Wer meinen Blog schon eine Weile verfolgt, hat vermutlich gemerkt, dass ich eine unverhohlene Schwäche für Krimi-Klassiker habe und mittlerweile geradezu angefixt bin von den durch den Kampa-Oktopus Verlag wiederentdeckten Kriminalromanen der schottischen Autorin Josephine Tey (1896 – 1952). Auch der soeben erschienene Band „Wie ein Hauch im Wind“ aus dem Jahr 1950 (Originaltitel: „To love and be wise“), der in einem englischen Künstlerdorf spielt, offenbart erneut buchstäblich die große Krimikunst der britischen Schriftstellerin.
„Ein ziemlich merkwürdiges Völkchen lebt in diesem Dorf; ich weiß nicht, ob Sie das wissen.“
(S.115)
Im englischen Dörfchen Salcott St Mary haben sich zahlreiche exzentrische Künstlerinnen und Künstler aus London niedergelassen. Ein erfolgreicher Bühnenstar, ein verkrachter Balletttänzer, eine Romanautorin, ein fragwürdiger Journalist – ein wahrlich bunter, illustrer Haufen, der Inspector Alan Grant dort erwartet. Doch die sherrygetränkte Feierlaune der Kunstszene erhält bald einen empfindlichen Dämpfer.
Denn ein amerikanischer Starfotograf, der von geradezu überirdischer – um nicht zu sagen teuflischer – Schönheit zu sein scheint und vielen DorfbewohnerInnen den Kopf verdreht, verschwindet plötzlich nahezu spurlos auf einer mehrtägigen Rudertour. Ist er im Fluss ertrunken? Und wer könnte Interesse an seinem Tod gehabt haben?
Es ist faszinierend zu lesen, wie die versierte Autorin ihr Personal im Roman gekonnt in Stellung bringt, eine spannende Ausgangslage schafft und für so manche Verblüffung sorgt. Es ist angerichtet für kunstvollen Krimigenuss.
„Als Grant um Viertel vor sieben in der Mühle eintraf, kam es ihm so vor, als ob er ganz Salcott St Mary durch ein feines Sieb geschüttelt habe, und absolut nichts war in dem Sieb zurückgeblieben. Er hatte einen exquisiten Querschnitt englischen Lebens kennengelernt, und um diese Erfahrung war er immerhin reicher. Aber der Lösung des Problems, das ihm anvertraut war, war er keinen Zollbreit näher gekommen.“
(S.190)
Der sympathische und erfahrene Scotland Yard Ermittler Alan Grant, der in mehreren von Teys Krimis die Hauptrolle spielt, hat mit diesem Fall eine harte Nuss zu knacken. Denn von der Leiche fehlt jede Spur und die Künstlerkolonie wird zunehmend zum Schlangennest, in dem es nicht an Motiven und dunklen Geheimnissen mangelt.
„Grant fragte sich insgeheim, ob es noch irgendwelche Illusionen gab, die der heutigen Jugend geblieben waren. Wie eine Welt ohne Märchen wohl aussah? Oder ersetzte die hübsche Illusion, dass es der Mittelpunkt der Welt sei, einem heutigen Kind das, was früher einmal phantasievollere und weniger egoistische Tagträume gewesen waren? Der Gedanke hob merklich seine Laune. Zumindest hatten sie Verstand, die heutigen Kinder.“
(S.187)
Für mich sind Teys Krimis immer eine wunderbare Zeitreise in eine Vergangenheit, in der Ferngespräche geführt wurden, Butler mit silbernen Visitenkartentabletts hantierten und feuchtfröhliche Sherryparties im Salon oder der Bibliothek gefeiert werden. Britische Lebensart des vorangegangenen Jahrhunderts und doch spüre ich bei jeder Lektüre deutlich, dass Tey mit ihrer Art zu schreiben und ihren oft unkonventionellen Themen doch auch ihrer Zeit voraus war. Zudem gibt es in ihren Büchern starke, selbstbewusste Frauenfiguren zu entdecken, wie zum Beispiel Marta Hallard, die kluge Bühnenschauspielerin, die Alan Grant nicht nur ein wenig den Kopf verdreht und ihn fürstlich bewirtet, sondern ihm auch mit weiblichem Rat und Intuition zur Seite steht.
„Willst du etwa behaupten, dass dieser Kerl ein Profi ist?“, fragte Marta und senkte ihre Stimme dabei um eine volle Quinte, sodass Jahre des Tourneetheaters darin mitschwangen, Jahre der armseligen Provinzunterkünfte, der sonntäglichen Zugfahrten und des Vorsprechens in ungeheizten, dunklen Theatern.“
(S.16)
Was mich als große Theaterliebhaberin zudem sehr für sie einnimmt, ist die Tatsache, dass Tey als renommierte Theaterautorin auch gerne Bezug nahm – sei es in der tatsächlichen Handlung oder auch in sprachlichen Bildern – auf die Londoner Theaterszene und ihre Erfahrungen mit diesem schillernden Milieu.
Manchmal auch mit einer ordentlichen Prise Ironie und etwas Wehmut:
„Man wusste nie, von wem ein Theaterstück geschrieben worden war. Das Leben eines Theaterschriftstellers musste erbärmlich sein . Fünfzig zu eins, sagte der Statistiker, standen die Chancen dagegen, dass ihr Stück länger als drei Wochen lief; und selbst da nahm niemand ihren Namen auf dem Programm zur Kenntnis.“
(S.284)
Sie, die selbst unter dem Pseudonym Gordon Daviot etliche sehr erfolgreiche Theaterstücke verfasst hat, wusste wovon sie schrieb.
Und um nochmal die lebensklugen Worte der großen Autorin zu zitieren:
„Extravaganzen waren für die Jugend da; für Erwachsene gab es die Vergnügungen der Erwachsenen.“
(S.315)
Für mich zählen ihre Bücher zweifelsohne zu den herrlichsten literarischen Vergnügungen für Erwachsene, welche die große, weite Krimilandschaft zu bieten hat. Denn Tey hat mit feinem Auge und spitzer Feder herrlich ironische und süffisant humorvolle Krimis mit dem gewissen Etwas geschrieben, die auch heutzutage noch ein großes Lesevergnügen sind.
„Was gab es an diesem Fall, was ihm das Gefühl vermittelte, jemand spiele ihm etwas vor? Das Gefühl, jemand habe ihn in die Ränge gedrängt, sodass der Orchestergraben ihn von der Realität trennte. Der Assistant Commissioner hatte in einem ungewöhnlich gesprächigen Augenblick einmal zu ihm gesagt, dass er über die unbezahlbare Eigenschaft verfüge, die man überhaupt in seinem Beruf haben könne: Phantasie.“
(S.211/212)
Diese Phantasie teilt Josephine Tey unbestritten mit ihrer Titelfigur Inspector Alan Grant. Und ich mag ihren Witz, so dass ich mir als Begleitung zu einer herrlich dampfenden Tasse Tee kaum stilvolleren und unterhaltsameren Krimilesegenuss vorstellen kann. Klug, niveauvoll, unerwartete Twists und zugleich auch noch amüsant – große Krimikunst eben!

Dieses wunderbare Buch war ein großartiger Auftakt, denn damit habe ich den ersten Punkt meiner „24 für 2024“ erfüllt – Punkt Nummer 5) auf der Liste: Ich möchte einen Kriminalroman lesen. Was wäre da passender als ein Krimi der Autorin, die mit „Alibi für einen König“ laut der Autorenvereinigung Crime Writers’ Association den „besten Kriminalroman aller Zeiten“ verfasst hat.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Oktopus (Kampa) Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Josephine Tey, Wie ein Hauch im Wind
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Oktopus
ISBN: 978-3-311-30056-4
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Josephine Teys „Wie ein Hauch im Wind“:
Für den Gaumen (I):
Die Polizisten stillen ihren Hunger im Dorfpub „White Hart“, wo es am Feierabend „Bier und Würstchen mit Püree“ (S.139) gibt.
Für den Gaumen (II):
Grant hingegen wird von Marta zum Frühstück sogar mit individuellen Sonderwünschen verwöhnt:
„Wie magst du die Eier? Spiegelei?“
(S.223)
„Wenn du es wirklich wissen willst, als Eier im Glas, solange sie noch sehr weich sind.“
Dazu gibt es „Graubrot“ (S.224).
Für den Gaumen (III):
Und dann gibt es noch einen wärmenden kulinarischen Tip von Marta:
„Ein Curry ist genau das, was du nach einem Tag draußen in unserem großartigen englischen Frühling brauchst.“
(S.246)
Zum Weiterlesen:
Josephine Tey war und ist für mich persönlich eine der spannendsten Krimiwiederentdeckungen der letzten Jahre. Ich bin ihrer Art, kluge und unkonventionelle Krimis zu schreiben, mittlerweile vollkommen verfallen. Daher freue ich mich, dass der Kampa Verlag bereits weitere Fälle für die kommende Zeit angekündigt hat.
Hier geht es zu meinen bisherigen Rezensionen von Josephine Teys Krimis „Nur der Mond war Zeuge“, „Alibi für einen König“ und „Der letzte Zug nach Schottland“.
Josephine Tey, Nur der Mond war Zeuge
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Kampa
ISBN: 978 3 311 30025 0
Josephine Tey, Alibi für einen König
Aus dem Englischen von Maria Wolff
Oktopus bei Kampa
ISBN: 978-3-311-30035-9
Josephine Tey, Der letzte Zug nach Schottland
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Oktopus
ISBN: 978-3-311-30032-8
Wie schön, bin ich mit meiner Liebe für Krimis nicht alleine. Bei mir wird es in Zukunft mehr davon geben. Josephine Tey habe ich auch gerade hier, „Der letzte Zug nach Schottland“ wird mein erstes Buch von ihr sein.
Ich las gerade Nicole Upton, „Mit dem Schnee kommt der Tod“. In ihrer Krimireihe ist Josephine Tey im Ermittlerteam. Ich kann es sehr empfehlen (was ich bald auch noch tun werde).
Liebe Grüsse
Sandra
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Nein, liebe Sandra. Diese Leidenschaft teilen wir definitiv.
Ich bin mir sicher, dass Du „Der letzte Zug nach Schottland“ mögen wirst und bin dann schon sehr gespannt auf Deine Sicht bzw. Deinen Beitrag dazu. Meinen findest Du hier:
Für mich war Josephine Tey in den letzten Jahren wirklich eine wunderbare Wiederentdeckung und 2023 sind jetzt die tollen Krimis von Nicola Upson dazugekommen, welche sie ja zu einer der Hauptfiguren machen, wie Du beschreibst.
„Mit dem Schnee kommt der Tod“ hatte ich im Rahmen meines Weihnachtsbeitrags vorgestellt und mochte ihn sehr:
Auch die anderen bisher erschienen Bände haben mich überzeugt und die Upson-Reihe werde ich definitiv weiterlesen.
Herzliche Grüße und weiterhin viel Freude mit feinen und niveauvollen Krimis! Barbara
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Als ich den Namen Alan Grant las, da klickte es 😊
Ich kann Deine Vorliebe sehr gut verstehen
Liebe Grüße
Nina
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Liebe Nina,
Ja, die Krimis wurden früher auch schon von anderen Verlagen herausgegeben.
Aber ich finde es wunderbar, dass der Kampa/Oktopus Verlag diese jetzt wieder in schöner Aufmachung der geneigten Leserschaft zugänglich macht.
Und schön, wenn wir diese Vorliebe teilen. 🙂
Herzliche Grüße!
Barbara
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