Lebenskünstler und Kaffeehausseelen

Am heutigen Indiebook-Day (25.03.2023) soll ein besonderes und sehr atmosphärisches Buch aus dem unabhängigen, österreichischen Drava Verlag im Mittelpunkt stehen: der kraftvolle Roman „Engeltreiber“ von Ditha Brickwell. Eine Lektüre-Perle, die Geschichten und Stimmungen kunstvoll aneinanderreiht, wie die weibliche Hauptfigur im Buch.

„Die Genoveva in der Josefstadt erzählte ihr Leben, wie sie die Perlen fädelte, ordentlich der Reihe nach, von Anfang an; und Szenen, die ihr wichtig waren, wurden reicher ausgestaltet und erhielten eine Wendung, als ob sie eine Mittelperle setzen wollte; und während ihre Worte den jungen Zuhörer in ferne Zeiten und Zustände führten, dirigierten ihre Augen und Hände die Perlen. Sie war eine großartige Geschichtenerzählerin.“

(S.8)

Denn Genoveva ist Perlenfädlerin und während sie geduldig und feinfühlig ihrer Kunst nachgeht, erzählt sie dem jungen Leo rückblickend ihr Leben und lässt sich gleichzeitig von ihm seines erzählen.
Doch Genoveva war nicht immer Perlenfädlerin, vielmehr ist sie in der Wiener Gastronomie der Zwanziger und Dreißiger Jahre groß geworden, kennt die Kunst der perfekten Kaffeezubereitung und weiß, dass Kaffeehäuser eine Seele haben. Doch auch die Politik und die geschichtlichen Ereignisse machten nicht an der Türe halt und durchwehten die Gaststube und die Küche gleichermaßen.

„Und die Genoveva hat viel gehört und gelernt im Kaffeehaus – wie sie es für sich erträumt hat – die Neuigkeiten ordneten sich zu Bewertungen, die Bewertungen verknüpften sich zu Einsichten, die verwoben sich zur Erkenntnis ihrer Epoche und der Verhältnisse darin. Das dehnte sich zu einem Horizont des Wissens – und viele Wörter häufte sie zu einem großen Wortschatz an.“

(S.55)

Leo hingegen möchte als „letzter Spross einer alteingesessenen Kaffeesieder-Dynastie“ (S.239) ausbrechen und versucht sein Glück als Künstler im Paris der Sechziger Jahre. Er lebt ärmlich, einfach, aber genießt die Freiheit und Unabhängigkeit und das Flair der weltoffenen und lebenshungrigen Kunstszene.

„Ich habe bei der Perlenfädlerin viel gelernt. Unsere wechselseitigen Erzählungen waren die Fortsetzung meiner Pariser Freiheit auf Wienerisch. Ohne Zensur erfuhr ich alles über Kindheit, Liebe und Leben und vieles über den Krieg.“

(S.246)

Der Roman atmet sowohl die Atmosphäre des launigen Plauderns auf einer ausgelassenen Familienfeier als auch von einem intensivem, lange nachhallendem Gespräch am Kamin. Das Gespräch zwischen Genoveva und Leo ist vertraut und offen.
Man erfährt viel über die österreichische Geschichte. Ereignisse wie der Wiener Justizpalastbrand 1927 finden ebenso ihren Platz im Buch, wie Gedanken über Österreichs Rolle und deren Wahrnehmung durch die Bevölkerung während des Anschlusses und danach.

„Jetzt weißt du, warum die Kunst einen Lorbeerkranz trägt, weil sie immer aus vergeblicher Liebe kommt und aus dem Schmerz. Liebe und Schmerz ohne die Kunst sind nur der gewöhnliche Lebenslauf, also gar nichts.“

(S.57)

„Engeltreiber“ ist aber auch ein Buch über Kunst, Kultur, Musik und Literatur – eine Pariser und Wiener Mélange mit melodiösen Anklängen und Anspielungen in viele künstlerische Richtungen, die mir beim Lesen – gleichsam in bester Kulturbowle-Manier mit vielen Inspirationen und Querbezügen – sehr viel Freude bereitet hat.

Wer Wien liebt, der wird bei der Lektüre sicherlich viel Schönes für sich entdecken und genussvoll den Duft und die Stimmung der Kaffeehäuser einatmen. Wirtshäuser und Greißlerei: Brickwell beschreibt das Leben in der Josefstadt lebendig und sinnlich. Ein Buch über Lebenskunst und „Seelenschmerz“ (S.356), in dem geliebt, gelacht, gekocht, gegessen und getrunken wird.

Der im Klappentext skizzierte Lebenslauf Brickwells wirkt, als wäre er selbst schon einen Roman wert: eine Österreicherin, die in Europa und der Welt zu Hause zu sein scheint. 1941 in Wien geboren, Studium in Wien, Berlin und New York, arbeitete später in Helsinki, Tel Aviv und Paris und für die EU-Kommission in Brüssel.
Ihre persönlichen Erfahrungen sind sicherlich in Leos eindrückliche Schilderungen der Pariser Bohème und in die von Genoveva heraufbeschworene Wiener Kaffeehausatmosphäre eingeflossen.

„Engeltreiber“ ist der erste Band einer Trilogie, welche die Autorin „Dunkelreise“ nennt. Der Krieg und seine Auswirkungen sind – zwar in unterschiedlichen Epochen -aber doch jeweils sehr präsent: das Abdriften in den Nationalsozialismus im Wien Genovevas und der Zweite Weltkrieg oder der Algerienkrieg, während Leo in den Sechziger Jahren in Paris weilt.

„So verstehe ich meine Genealogie: Ich sprieße hervor aus einer Kette ungeliebter, beinahe abgetriebener, auf die Seite gestellter Kinder, die das Leben von der Unterseite kennenlernen, wie die Karotten.“

(S.86)

Der Text hat etwas teils Anzügliches, aber vor allem Tänzerisches, stellenweise leichtfüßiger Wiener Walzer, teilweise schwermütig-melancholischer Tango – die Lektüre reißt mit, es gibt Abschweifendes und Überbordendes – ein Strudel, dem man sich nicht entziehen kann. Wie die Fahrt auf einem Karussell oder dem Ringelspiel im Prater, das sich immer schneller dreht und einen vielleicht kurz schwindlig werden lässt, jedoch ein opulenter Erzählstrom, dem man sich einfach mit Freude und genussvoll anvertrauen sollte.
Ein Roman, der dazu einlädt, los zu lassen, sich durch die Fabulierkunst der Autorin verführen zu lassen und sich lustvoll darin zu verlieren.

„Erst wenn das Leben die Neugierde abgenutzt hat, sagte sie mir, dann wird es dunkel um uns.“

(S.319)

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Drava Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Ditha Brickwell, Engeltreiber
Drava Verlag
ISBN: 978-3-99138-021-4

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Ditha Brickwells „Engeltreiber“:

Für den Gaumen:
Bevor Genoveva ihre Bestimmung in einem Kaffeehaus findet, lernt sie das Kochen im Wirtshaus „Weißer Affe“ und seit dem beherrscht sie das Rezept für das perfekte Gulasch:

„(…) die Zwiebelmasse im schwarzen Reindl schön langsam rösten lassen, soll nicht braun werden, nur ein wenig karamellisieren, weil so ein scharfes Gulasch braucht auch Süße. Jeder, der am Vormittag in die Küche kam, rührte einmal die Zwiebeln in der Rein um fürs Gulasch. Und dann löste sich das Paprikapulver im fetten Zwiebelseim auf und ein Scherz vom alten Brot matschte und machte den Paprikasaft sämig und endlos schmurgelte das Fleisch – und die Seele des Wirtshauses kochte mit.“

(S.50)

Zum Weiterhören:
Nachdem ich mich kulinarisch dem Wienerischen gewidmet habe, soll es in dieser Kategorie jetzt um den Pariser Einfluss im Roman gehen: Juliette Gréco wird als „Lieblingssängerin“ (S.138) bezeichnet. Sie gilt als Ikone des französischen Chansons. Vielleicht hier einfach mal in „Je suis comme je suis“ reinhören…

Zum Weiterlesen:
Und weil es gerade so schön ist, gibt es noch eine kulinarische Lektüreempfehlung für eine wahre Liebeserklärung an die Wiener Küche – wenn auch von einem „Piefke“ geschrieben – Ein Bauch lustwandelt durch Wien von Vincent Klink, das ich 2020 hier auf meinem Blog vorgestellt habe:

Vincent Klink, Ein Bauch lustwandelt durch Wien
Ullstein
ISBN: 9783550200663

7 Kommentare zu „Lebenskünstler und Kaffeehausseelen

    1. Danke, Alexander. Dein Lob freut mich sehr! „Engeltreiber“ ist ein wirklicher Schmöker, der voll von Geschichten, Gedanken und kulturellen Anspielungen ist – ein Roman, der einen die Welt um einen herum vergessen lässt. Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende mit guten Büchern! Das Wetter lädt ja geradezu zum Lesen ein…

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    1. Dankeschön, Bettina. Ja, ich hätte auch wieder einmal große Lust auf einen Besuch in Wien… es ist immer eine Reise wert und die Kaffeehäuser sind einfach ganz besondere Orte. Herzliche Grüße und ein wunderbares Wochenende! Barbara

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