Wer einmal das beindruckende Naturschauspiel eines heftigen Sommergewitters am Gardasee erlebt hat, wird die Stimmung in Bodo Kirchhoffs neuem Roman „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ sofort vor dem inneren Auge sehen und bei der Lektüre geradezu körperlich spüren können. Schon allein für die Schilderungen dieses Wetterphänomens – der Entladung ungeheurer Kräfte mittels Blitz, Donner und dem Grollen im Kessel des Sees, das von sämtlichen Hügeln zurückhallt und die unbezähmbaren Sturzfluten, in welchen der Regen die Hänge hinunterschießt und alles mit sich reißt – ja, schon allein dafür lohnt sich die Lektüre. Da werden Erinnerungen wach und doch hat der Roman noch einiges mehr zu bieten.
„An den Tagen vor dem Augustunwetter – eine der Erfahrungen, seit er auf dem Hang lebt – kann die größte Hitze mit den Stunden der Stille zusammenfallen, daran ändern auch die Zikaden nichts, ihr Gewirr steigert beides noch, und wenn es abbricht, sind Stille und Hitze wie zusammengeballt.“
(S.106)
Die Zikaden zirpen, über dem See liegt eine lähmende Hitze. Bodo Kirchhoff – selbst Jahrgang 1948, d.h. 75 Jahre alt mit einem Wohnsitz am Lago di Garda – hat mit L.A. Schongauer eine Hauptfigur gewählt, die ihm bezüglich des Alters und des Lebensdomizils nahesteht. Doch Schongauer war Schauspieler und in Hollywood meist auf Nebenrollen als deutscher Nationalsozialist gebucht. Mittlerweile hat er sich aus dem Berufsleben zurückgezogen, seine Ehefrau – eine erfolgreiche Tierfotografin ist vor einiger Zeit vor seinen Augen im Meer ertrunken – und er wohnt nun gemeinsam mit der Hündin Ascha einsam in einem einfachen Hanghäuschen am Gardasee umgeben von Olivenbäumen.
„Von Weitem hört man ein Moped, wie es einen der Hohlwege herauffährt, Signal für den späteren Abend, wenn am See die Lokale schließen und Kellner, die noch bei den Eltern wohnen, heimwärts brausen. Schongauer mag dieses Röhren, das sich nur langsam verliert; er sitzt noch vorm Haus und trinkt Wein, während im Wohnmobil das rote Licht brennt.“
(S.223)
Eine Journalistin aus Deutschland hat sich angekündigt, die ihn interviewen möchte, ihn befragen will zu seiner Karriere, seinem Leben. Eine Frau, die selbst einiges an Ballast mit sich trägt und ihn im verbalen Schlagabtausch ein ums andere Mal aus der Reserve lockt.
„Morgen entlädt sich hier alles, sagt Schongauer.“
(s.146)
Kurz zuvor war schon die junge Reisebloggerin Frida mit ihrem klapprigen Wohnmobil beim Wendemanöver in seiner Einfahrt hängengeblieben. Jetzt benötigt sie nicht nur einen Mechaniker, sondern findet bei Schongauer erzwungenermaßen einen Park- und Schlafplatz. Sie revanchiert sich, indem sie sich um die Hündin kümmert, einkaufen geht und kocht.
Während sie vom Alter her seine Enkelin sein könnte, könnte die Journalistin Almut gut seine Tochter sein. Beide Frauen wecken Gefühle in ihm, die er längst schon vergessen und verdrängt hatte.
Schließlich hat er lange schon niemanden mehr in sein Leben gelassen – außer Ascha, der Hündin – und geradezu mantraartig wiederholt er die Wendung, dass er sein Leben mit einem Tier teilt:
„Ich teile mein Leben mit einem Tier, auch nachts. Mal schlafen wir beide, und mal sind wir wach, wenn draußen Katzen fauchen. Ascha rennt dann hinaus, und ich warte, bis sie zurückkommt. Nach ihren Jagden schläft sei bei mir auf dem Bett weiter, eingerollt. Ich fühle mich auch nachts nicht allein.“
(S.129)
Erotische Spannung, die unerträgliche Hitze und das kurz bevorstehende Gewitter – kein Wunder dass ihm das Atmen schwerfällt, er Angst um sein angegriffenes Herz haben muss. Dazu die schonungslosen Fragen, das Wühlen in intimen Geheimnissen der Vergangenheit – eine aufwühlende Atmosphäre, die unweigerlich auf den großen Knall zusteuert.
„Sie haben sicher auch schon das Bad benützt und dieses Bild gesehen, das ja nicht umsonst hängt, wo es hängt. Und sich vielleicht gefragt, ob immer nur Heilige oder in die Jahre gekommene Männer von weiblichen Gespenstern umzingelt sein müssen. Oder ob es nicht auch mal andersherum sein könnte: dass uns etwas in Versuchung führt.“
(S.257)
Man merkt Kirchhoffs Werk die Erfahrung und Lebensweisheit an. Diesen Roman hätte kein 30-Jähriger so geschrieben. Er lässt sich Zeit, schildert Alltägliches, arbeitet Szenen und Stimmungen fein heraus – das hat etwas Ruhiges, Abgeklärtes und Kontemplatives. Bei der Lektüre spürt man, dass Kirchhoff sich selbst nichts mehr beweisen muss.
Der Roman gleicht einem aktiven Vulkan. Unter der Oberfläche brodelt es ständig, man spürt die Gefahr, die Anspannung und von Zeit zu Zeit wie ein Donnerschlag, der ohne Vorankündigung zeitgleich mit dem Blitz, zu hören ist, bricht wieder eine Eruption hervor, enthüllt der Autor wieder ein dramatisches Detail aus Schongauers Vergangenheit bzw. seiner Lebensgeschichte.
„An Ferragosto hat er den Ort abends immer gemieden, wenn dort alles auf den Beinen ist, selbst die Schoßhündchen, hinterhergezerrt von Frauen auf höchsten Absätzen in einem Gewimmel von Einheimischen und Fremden, die nach dem Essen auf und ab gehen, vom Hafen am See entlang zur Kirche und retour, und auf das Feuerwerk warten wie auf eine Offenbarung, die ihnen sagt, dass es noch einen Reiz hat, am Leben zu sein, auch wenn der Höhepunkt des Sommers mit dem Spektakel überschritten wird und die Tage noch kürzer werden, ja überhaupt das Leben schwindet.“
(S.360)
Stilistisch und sprachlich ist das großartig zu lesen. Etwas zum Schwelgen. Nicht die Handlung steht im Vordergrund, sondern oft sind es gerade die kleinen Szenen, die feinen Beobachtungen, die tief berühren und ihren besonderen Zauber entfalten. Kirchhoff hat ein kluges, lebensweises und unaufgeregtes Buch geschrieben, das dennoch auf subtile Weise sehr spannend ist. Der Autor hat ein psychologisch interessantes, intensives Kammerspiel geschaffen, das sich in lebhaften Wortgefechten und Dialogen sowie der grandios geschilderten Atmosphäre der drückenden Sommerhitze vor dem großen Unwetter über dem Gardasee, von Seite zu Seite mehr entfaltet und wie die Wellen auf dem See dem Höhepunkt entgegenwogt.
„Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“ erzählt nicht nur über das Leben mit Hund, sondern ist vielmehr ein Roman über das Älterwerden und das Alter, über Einsamkeit und Vergänglichkeit, sowie über Lieben und Geliebtwerden, über Schuld, lebenslange Narben und Beziehungen, die einen – egal in welchem Alter – vollkommen unerwartet treffen können.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim dtv Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Bodo Kirchhoff,
Seit er sein Leben mit einem Tier teilt
dtv
ISBN: 978-3-423-28357-1
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Bodo Kirchhoffs „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt“:
Für den Gaumen (I):
Schongauer trinkt Weißwein aus der Region. Sein Hauswein ist ein „Custoza“ (S.95), der stets aus mehreren Rebsorten besteht und aus den Hügeln zwischen dem Gardasee und Verona stammt.
Für den Gaumen (II):
Zudem versteht er es, seine Gäste mit einfachen, schmackhaften Dingen zu bewirten:
„Wein, Salami, Käse, Tomaten und Brot, dieser See und ein Sonnenuntergang, alles schön und gut (…)“
(S.134)
Für den Gaumen (III):
Frida bekocht ihn hingegen schon mit etwas mehr Raffinesse:
„(…) aus dem Haus riecht es nach Trüffelrisotto (…) Frida hat zu dem Risotto einen Radicchio-Salat mit Melonenstückchen, Parmesan und Chilischoten gemacht, so süß wie scharf.“
(S.216)
Zum Weiterhören:
Fridas Mutter ist großer Opernfan, liebt Wagner, sieht und hört aber auch gerne Verdi in der Arena die Verona. Doch auch einem italienischen Schlager von Gino Paoli aus dem Jahr 1963 kann sie einiges abgewinnen:
„Ihr Lieblingsschlager ist von hier und so alt wie sie. Sapore di sale. Den singt sie sogar mit, wenn er läuft (…)“
(S.309)
Zum Weiterschauen und Weiterklicken:
Bodo Kirchhoffs Roman wurde unter anderem auch im letzten Literarischen Quartett am 2. Februar 2024 besprochen, das es bei Deutschlandfunk Kultur als Podcast zum Anhören und in der ZDF Mediathek bis zum 01.02.2025 zum Ansehen gibt. Ich persönlich habe mir die Sendung erst nach der Lektüre und auch nach dem Verfassen meiner Rezension angesehen, da ich mich erst einmal nicht beeinflussen lassen wollte – aber kurzer Spoiler: alle vier waren – wie ich auch – sehr begeistert.
Zum Weiterlesen:
2016 wurde Bodo Kirchhoff mit dem Deutschen Buchpreis für die Novelle „Widerfahrnis“ ausgezeichnet. Seitdem habe ich immer mal wieder mit einer Lektüre geliebäugelt, sie bis heute jedoch noch nicht in die Tat umgesetzt. Da mir seine Stilistik und Sprache jedoch wirklich gut gefallen haben, wandert es jetzt wohl (wieder einmal) auf meine Wunschliste.
Bodo Kirchhoff, Widerfahrnis
dtv
ISBN: 978-3-423-14641-8
Bei NDR Kultur hatte ich schon ein Interview mit Bodo Kirchhoff über dieses Buch gelesen und fand es ansprechend. Deine Buchvorstellung verstärkt meinen ersten Eindruck. Ich behalte das Buch im Hinterkopf, danke.
Herzliche Grüße, Bettina
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Das freut mich, Bettina. Ich finde es vor allem stilistisch und sprachlich wirklich sehr angenehm und genussvoll zu lesen.
Und es ist immer gut, ein paar Buchideen auf der Liste bzw. im Hinterkopf zu haben. 🙂
Herzliche Grüße und einen schönen Abend! Barbara
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Bei mir liegt dieses Buch schon bereit. Und ich kann dir auch Widerfahrnis nur empfehlen, liebe Barbara. Damit ging es mir, wie von dir beschrieben. Es war ein Lesegenuss. Manche Sätze las ich dreimal. Nicht, weil sie kompliziert waren, sondern so gedankenreich und kunstvoll formuliert. Ein Meister der Sprache, dessen Texte den Leser mitnehmen auf eine Reise zu sich selbst.
Liebe Grüße aus Italien von Anke
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Liebe Anke, ich bin mir sicher, Du wirst es mögen. Da kannst Du Dich noch auf ein Lesevergnügen freuen, das vor Dir liegt.
Gerade die Schilderungen der Atmosphäre am sommerlichen Gardasee sind wirklich großartig.
Und wenn Du mir „Widerfahrnis“ auch ans Herz legst, dann rutscht es in meiner Wunschliste nochmal ein Stückchen weiter nach oben. 😉
Dankeschön und ganz herzliche, italiensehnsuchtsvolle Grüße! Barbara
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Habe noch nix von Herrn Kirchhoff gelesen, aber die „Widerfahrnis“ ist mir kürzlich im öffentlichen Bücherschrank entgegengehüpft. Ich bin immer bissl vorsichtig, bei Herren mit diesen Ellbogen-Aufklebern am Sakko 😉 aber Deine Rezension gefällt mir wirklich gut und ich werde Herrn Kirchhoff eine faire Chance geben. Wie heißen diese komischen Ellbogen-Aufnäher eigentlich die die älteren Herren so oft am Sakko haben??? 😉
Liebe Grüße, Sabine
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Liebe Sabine, Deine Bedenken kann ich durchaus verstehen. Ich wurde aber selbst – wie beschrieben – sehr positiv überrascht und war vor allem wirklich von der Sprache und Stilistik begeistert. Und die Gardaseeschilderungen haben (das sollte ich evtl. auch noch anfügen) bei mir definitiv ins Schwarze getroffen.
Witzigerweise musste ich das Internet befragen, um Deine Frage zu beantworten und bin amüsanterweise auf eben jenen Artikel aus der SZ aus dem Jahr 2012 gestoßen, der Deine Bedenken gegenüber (Achtung aufgepasst!) „Ellenbogen-Patches“ teilt:
https://www.sueddeutsche.de/stil/fashionspiesser-ellenbogen-patches-verflickt-und-zugenaeht-1.1536870
Aber ich finde, Herr Kirchhoff hat definitiv eine faire Chance verdient.
Herzliche Grüße, Barbara
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Again what learned und den Artikel fand ich echt witzig – danke 😉 Herr Kirchhoff, die Ellbogenpatches und die wunderbare Kulturbowle werden jetzt enfach für immer in meinem Hirn verknüpft bleiben 😉 Ich gebe auf jeden Fall Bescheid, was mir bei der Widerfahrnis dann so widerfährt. Liebe Grüße.
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Danke, Sabine.
Hm, lustig, welche Bowle-Mixtur sich da jetzt ergeben hat (die Ellenbogen-Patches hatte ich ja ursprünglich nicht auf dem Schirm bzw. der Zutatenliste 😉). Aber schön, wenn meine Bowle Dir im Gedächtnis bleibt.
Jetzt hoffe ich natürlich sehr, dass Du da am Ende auch positive Verknüpfungen haben wirst und Dir Herr Kirchhoffs Literatur gefällt. Da ich dies für „Widerfahrnis“ ja noch nicht selbst beurteilen kann, interessieren mich Deine „Widerfahrnis“-Erfahrungen jetzt natürlich sehr.
Ganz liebe Grüße, einen feinen Freitag und ein wunderbares Wochenende!
Barbara
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Ich habe das Buch nun auch gelesen, und es hat mich sehr aufgewühlt, nach etwas zähen Beginn, muss ich gestehen. Es fiel mir schwer, die Wortkargheit zu verstehen, die Schongauer auszeichnet, aber da es sich um ein Psychogramm handelt, wurde mir nach und nach klar, dass dort etwas im Busch lauert. Auf den letzten Hundert Seiten hat es mich dann eingeholt, es hat mich sehr melancholisch, sentimental und ein wenig betrüblich gemacht – im guten Sinne, in ergreifender Weise. Mich hat es sehr heftig mitgenommen, das Ende, die Abschiede, diese Hoffnungen, aber auch dieser Versuch, im Tanz um die Vergeblichkeiten, nicht allzu schnell die Flinte ins Korn zu werfen. Danke für deine versöhnliche Besprechung, Barbara, – du kehrst die idyllische Seite gut heraus, mich hat die seelische Dämonie beschäftigt, die dadurch sehr gut in Szene gesetzt wird. Herzliche Grüße, Alexander
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Danke, Alexander. Da brodelt vieles unter der nur vermeintlich „idyllischen“ Oberfläche. Das große Unwetter, das sich zusammenbraut und dann mit ziemlicher Wucht entlädt. Mich hat vor allem die Stilistik überzeugt und fasziniert. Aber schön, wenn es Dich letztlich dann doch erreichen konnte. Herzliche Grüße und eine gute, restliche Woche! Barbara
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