Schriftsteller – Nürnberg ’46, Treffen am Abgrund“ weckt sofort meine Neugier als lesebegeisterter und geschichtsinteressierter Mensch. Denn auch trotz ausführlicher Behandlung im schulischen Geschichtsunterricht, zahlreicher Dokumentationen im Fernsehen und vieler Lektüren, gibt es immer noch neue Seiten und Kapitel der Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland und der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg, die noch nicht näher beleuchtet wurden: Und wenn sich 1946 an einem Ort die Wege zahlreicher SchiftstellerInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen und bekannter Persönlichkeiten kreuzten, dann ist das in meinen Augen hochinteressant, denn das Press Camp im Schloss Faber-Castell in Stein bei Nürnberg während der Nürnberger Prozesse, war mir bisher offen gestanden nicht wirklich ein Begriff gewesen.
„Das Faberschloss, wie man das Press Camp auch nannte, diente als Herberge und Arbeitsstätte zugleich. Die Korrespondenten wohnten dort in Zimmern mit bis zu zehn Betten und fingen die Ereignisse wie Seismografen ein, während nur ein paar Kilometer entfernt in den Gefängniszellen in Nürnberg Männer wie Göring oder Ribbentrop, Streicher oder Heß auf die Urteile des internationalen Militärtribunals warteten.“
(S.8)
Und wenn dann noch Namen wie Erich Kästner, Erika Mann, Willy Brandt, Martha Gellhorn oder John Dos Passos fallen und man erfährt, dass diese – neben vielen anderen – alle für eine gewisse Zeit in genau jenem Press Camp logiert und gearbeitet haben, dann war für mich schnell klar, dass ich darüber mehr erfahren möchte.
Uwe Neumahr berichtet in seinem Buch nicht nur über den geschichtlichen Hintergrund und die Atmosphäre im Schloss, das während der wichtigsten Phase der Nürnberger Prozesse einem intellektuellen und multikulturellen Taubenschlag zu gleichen schien und aufgrund der einfachen Unterbringung der Bewohner – zum Teil in Zehnbettzimmern – auch eine gewisse, rustikale Schullandheimatmosphäre versprüht haben mag.
Vielmehr geht er in den verschiedenen Kapiteln auf einige Gäste des Camps gesondert ein, ordnet ihre Tätigkeit während der Prozesse auch in den jeweiligen biografischen Kontext ein und berichtet, in welcher Form die Prozesse verarbeitet wurden und welchen Eingang dieses geschichtsträchtige Ereignis ins journalistische und schriftstellerische Schaffen der jeweiligen Personen gefunden hat.
Zudem transportiert der Autor sehr gut, welch unterschiedliche Haltungen, Einstellungen und Ideologien zum Teil im Camp aufeinanderprallten, das neben Journalisten und Reporterinnen der Siegermächte – auch deutschen Schriftstellern wie Erich Kästner oder Erika Mann offen stand. Man kann sich die lebhaften Diskussionen in der Bar oder im Spielzimmer pro und contra Kollektivschuld ebenso gut vorstellen wie die Fassungs- und Sprachlosigkeit, die angesichts der geschilderten Verbrechen und Gräuel während der Prozesse, von den BerichterstatterInnen Besitz ergriff.
„Im Gericht sahen die Prozessteilnehmer sich tagsüber mit den unfassbaren Verbrechen der Angeklagten konfrontiert, mit Bildern aus Konzentrationslagern, von Massenerschießungen und den Aussagen von Opferzeugen. Abends betäubten sich viele mit Alkohol, spät in der Nacht fielen alle Schranken, man tanzte miteinander und trank.“
(S.11)
Zudem wird auch auf die Besitzerfamilie und die Geschichte des Schlosses eingegangen und selbstverständlich auch auf die Nürnberger Prozesse selbst bzw. vor allem auf die Wahrnehmung und Schilderung der Angeklagten durch die im Schloss einquartierten Pressevertreter. Schwarz-Weiß-Aufnahmen vermitteln zudem auch visuelle Eindrücke vom Prozess und den Räumlichkeiten im Schloss – so meint man das emsige Schreibmaschinengeklapper zu hören und die angespannte Arbeitsatmosphäre regelrecht zu spüren, die sich abends ein Ventil in gemeinsamen Gesprächen an der Bar und beim Tanz suchte.
Auch die Kritik an der Unterbringung und Verpflegung, die mal mehr, mal weniger direkt geäußert wurde, findet Erwähnung und man erfährt viel über die Stimmung und Gedankenwelt der Presse und der Siegermächte, z.B. auch wie das zerbombte Nürnberg bzw. Deutschland und die Bewohner in den Augen der JournalistInnen wahrgenommen wurden.
Neumahr widmet unter anderem John Dos Passos, Erich Kästner, Erika Mann, aber auch Willy Brandt und Markus Wolf, Elsa Triolet oder Martha Gellhorn eigene Kapitel. Man erfährt von Rebecca Wests pikanter Affäre mit einem der Richter, lernt, dass Erich Kästner Mühe hatte und darum ringen musste, das Prozessgeschehen in Worte zu fassen, als er die „Streiflichter aus Nürnberg“ verfasste. Zudem kann man lesen, dass auch der spätere Bundeskanzler Willy Brandt und der spätere Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR Markus Wolf zur gleichen Zeit im Press Camp weilten – ihre Wege sollten sich später – wie wir wissen – im Rahmen der Guillaume-Affäre noch einmal schicksalshaft kreuzen.
Abwechslungsreich, untermauert mit zahlreichen Zitaten, Anekdoten und Impressionen, ist die Lektüre zu keinem Moment trocken, sondern zieht einen in den Bann dieses außergewöhnlichen Schauplatzes und der zusammengewürfelten Schicksals- und Arbeitsgemeinschaft.
Die reiche Literaturliste am Ende lädt dazu ein, sich näher mit der Thematik zu beschäftigen. Denn nicht nur im Nürnberger Gerichtssaal, sondern auch im zugehörigen Press Camp im „Bleistiftschloss“ wurde Geschichte und wurden Geschichten geschrieben, die Neumahr jetzt in seinem Buch gesammelt präsentiert.
„Die Nürnberger Prozesse veränderten die Menschen, die ihnen beiwohnten. Damit einhergehend änderte sich auch der Schreibstil der Berichterstatter.“
(S.14)
Eine aufschlussreiche, sehr gut lesbare und fesselnde Lektüre über die besonderen Ereignisse und spannende Persönlichkeiten im Nürnberg des Jahres 1946 – eine lohnenswerte Lektüre für literatur- und geschichtsaffine Leser, die sich für einen besonderen und bemerkenswerten Ort sowie die literarische Ver- und Aufarbeitung der Nürnberger Prozesse in Schriften und Reportagen interessieren.

Mit Uwe Neumahrs „Das Schloss der Schriftsteller“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „23 für 2023“ erfüllt – Punkt Nummer 3) auf der Liste: Ich möchte ein Sachbuch lesen. Der historische Moment und der Schauplatz, den der Autor im Zusammenspiel mit den Biografien der HauptakteurInnen einfängt, war für mich hochinteressant und die Lektüre sehr aufschlussreich.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim C.H. Beck Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Uwe Neumahr, Das Schloss der Schriftsteller
Nürnberg ’46 – Treffen Am Abgrund
C.H.Beck
ISBN: 978-3-406-79145-1
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Uwe Neumahrs „Das Schloss der Schriftsteller“:
Für den Gaumen (I):
Am Alkohol führte wohl kein Weg vorbei:
„Alkohol, so liest man immer wieder, war bei allen einkalkulierten Risiken unverzichtbar für den reibungslosen Ablauf im Camp. Whiskey, Wodka oder Cognac überbrückten nicht nur Sprachbarrieren, sie hatten mitunter eine völkerverbindende Funktion.“
(S.37)
Für den Gaumen (II):
Nicht alle waren mit der Versorgung und Verpflegung im Schloss zufrieden.
Die Meinungen diesbezüglich gingen durchaus auseinander:
„Während der Fotograf Eddie Worth die Verköstigung „absolut unglaublich“ nannte, spricht der Prawda-Korrespondent Boris Polewoi in seinem Nürnberger Tagebuch von großartigen Dinners im Faber-Palais, bei denen sich die Küche „weidlich Mühe“ gab. Auch wenn er den Köchen vorwarf, dass sie mehr auf das Aussehen als auf guten Geschmack achteten und zu sehr auf Konserviertes setzten, gab es etwa „die berühmten amerikanischen Steaks, zart gebraten, handdicke Fleischstücke mit Schoten.“ “
(S.126)
Zum Weiterschauen oder für einen Museumsbesuch:
Das Faber-Castell-Schloss in Stein bei Nürnberg ist heute zu besichtigen. Es werden Führungen zu verschiedenen Themen (unter anderem auch zur Zeit des Press Camps) angeboten. Informationen hierzu gibt es auf der Website von Faber Castell.
Zum Weiterlesen:
John Dos Passos’ „Das Land des Fragebogens“ trägt den Untertitel „1945: Reportagen aus dem besiegten Deutschland“ und umfasst Artikel, die er im Auftrag des US-Magazins Life verfasste (ist jedoch wohl momentan nur antiquarisch erhältlich):
John Dos Passos, Das Land des Fragebogens
Aus dem Amerikanischen von Michael Kleeberg
Rowohlt
ISBN: 9783499606007
Was für eine schöne Buchbesprechung. Das Buch liegt hier auch schon, ich freue mich auf das Lesen, nach deiner Besprechung noch mehr.
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Dankeschön, Sandra.
Und ich freue mich über Deine schöne Rückmeldung.
Ich wünsche Dir eine interessante und aufschlussreiche Lektüre – ich habe viel Neues erfahren und hätte nur zu gerne die damaligen Unterhaltungen und Diskussionen der Camp-Bewohner gehört…
Herzliche Grüße und eine gute restliche Woche! Barbara
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Von Uwe Neumahr habe ich eine sehr gute Cervantes-Biografie gelesen. Deswegen und aufgrund Deiner anregenden Rezension bin ich nun auch neugierig auf sein neues Buch.
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Das freut mich, dass ich da Deine Neugier wecken konnte. Mich hat seine Schilderung dieses besonderen Orts wirklich gepackt und ich war wieder einmal erstaunt, dass ich darüber im Grunde vorher noch nichts wusste. Daher war es für mich auf jeden Fall sehr erhellend und lesenswert!
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Liebe Barbara,
vielen Dank, dass Du Dich auf dieses Buch eingelassen und in die Geschichte vertieft hast, Deiner Lesegemeinde hiervon berichtest und erzählst.
Selber ging ich zehn Jahre lang zur Schule in der Nachbarschaft des Justizpalastes mit Blick auf das Gerichtsgebäude und die Vollzugsanstalt. Was war damals, fragte ich im Geschichts-Unterricht.
Heute bin ich dankbar, dass an Ort und Stelle das „Memorium Nürnberger Prozesse“ Auskunft gibt, ebenso wie das „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“.
Falls Du magst, oder jemand aus der Lesegemeinde, zu einem Besuch der Gedenkstätten: willkommen in Nürnberg
Sehr herzlich
Bernd
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Lieber Bernd,
Danke für das Lob aus berufenem Munde des Nürnbergers.
Nürnberg ist definitiv immer eine Reise und eine Besichtigung wert.
Das Dokumentationszentrum auf dem Reichsparteitagsgelände habe ich vor einigen Jahren besucht und dort unter anderem auch eine sehr interessante Sonderausstellung zu Propaganda und Musiktheater in Nürnberg gesehen.
https://museen.nuernberg.de/dokuzentrum/kalender-details/ausstellung-hitler-macht-oper-1437
Das „Memorium Nürnberger Prozesse“ wandert jetzt sicherlich auf meine Merkliste – ebenso wie das Faberschloss.
Danke für die Einladung in Deine Heimatstadt!
Herzliche Grüße,
Barbara
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Klingt sehr interessant, kommt auf die Liste!
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Das freut mich, wenn ich Dich neugierig machen konnte. Herzliche Grüße und morgen einen guten Start ins Wochenende!
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Danke, dir auch!
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