Den Titel ziert die berühmte Hokusai-Welle – ein berühmtes asiatisches Kunstwerk – darauf eine regenbogenfarben-poppige Schrift, die wie aus einem alten Computerspiel zu stammen scheint. Der gefeierte Roman „Morgen, morgen und wieder morgen“ der amerikanischen Autorin Gabrielle Zevin wird – das lässt sich nach der Lektüre sagen – beiden Elementen gerecht.
Sam und Sadie sind seit Kindertagen befreundet, eine Schicksalsgemeinschaft, die in schweren Zeiten zusammengefunden hat. Die gemeinsame Liebe zu Computerspielen war es, die ein erstes Band zwischen ihnen knüpfte, bis sie sich – aufgrund eines Missverständnisses und falschen Stolzes – für einige Jahre aus den Augen verloren.
„Die Zeit war mathematisch erklärbar; es war das Herz – also jener Teil des Gehirns, für den das Herz steht -, das Rätsel aufgab.“
(S.16)
Beide sind begabt, hochintelligent und wissbegierig, jedoch auch gerne für sich und neigen – aufgrund so manch schlechter Erfahrung – zum Einzelgängertum. Beim Studium in Harvard in den Neunziger Jahren laufen sie sich wieder über den Weg – ihre Freundschaft bekommt eine zweite Chance, die sie aufgrund der gemeinsamen Leidenschaften und Interessen auch bald zu Arbeitspartnern werden lässt.
„Für jeden angehenden Künstler gibt es eine Zeit, in der die Vision die Fähigkeiten übersteigt. Diese Zeit übersteht man nur, indem man trotzdem weiterarbeitet.“
(S.105)
Denn beide sind immer noch verrückt nach Computerspielen und sie beginnen wie im Rausch als Team ihr eigenes Spiel zu designen, zu entwickeln und zu programmieren. Noch als Studenten bringen sie schließlich das erste Spiel, in dem viel von ihren Persönlichkeiten und ihrer Lebensgeschichte steckt, auf den Markt und es wird – gerade aufgrund seiner Besonderheit und Außengewöhnlichkeit – sofort zu einem Riesenerfolg.
Sie gründen ihre eigene Firma und mischen schnell im Big Business mit.
Doch wer hoch fliegt, kann auch tief fallen und die Freundschaft der beiden wird zunehmend von Konflikten, Rivalität, Eifersüchteleien und Schicksalsschlägen überschattet.
„Ich glaube fest daran, dass die Menschheit immer spielen wird, unabhängig vom Zustand der Welt.“
(S.541)
Zevin spielt auf der Klaviatur der großen, starken Gefühle und schöpft auf 560 Seiten wahrlich aus dem Vollen. Selbst Nicht-Gamer, die mit Computerspielen im Allgemeinen nichts am Hut haben, können thematische und emotionale Anknüpfungspunkte finden – wie in meinem Falle zum Beispiel die Theaterstücke Shakespeares oder die Gedichte Emily Dickinsons, die immer wieder ihren Weg in die virtuelle Spielewelt finden.
Die Autorin, die selbst Tochter einer koreanischen Mutter und eines jüdisch-amerikanischen Vaters ist, hat viele Aspekte in ihren Roman übernommen, die sie aus eigener Erfahrung offensichtlich gut kennt: die asiatischen Wurzeln, die jüdische Identität – all das findet auch ihre Entsprechung in „Morgen, morgen und wieder morgen“.
Das Buch ist voll gepackt mit großen, menschlichen Themen und Emotionen.
Die Autorin trägt dick auf, schreibt üppig und opulent in starken Bildern, die regelrecht nach einem großen Bildschirm verlangen. Ihre Figuren leben wie ihre Spiel-Avatare, intensiv, oft am Limit oder am Rande des Abgrunds kurz vorm Absturz – doch kann man das eigene Leben wie ein Spiel neu starten und nochmal von vorne beginnen? Wie viele Leben hat man? Auch im Roman verschmelzen die reale und virtuelle Welt…
„Am Ende ist das echte Leben immer eine brennende Mülltonne, und man kann verdammt noch mal nichts tun, um den Code zu ändern.“
(S.464)
Gerade den Zeitgeist der Neunziger und Nuller Jahre hat Zevin, die 1977 in New York geboren wurde und selbst Harvard-Absolventin ist, stimmig und sehr authentisch eingefangen. Und auch wenn man nicht in der Gaming-Welt zu Hause ist, entwickelt die Lektüre einen Sog, der einen nicht mehr loslässt und von Seite zu Seite mit den Figuren Freud und Leid teilen und mitfühlen lässt.
Man stelle sich vor: ein Hauch „Harry und Sally“, eine Prise Start-up-Fieber wie in „The Social Network“ und stellenweise ein leiser Anflug von „Lovestory“ – der Roman scheint wie geschaffen für die Leinwand und so ist es nicht erstaunlich, dass eine Verfilmung schon in Planung ist. Hollywood ruft. Zevins neuer Roman ist ein eindrücklicher Beweis, dass auch Literatur ganz großes Kino sein kann, das fesselt und Popcornlaune aufkommen lässt.
„Sich wirklich auf ein Spiel mit einem anderen Menschen einzulassen ist nicht ohne Risiko. Es bedeutet, sich zu öffnen, sich zu entblößen und verletzlich zu sein.“
(S.40)
Aber last but not least ist „Morgen, morgen und wieder morgen“ auch ein sehr emotionaler Roman über die Weggabelungen des Lebens, über Missverständnisse, Schicksalsschläge und verpasste Chancen – und vor allem über die Bedeutung von Freundschaft. Mitreißend, überbordend – eine gefühlsgeladene Flutwelle, der man sich kaum entziehen kann.
Wellen geschlagen hat „Morgen, morgen und wieder morgen“ auch bereits im Ozean der Literaturblogs, denn weitere Besprechungen findet man unter anderem bei Bookster HRO, Letteratura, Buch-Haltung und Leckere Kekse.

Mit Gabrielle Zevins „Morgen, morgen und wieder morgen“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „23 für 2023“ erfüllt – Punkt Nummer 22) auf der Liste: Ich möchte ein dickes Buch (gemäß Definition Nordbreze > 500 Seiten) lesen. Auch wenn sich in meinem Regal definitiv noch dickere Kandidaten befunden hätten, mit 560 Seiten kann ich diesen Punkt trotzdem guten Gewissens abhaken.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Gabrielle Zevin, Morgen, morgen und wieder morgen
Aus dem amerikanischen Englisch von Sonia Bonné
Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0129-7
© Eichborn Verlag
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Gabrielle Zevins „Morgen, morgen und wieder morgen“:
Für den Gaumen (I):
Sadies „Zweitlieblingsessen“ (S.68) ist Hähnchen Parmigiana – ein Gericht, das wohl italienische Auswanderer vor allem in den USA populär machten.
Rezepte findet man hierzu zum Beispiel bei Zimtkringel oder Culturefood.
Für den Gaumen (II):
Frische Kaki vom Baum, der nur alle zwei Jahre Früchte trägt – ein fruchtiger, paradiesischer Luxus:
„Das Fruchtfleisch war leicht süß, die Konsistenz erinnerte an Pfirsich und Honigmelone. Vielleicht war Kaki auch ihr Lieblingsobst?“
(S.376)
Zum Weiterschauen und Weiterhören:
„Die große Welle vor Kanagawa“ des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zierte in leicht abgewandelter Form auch das Titelbild zu Claude Debussys „La Mer“ (Quelle: Wikipedia).
Zum Weiterlesen:
Der Titel „Morgen, morgen und wieder morgen“ entstammt William Shakespeares Drama „Macbeth“, das mir nicht nur in der Schule, sondern vor allem auch im Theater bereits häufiger begegnete.
Und auch Shakespeares Stücke „Der Sturm“ und „Was Ihr wollt“ haben ihren Weg in Zevins Roman gefunden:
William Shakespeare, Macbeth
Zweisprachige Ausgabe
Deutsch von Frank Günther
dtv
ISBN: 978-3-423-12484-3
William Shakespeare, Der Sturm
Zweisprachige Ausgabe
Deutsch von Frank Günther
dtv
ISBN: 978-3-423-12487-4
William Shakespeare, Was Ihr wollt
Zweisprachige Ausgabe
Deutsch von Frank Günther
dtv
ISBN: 978-3-423-12486-7
Danke für die feine Rezension. Das scheint wohl ein lesenswerter Roman zu sein.
Wir wünschen ein wunderbares Wochenende
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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Sehr gern geschehen. Der Roman hat mich auf jeden Fall überrascht, denn dass mich ein Buch, das sich zu weiten Teilen in der Computerspiele- bzw. Gaming-Szene- die nicht meine Welt ist – abspielt auf diese Weise fesselt, hatte ich nicht unbedingt erwartet. Herzliche Grüße ans Meer und ebenfalls ein wunderbares Wochenende!
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