Lange Reise zur Freiheit

Eine ganz besondere literarische Reise durfte ich in Giovanna Giordanos Roman „So viele Paradiese“ begleiten. Ein wahrhafter Schmöker, der in vielerlei Hinsicht so reich, üppig und opulent ist, wie die paradiesische Illustration auf dem Umschlag und der mich ausgehend von Sizilien auf eine immer wieder überraschende Odyssee auf der Suche nach Freiheit entführt hat.
In Italien, der Heimat der Autorin, die in Messina geboren ist und in Catania lebt, war „So viele Paradiese“ 2022 für den renommierten Premio Strega nominiert.

Gleich auf der ersten Seite des Romans fällt folgender Satz:

„Dies ist kein Märchen, sondern die Geschichte eines einfachen, ehrlichen Jungen von zwanzig Jahren.“

(S.9)

Und doch möchte ich nach über 550 Seiten zu einem gewissen Grad widersprechen, denn dieser besondere und etwas aus der Zeit gefallen wirkende Roman hat so Vieles, das an ein Märchen – wenn auch für Erwachsene – erinnert.

„Was soll denn das sein, Freiheit?“
„Etwas ungeheuer Schönes, vielleicht wie eine Traube voller Sterne im Bauch. Frei, das ist ein Blauwal in den Tiefen der Meere. Nicht frei, das ist ein Frosch in einem brodelnden Weiher“, erwiderte Antonio.

(S.10)

Es ist die Geschichte von einem, der auszog, die Freiheit und das Glück zu suchen und auf seiner Reise unterschiedlichen Menschen begegnet. Solchen, die ihm wohl gesonnen sind und auch solchen, die es nicht gut mit ihm meinen.

„Nichts bringt Menschen einander näher als das gemeinsam Erlebte, sei es schön oder schrecklich, als gemeinsame Entdeckungen und Unbekanntes, das man miteinander bestaunt.“

(S.269)

Wir schreiben das Jahr 1923. Der zwanzigjährige Antonio stammt aus dem sizilianischen Örtchen Gesso und träumt davon, im fernen Amerika sein Glück zu finden. Doch ein solches Auswanderungsvorhaben braucht Zeit und Vorbereitung, zumal die eigene Familie nicht begeistert ist, ihn ziehen zu lassen.

„Auf Sizilien gibt es Mütter, die salben sorgfältig jeden Tag die Nabelschnur zu ihren Söhnen mit Zucker und Öl, Tag für Tag. Diese Nabelschnüre sind nicht zu durchtrennen, was man auch tut, und je größer die Söhne werden, umso fester binden die Mütter sie an sich, mit Worten und vor allem mit ihren Kochkünsten.“

(S.28)

Von der kleinen Welt des Dorfes auf einer Insel, verschlägt es ihn sofort auf den nächsten in sich geschlossenen Mikrokosmos: das Schiff, das ihn mit auf die Reise über den Ozean nehmen soll. Umgeben von einer illustren Reisegesellschaft und später wechselnden Weggefährten bläst ihn der Wind des Schicksals jedoch immer wieder in unerwartete Richtungen und er muss so manchen Rückschlag einstecken, der ihn auf dem Weg zur ersehnten Freiheit ausbremst.

„Nur Mut, mein Freund. Sind dir die kurzen Reisen vielleicht lieber? Die kurzen Geschichten? Ich dagegen mag es, mich in langen Reisen und langen Geschichten zu verlieren.“

(S.530)

Immer wieder erinnert sich Antonio an sein Zuhause, das er zurückgelassen hat, und so wie die Sehnsucht nach der Freiheit ihn antreibt ist auch das Heimweh sein ständiger Begleiter. In kurzen Briefen berichtet er seinen Liebsten mit kindlicher Naivität und unverstelltem Blick von seinen Abenteuern, von Freud und Leid, von Erfolgen und Missschlägen.

Und es gibt Vieles, das er vermisst:

„Aber es gibt Dinge, die lassen sich gar nicht einpacken – Sonnenstrahlen, Sternenstaub, Insoliatrauben, Grillen und Katzen, frischer Spargel, der Duft von Brot, Minestrone mit wilden Kräutern, der Schirokko. Es gibt eben Dinge, die haben ihren festen Platz, und von dort kann man sie nicht wegnehmen, dachte Antonio und tröstete sich mit anderem.“

(S.106)

Das Buch ist voller Lebensweisheiten, Sprichwörter, Metaphern und Sinnsprüche. So viele Zitate, die man notieren und aufführen möchte, die etwas Allgemeingültiges und Grundlegendes haben – für eine gewisse Einstellung zum Leben und eine Haltung sprechen. Und die darüber Zeugnis ablegen, was wirklich wichtig ist im Leben und die teils mit Pathos, teils mit augenzwinkernder Leichtigkeit der Leserschaft vor Augen führen, was Resilienz bedeutet und wie man Schicksalsschlägen mit Humor, Liebe, Geduld, Toleranz und einem gesunden Urvertrauen an das Gute und einem Blick für das Schöne in der Welt, trotzen kann.

„Und Liebe ist manchmal eine Zitronengranita, die auf der Zunge schmilzt, und manchmal ist sie ein bisschen härter und hält etwas länger, in etwa wie ein geblümter weißer Porzellanteller.“

(S.146)

Auch wenn ich zu Beginn ein wenig gebraucht habe, mich einzulesen: Sprachlich ist das Buch ein Schatzkästchen, ein Sinnenrausch, fantasievoll, ausschweifend und opulent. Erzähl- und Fabulierfreude satt. Deshalb lasse ich hier auch ausnahmsweise besonders viele Zitate für sich sprechen, damit man bereits einen ersten Eindruck dieser besonderen Stilistik bekommen kann. Und glaubt mir, das sind noch lange nicht alle Textstellen, die ich mir notiert habe und die ich gerne angeführt hätte…

Auf dieser langen, literarischen Reise ist es wie im richtigen Leben: der Weg ist das Ziel. Eine Lektüre, für die man sich Zeit nehmen sollte – nichts für Ungeduldige oder Menschen, die es eilig haben. Ein romantischer, verspielter, überbordender Roman, der märchenhaft-mystisch den jungen Antonio auf seiner Suche nach dem Lebensglück begleitet.

Über allem schwebt die Sehnsucht nach Freiheit und einer selbstbestimmten und erfüllten Art zu leben. Die Autorin ergründet gemeinsam mit ihrem tragikomischen Helden, was ein gelungenes Leben ausmacht und verdeutlicht auf bildhafte und poetische Weise, dass das Paradies für jeden Menschen etwas anderes bedeuten kann. Es gibt eben nicht den einzig seligmachenden Lebensentwurf oder den einzig wahren Ort, sondern „so viele Paradiese“ – vorausgesetzt man ist in der Lage, diese für sich als solche zu erkennen.

„Und als er so am Steuer den Ozean betrachtete, da begriff er auch, was ein „Ozean voller Glück“ bedeutet, einer voller Schmerz oder voller Liebe, etwas, das man nicht fassen kann, auch nicht mit dem Blick. Etwas, auf dem nicht eine Spur von Land in Sicht ist, weder tags noch nachts, etwas in dessen Mitte man sich klein fühlt oder mächtig.“

(S.410)

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Giovanna Giordano, So viele Paradiese
Aus dem Italienischen von Elisa Harnischmacher
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0131-0

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Giovanna Giordanos „So viele Paradiese“:

Für den Gaumen (I):
Eine besondere Bedeutung kommt dem Amarena bzw. dem Likör aus Amarenakirschen zu, der Antonio an seine Heimat erinnert:

„Mein Leben und dein Leben sind wie der Amarena; süß und bitter.“

(S.118)

Für den Gaumen (II):
Ein geradezu magisches und geheimnisvolles Gericht wird für Antonios Abschiedsessen zubereitet: Kaninchen in Schokolade.

„Niemand durfte dabei sein, wenn sie die letzten Griffe und Pfiffe an dem Kaninchen in Schokolade vornahm. Es hätte ein Zucken gereicht, ein schlecht aufgeschlagenes Ei, eine schief geschnittene Zwiebel, ein Aufstoßen, ein Wispern, ein Wort, irgendeine Kleinigkeit, und die Makellosigkeit wäre für immer dahin gewesen. Deshalb also schickte sie für den Schlussakt alle hinaus, und immer noch weiß niemand aus der Familie, wie sie dieses Kaninchen schlussendlich zubereitete.“

(S.165)

Zum Weiterlesen:
In Kürze werde ich einen weiteren, aber vollkommen anderen Auswandererroman hier auf der Kulturbowle vorstellen: Claudia Weiss gibt in „Jenseits von Hamburg“ einen Einblick in die Hamburger Auswandererhallen im Jahr 1906.

Claudia Weiss, Jenseits von Hamburg
Gmeiner Verlag
ISBN: 978-3-8392-0416-0

8 Kommentare zu „Lange Reise zur Freiheit

  1. Wieder eine mitreißende Besprechung. Ich mag solche Märchen. Stefanie von Schulte hat mit Junge mit schwarzem Hahn etwas ähnliches nur sehr barock geschrieben. Ich bin noch immer verzaubert. Dieses Buch hier hat mich sehr neugierig gemacht. Danke!!

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    1. Gern geschehen, Alexander. Das Buch von Stefanie von Schulte habe ich bisher noch nicht gelesen, daher kann ich leider keinen Vergleich anstellen. Giordanos Buch ist jedoch gerade aufgrund der Erzählweise etwas Besonderes und hebt sich dadurch vom Mainstream ab. Man sollte aber ein bisschen Zeit und Muße mitbringen für die Lektüre. Herzliche Grüße, einen guten Freitag und ein schönes Wochenende! Barbara

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      1. Ich habe es mir bereits besorgt, wann ich aber dazu komme, es auch zu lesen, weiß ich noch nicht 😦 … aber jetzt liegt es auf dem Stapel der noch zu lesenden Büchern! Danke dafür! Ich mochte den Roman von vor Schulte sehr. Ich habe seiner Zeit auch eine Besprechung geschrieben, vielleicht gibt die einen Eindruck!! Viele Grüße und ein tolles Wochenende!

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      2. Das mit dem „nicht wissen, wann man dazu kommt, etwas zu lesen“ kenne ich sehr gut. 🙂
        Ich war gerade auf Deinem Blog stöbern und habe die Rezension zu Stefanie von Schultes Buch nachgelesen. Klingt interessant, aber auch bei mir liegt aktuell schon einiges auf dem Stapel bzw. besser ausgedrückt auf den Stapeln 😉… Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende mit viel Zeit zum Lesen!

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  2. Danke für den Tipp! Das Thema interessiert mich, denn ich betreibe Ahnenforschung und erkunde gerade die Nachkommen eines Ururgroßonkels, der von der Pfalz über Bremen und Southampton nach New York ausgewandert ist.

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    1. Sehr gerne. Das klingt auch bei Dir nach einer interessanten Reise in die Vergangenheit. Da wünsche ich viel Erfolg! Ist sicherlich spannend, was sich da bezüglich der eigenen Familiengeschichte herausfinden lässt. Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende!

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