Urlaubsgedanken anderer Art

Sommer, Sonne, Strandkorb und das Wellenrauschen der Ostsee – unbeschwerte Urlaubstage am Wasser genießen. Die Seebäder erlebten gerade im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen enormen Aufschwung und seit vielen Jahrzehnten suchen Menschen an der Küste Ruhe und Erholung. Dass der Antisemitismus jedoch leider gerade auch vor den vermeintlich friedlichen Urlaubsparadiesen keinen Halt machte, kann man in Kristine von Sodens Buch „Ob die Möwen manchmal an mich denken? – Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee“ nachlesen.

„Strände sind die Schreibtafeln der Meere. Bei auflandigen Winden, zumal bei Sturm, werden mit jeder Welle seegrasgrüne Hieroglyphen und von Tanggirlanden umgeschlungene Texturen angespült, dazwischen federleichte Panzer von Strandkrabben und mit Seepocken besetzte Sandklaffmuschelschalen – Bruchstücke vergangenen Lebens, vom Salz durchlöchert, vom Sand geschliffen, vom Meerwasser gebleicht.“

(S.8)

Vielmehr ist in dem reich bebilderten und auf zahlreichen Quellen und Archivfunden basierten Werk zu erfahren, dass der Antisemitismus bereits früh Einzug in so manchem Küstenort hielt. Von Soden beschreibt, dass schon früh Juden diskriminiert und von Stränden und Urlaubsunterkünften ausgegrenzt wurden, so dass es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts Warnungen vor oder Empfehlungen für bestimmte Urlaubsorte innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gab, lange bevor der NS-Staat nach der Machtübernahme Verbote für Juden erließ.

„Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee geschieht bis zum Ende der Weimarer Republik in erster Linie „von unten“ und über all die Jahre zügellos Rechtsnormen missachtend, was den Akteuren, in der Hauptsache antisemitischen Gästen, gleichgültig ist.“

(S.181)

Die Autorin erzählt chronologisch und räumlich ausgehend von den älteren Seebädern im Osten hin zu den neueren im Westen, wie sich die Lage der jüdischen Gäste zunehmend verschlechterte und zuspitzte. Basierend auf zahlreichen Zitaten aus Romanen, Reportagen, Texten, Tagebüchern und Briefen berühmter SchriftstellerInnen und KünstlerInnen sowie reich versehen mit Anekdoten und Geschichten vermittelt von Soden einen umfassenden Eindruck der Atmosphäre der damaligen Zeit und der erschreckenden Geschwindigkeit, mit der sich Antisemitismus und NS-Ideologie in den Ostseeorten ausbreiteten.

Konnten Käthe Kollwitz Anfang des 20. Jahrhunderts in Rauschen, Else Lasker-Schüler in Kolberg oder Erich Kästner in Müritz noch unbeschwerte Urlaubstage am Ostseestrand verbringen, so nimmt Joseph Roth bei seiner Reise 1924 bereits deutliche antisemitische Strömungen wahr, über die er als Journalist berichtet:

„Das Meer aber ist ewig, rein und unberührt von dem kindischen und grausamen Spiel der Menschen. Man sieht in die weite Unendlichkeit aus Himmel und Wasser und vergißt. Der Wind, der die Hakenkreuzfahne bläht, weiß nichts von ihr. Die Welle, in der sie sich spiegelt, kann nichts dafür, daß sie entweiht wird.“

(S.105, Zitat von Joseph Roth)

Hannah Arendt, Asta Nielsen, Mascha Kaléko und Victor Klemperer und ihre Ostseeaufenthalte finden ebenso Platz im Buch wie Alfred Kerr oder Kurt Tucholsky.
Schon bald mussten viele den Ostseebädern und Deutschland den Rücken kehren und sich ins Exil retten.
Ob auf Hiddensee, Rügen oder Usedom, in Graal-Müritz, Prerow, Warnemünde oder Kühlungsborn – ab 1937 waren nahezu alle Orte und Strände für jüdische Badegäste verboten.

Es ist berührend zu lesen, dass die Autorin ihr Buch den jüdischen Geschwistern Sonja, Irma und Mirjam Sonnenschein gewidmet hat. Im Buch sind die Mädchen, die bereits früh Waisen wurden, auf einer Fotografie aus dem Jahr 1932 zu sehen. Im Juli 1938 beschwerte sich ein Urlaubsgast beim Kurdirektor und Bürgermeister von Prerow darüber, dass sich diese Mädchen in Begleitung einer Erzieherin in einem benachbarten Strandkorb aufhielten und forderte „schleunigste Entfernung“.
1943 wurden die Sonnenschein-Schwestern in Auschwitz ermordet.

Kristine von Soden war für den NDR und DLF sowie als Dozentin an der Universität Hamburg tätig und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Biografien jüdischer Schriftstellerinnen und Künstlerinnen. An ihrem Sehnsuchtsort Ahrenshoop bietet sie im Sommer literarische Rundgänge an und betreibt eine Schreibwerkstatt.
Für die gerade erschienene Neuausgabe hat sie ihr Buch, das zunächst 2018 erschienen war, erweitert und vor allem mit Dokumenten bzw. Informationen zu Warnemünde und Kühlungsborn angereichert.

Für OstseeliebhaberInnen und Urlauber, die sich gerne auch etwas näher mit der Geschichte ihres Urlaubsziels beschäftigen, ist dieses lesenswerte Buch eine wahre Schatzkiste mit reichhaltigen, fundiert recherchierten Informationen, Anekdoten und literarischen Querbezügen, die zur weiteren Lektüre und Recherche anregen. Eine gute Gelegenheit, um vielleicht auch im Urlaub am Ostseestrand mal einen Moment innezuhalten und sich bewusst vor Augen zu führen, welche Auswirkungen und Folgen der Antisemitismus gerade auch in den beliebten Urlaubsparadiesen hatte.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim AvivA Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Kristine von Soden, „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“
Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee
AvivA
ISBN: 978-3-949302-17-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Ob die Möwen manchmal an mich denken?“:

Für einen Ausstellungs- oder Museumsbesuch:
Vom 11.05. bis zum 10.08.2023 wird im Max-Samuel-Haus in Rostock die Ausstellung „Die Vertreibung jüdischer Badegäste an der Ostsee“ zu sehen sein, die im Anschluss vom 18.08. bis zum 15.10.2023 ins Kunstmuseum Ahrenshoop weiterwandert.

Zum Weiterlesen (I):
Im Ostseebad Müritz lernten sich im Sommer 1923 Dora Diamant und Franz Kafka kennen. Über diese Liebesgeschichte schreibt Michael Kumpfmüller in seinem 2011 erschienenen Roman „Die Herrlichkeit des Lebens“, der daher gleich einmal auf meine Merk- und Wunschliste gewandert ist:

Michael Kumpfmüller, Die Herrlichkeit des Lebens
Fischer Taschenbuch
ISBN: 978-3596193608

Zum Weiterlesen (II):
Der Titel des Buchs ist ein Zitat Asta Nielsens, die sich mit ihrem Ferienhäuschen „Karusel“ auf Hiddensee ihr persönliches Ferienparadies geschaffen hatte, das sie jedoch Mitte der Dreißiger Jahre aufgrund des Erstarken des Nationalsozialismus für immer verließ.
Gerade eben ist eine zauberhaft schöne, von Kat Menschik illustrierte Ausgabe von Erzählungen Asta Nielsens mit dem Titel „Im Paradies“ erschienen. Dieses Schmuckstück liegt auch bereits hier neben mir und ich werde es sicherlich auch bald noch näher hier auf der Kulturbowle vorstellen.

Asta Nielsen, Im Paradies – Erzählungen
Illustriert von Kat Menschik
Galiani Berlin
ISBN: 978-3-86971-280-2

Zum Weiterlesen (III):
Aktuell wohl nur noch antiquarisch erhältlich ist die Textsammlung „Die Welt im Licht“ von Alfred Kerr. Kerr war regelmäßiger Gast an der Ostsee – Hiddensee, Sellin auf Rügen, Heiligendamm, Graal – und erkundete die Landschaft am liebsten auf dem Fahrrad – wie ich bei der Lektüre gelernt habe.

Zu Weiterlesen (IV):
Kristine von Soden hat in ihrem Buch „Und draußen weht ein fremder Wind..“ darüber hinaus auch die Geschichten von Fluchten jüdischer Frauen beschrieben, z.B. von Mascha Kaléko, Else Lasker-Schüler, Judith Kerr oder Gabriele Tergit und vielen weiter mehr…

Kristine von Soden, „Und draußen weht ein fremder Wind…“
Über die Meere ins Exil
AvivA
ISBN: 978-3-932338-85-4

5 Kommentare zu „Urlaubsgedanken anderer Art

    1. Das stimmt, Bernd. Aber wie Joseph Roth es im gewählten Zitat so schön beschreibt, konnte „die schöne Ostsee“ nichts dafür.
      Von Asta Nielsen habe ich neben „Im Paradies“ auch noch die Memoiren „Die schweigende Muse“ hier bei mir liegen. Passend zu meiner Hiddensee-Lektüre aus dem letzten Jahr: https://kulturbowle.com/2022/07/27/hiddensee-lekture/
      Herzliche Grüße und eine gute restliche Woche wünscht Barbara

      Gefällt 1 Person

  1. Liebe Barbara,
    meine zu kurze Reaktion „Bittere Erinnerungen“ an die Ostsee bezog sich auf die Schilderung der damaligen Gäste und ihr Schicksal in den NS-Verbrechen.
    Danke für den Rückblick auf Deinen Beitrag im letzten Sommer. Was für eine wunderbare Insel! Natürlich kann die Ostsee nix dafür, was Menschen dort veranstalten.
    Beim Nachschauen fand ich, dass ich Deinen Beitrag wenigstens „geliked“ hatte, nicht weiter kommentiert, wohl weil ich am letzten Juli-Wochenende beim Bardentreffen in der Stadt war.
    An die Ostsee pflege ich Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend. Am Priwall in Travemünde konnten wir im Familienurlaub am Strand spazieren bis zum streng überwachten Zaun: „Halt! Hier Zonengrenze!“
    Nachdem die Grenze aufgehoben war, durfte ich einen Urlaub zur Osterzeit auf Rügen verbringen mit einem Tagesbesuch auf Hiddensee.
    Jetzt bin ich schon gespannt auf Deine weitere Lektüre von Asta Nielsen.
    Meeresfrische Grüße
    vom Bernd

    Gefällt 1 Person

    1. Lieber Bernd,
      Ich hatte Deine keinesfalls zu kurze Reaktion schon richtig verstanden.
      Danke aber auch für die Ergänzung bzw. weitere Klarstellung und auch für Deine persönlichen Erfahrungen und „Urlaubsgedanken“ zur Ostsee.
      Die wunderbaren Inseln sind wirklich ein „Paradies“, um bei Asta Nielsen zu bleiben, und immer eine Reise wert. Mich wird es sicherlich auch irgendwann wieder für einen Urlaub dorthin ziehen.
      Dir eine wunderbare restliche Woche und frühlingsfrische Grüße (wobei momentan das frisch noch überwiegt) vom Isarstrand,
      Barbara

      Gefällt 1 Person

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