Der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt oder der klitzekleine Funke, der die Sprengladung zündet: Im Landshuter Theater Nikola hat man aktuell die Gelegenheit, einen hochexplosiven Dinnerabend und wahren Bühnenkracher mit Pointenfeuerwerk zu erleben. Das Regieteam Elisabeth und Georg Lackermeier bringt mit „Der Vorname“ von Matthieu Delaporte und Alexandre de la Patellière eine Komödie vom Feinsten auf die Bühne.
Vielen wird „Der Vorname“ vermutlich bereits ein Begriff sein, da das ursprünglich aus Frankreich stammende Theaterstück, schon erfolgreich von Sönke Wortmann verfilmt wurde. Insofern erfordert es sicherlich einen gewissen Mut, gegen diesen Vergleich in den Köpfen des Publikums anzuspielen.
Gleich vorneweg: Ich habe den Film vor meinem Theaterbesuch nicht gesehen und konnte so völlig unvoreingenommen an die Sache herangehen. Ich gehe jedoch davon aus, dass im erfreulicherweise voll besetzten Saal auch viele Menschen mit „filmischen Vorkenntnissen“ saßen. Und so wage ich einfach zu behaupten, dass der stürmische Applaus am Ende der Premiere als überzeugender Beweis zu werten ist, dass die Landshuter Akteure den Vergleich mit Peters, Herbst und Fitz in keinster Weise scheuen oder fürchten mussten und dieser Mut belohnt wurde.
Und mal ehrlich: Menschen live und hautnah vor sich auf der Bühne zu erleben, hat – zumindest für mich – eine andere Intensität und Erlebnisqualität als es ein Kino- oder Fernsehfilm je haben könnte.
Zur Handlung muss man vermutlich nicht viel schreiben – daher nur die Kurzversion: Ein Abendessen im Freundes- und Familienkreis, das aufgrund der Frage, welchen Vornamen ein werdender Vater seinem Sohn geben möchte, völlig eskaliert. Ein Wort gibt das andere, die Fetzen und sogar Fäuste fliegen und das Unglück ist nicht mehr aufzuhalten. Zumal nach und nach so manch aufgestauter Frust und dunkles Geheimnis, das bislang unter der Oberfläche gebrodelt hat, nun mit großem Knall explodiert. Ein temporeicher Schlagabtausch und ein Dinnerabend, der sich – ist der Auslöser erst einmal gedrückt – im unaufhaltbaren Zerstörungsmodus der vollkommenen Katastrophe nähert.
Das Team des Theater Nikola hat das Stück behutsam und charmant „landshutisiert“, so agiert der Immobilienmakler in Landshuter Stadtvierteln, der Türcode des Apartments lautet auf das Datum der Landshuter Hochzeit 1475 und die Gastgeberin ist Lehrerin an einem Landshuter Gymnasium.
Und auch bei der Besetzung haben Elisabeth und Georg Lackermeier ein sehr feines Händchen bewiesen. Die fünf Darstellerinnen und Darsteller verkörpern ihre Rollen idealtypisch, wunderbar überspitzt und leidenschaftlich.
Das erste und das letzte Wort des Stücks hat Aaron Jungblut-Klemm als Vincent Lachner: Er gibt den etwas arrogant anmutenden und auf großem Fuß lebenden SUV-Fahrer im Parkverbot und werdenden Vater herrlich jovial, locker-leicht und sehr gewinnend. Aufgrund seiner liebenswürdigen, lausbübischen Verschmitztheit kann ihm das Publikum nicht wirklich böse sein – auch wenn er im Stück schnell alle gegen sich aufbringt. Eine Idealbesetzung.
Alexander Hell verkörpert hingegen mit großer darstellerischer Bandbreite und Variabilität den intellektuell-diskussionsfreudigen Literaturprofessor und phlegmatischen Pascha Pierre Garaud, der nicht nur den Haushalt, sondern auch die Erziehung der Kinder ausschließlich seiner Frau überlässt. Ja, der sogar zu bequem ist ans Telefon zu gehen oder die Haustür zu öffnen, um doch plötzlich im nächsten Moment aufbrausend und lautstark mit seinem Schwager und Jugendfreund zu debattieren und zu streiten.
Den stärksten Abgang hat an diesem Abend zweifelsohne Daniela Seimel als Elisabeth „Sissi“ Garaud-Lachner. Die perfektionistische Vollblut-Gastgeberin-Köchin-Ehefrau-Schwester-Freundin-und-Mutter, die sich nichts sehnlicher wünscht als es allen recht zu machen, einen gelungenen, harmonischen Abend zu verleben und ein klein wenig Anerkennung für ihre marokkanischen Leckereien zu bekommen, für die sie viele Stunden in der Küche gestanden hat. Und die, als letztlich alles den Bach runtergeht, mit großem Effekt die Contenance verliert.
Der emotionalste, zarteste und gefühlvollste Moment des Abends ist Mathias Paintner vorbehalten, der den leisen, sensiblen Orchestermusiker und langjährigen Freund der Familie, Claus Gattermann, spielt. Souverän und liebenswürdig gibt er den zurückhaltenden, ausgleichenden Ruhepol der Runde, der doch am Ende auch noch ordentlich einstecken muss.
Vervollständigt wird die Tafelrunde durch die überzeugend schnippisch-spitzzüngige Theresa Bollwein als werdende Mutter und Karrierefrau im bonbon-pinken Hosenanzug mit E-Zigarette. Sie darf durchaus auch als zickig-selbstbewusster, temperamentvoller Gegenentwurf zur harmoniebedürftigen Gastgeberin interpretiert werden und bringt Lebendigkeit und Farbe ins Spiel.
Das Kammerspiel, das über weite Strecken alle Akteure auf der Bühne und somit wache Präsenz und hohe Konzentration erfordert, spielt ausschließlich im Wohnzimmer der Garauds. Schnell wird klar, dass die kuscheligen Kissen auf dem Sofa nur eine gemütliche Atmosphäre vortäuschen und die bildungsbürgerliche Kulisse mit prall gefüllten Buchregalen nicht vor schmerzhaften Beleidigungen und verletzenden Auseinandersetzungen schützt. Aber es ist wunderbar anzuschauen, denn beim sehr wertig-ästhetischen Bühnenbild, sowie bei Ausstattung und Requisiten hat das Team einen tollen Job gemacht.
Komödien sind besonders schwer zu spielen, denn da muss das Timing perfekt passen, die Pointen müssen sitzen – und das tun sie zu jeder Zeit. Da hat sich die akribische Probenarbeit auf jeden Fall ausgezahlt, denn es geht Schlag auf Schlag mit hohem Tempo und spritziger Leichtigkeit, die so natürlich wirkt, aber sicherlich hart erarbeitet wurde.
Ein anspruchsvolles Stück für die DarstellerInnen, das ein hohes Maß an Konzentration und eine große darstellerische Bandbreite an Emotionen erfordert: Es wird geschrien, getobt und lautstark diskutiert – den SchauspielerInnen wird einiges abverlangt. Sie müssen wirklich aus sich herausgehen und es gelingt ihnen grandios: die Bühne brennt – das hat Feuer, Pfeffer und Leidenschaft.
Neben allen Lachern und aller Komik steckt zwischen den Zeilen jedoch auch viel Ernstes, Wahres und Entlarvendes in diesem Stück: da geht es um Familiengeheimnisse, die unter den Teppich gekehrt wurden, um Vertrauensverlust und um problembehaftete Beziehungen. Im wahrsten Sinne des Wortes liegt da so mancher Hund begraben, der an diesem Abend wieder ins grelle Licht gezerrt wird.
Als Zuschauer schwankt man zwischen Fremdschämen und Schadenfreude, und vielleicht fühlt man sich so manches Mal auch ertappt. Denn das Stück hält der heutigen Gesellschaft zweifelsohne den Spiegel vor: politische Korrektheit, Streit- und Diskussionskultur, aber auch Scheinheiligkeit, Selbstgerechtigkeit und Empörung – hochaktuelle Themen, Verhaltensweisen und gesellschaftliche Strömungen, die auf unterhaltsame und satirisch-zynisch überzeichnete Weise auf die Bühne gebracht werden.
Zwei Stunden voller Witz, Esprit und Bissigkeit, die geradezu vorbeifliegen und die vom Premierenpublikum völlig zu recht mit tosendem und rhythmischem Applaus belohnt wurden. Die spürbare Leidenschaft und sichtliche Spielfreude des Ensembles, sowie die sprühenden Funken des temporeichen Pointenfeuerwerks auf der Bühne sind ohne jeden Zweifel auf die ZuschauerInnen übergesprungen.
Am Ende verlässt man glücklich und gut gelaunt den Theatersaal und darf erleichtert und dankbar sein, wenn die letzten Abendessen im Freundes- und Familienkreis harmonisch und ohne vergleichbare Eskalationen abgelaufen sind. Eine kleine Übung in Achtsamkeit: Denn nach diesem Theatererlebnis weiß man das auf einmal wieder wahrlich zu schätzen.
Und das Team des Theater Nikola hatte sich im Anschluss auf jeden Fall eine ordentliche, ausgelassene – und hoffentlich harmonisch-entspannte – Premierenfeier redlich verdient. Bravi!
Gesehen am 15. April 2023 im Theater Nikola Landshut
„Der Vorname“ ist im April und Mai 23 noch an einigen Terminen in Landshut zu sehen. Genaue Daten und weitere Details findet man jederzeit auf der Homepage des Theater Nikola e.V..
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Wozu inspirierte mich bzw. woran erinnerte mich „Der Vorname“:
Für den Gaumen:
In der Landshuter Inszenierung wird ein marokkanisches Buffet mit vielen kleinen Häppchen und Köstlichkeiten serviert: unter anderem Tajine, Hummus, Shakshuka und als Nachspeise Lokum. Kein Wunder, dass Elisabeth alias Sissi dafür immer wieder in der Küche steht…
Zum Weiterschauen:
Im Gegensatz zu mir werden viele die Verfilmung von Sönke Wortmann aus dem Jahr 2018 wohl schon kennen – hochkarätig besetzt mit Caroline Peters, Janina Uhse, Christoph-Maria Herbst, Florian David Fitz, Justus von Dohnányi, Iris Berben und Serkan Kaya. Jetzt – nach dem Theatergenuss – kann ich dem Film wohl bei Gelegenheit auch mal eine Chance geben.
Für einen Theaterbesuch:
Für alle, denen der Weg nach Landshut zu weit ist: Aktuell wird „Der Vorname“ unter anderem auch am Landestheater Schwaben und im Kellertheater Hamburg gespielt. Zu den Inszenierungen kann ich natürlich nichts sagen, aber die Bühnen freuen sich immer über Publikum.
Zum Weiterlesen:
Nachdem ich schon bei der letzten Theaterbesprechung des Nikola-Theaters im Anschluss ein paar Theaterkrimis empfohlen habe, möchte ich die Tradition gerne beibehalten. Schließlich gibt es etwas Neues im Genre:
Denn noch unharmonischer als bei „Der Vorname“ und geradezu tödlich geht es in Ursula Poznanskis neuestem Kriminalroman „Böses Licht“ zu.
Im renommierten Wiener Burgtheater wird während der Aufführung ein Garderobier getötet und landet auf einem Thron auf offener Bühne von Shakespeares „Richard III.“. Wer also hinter die Kulissen schauen und bei der Mordermittlung dabei sein möchte, hat hier die Möglichkeit:
Ursula Poznanski, Böses Licht
Knaur
ISBN: 978-3-426-22783-1
Danke für den Verweis auf Hamburg! 😁👍
Abendgrüße 🌅🍵🌼
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Sehr gerne, liebe Christiane! Es war mir ein Vergnügen und ein Anliegen… alle Theaterschaffenden freuen sich über Publikum…
Herzliche Abendgrüße zurück ins schöne Hamburg!🍵🌼
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Danke, Barbara, für den Bühnenkracher und Deine Betrachtung.
Herzlich Bernd
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Sehr gerne, Bernd. Es war mir ein Vergnügen. Einen schönen Freitag und einen guten Start ins Wochenende! Barbara
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