Schwedisches Schreibmaschinengeklapper

Meine Europabowle oder literarische Europareise hat wieder ein Weile pausiert, aber heute geht es nach Schweden, in die wunderbare Hauptstadt Stockholm. Und zwar mit einem Roman aus dem Jahr 1908, der auch mehr als 110 Jahre nach seinem Erscheinen vor allem sprachlich nichts von seiner Frische eingebüßt hat: Elin Wägner’s „Die Sekretärinnen“ (Originaltitel: Norrtullsligan). Eine wunderbare Wiederentdeckung dieses feinen, feministischen Werks des frühen 20. Jahrhunderts, das jetzt im Ecco Verlag in der deutschen Übersetzung von Wibke Kuhn neu aufgelegt wurde.

„Ich weiß nicht, was für Männer und andere Unglücksfälle mich hier in Stockholm erwarten, aber zumindest kann ich mir auf empirischem Wege ausrechnen, dass dort, wo ich bin, in den nächsten Jahren noch einige zusammenkommen werden…“

(S.13)

Für die damalige Zeit behandelt der Roman eine geradezu unerhörte Sache: vier junge Frauen teilen sich in Stockholm eine gemeinsame Wohnung – heute würde man wohl von einer Wohngemeinschaft sprechen – und wollen sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen ohne sich an einen Mann zu binden. Sie arbeiten im Büro und stoßen in Zeiten, die für Frauen nichts anderes als eine Ehe bzw. Kinder, Kirche, Küche vorsehen, gesellschaftlich auf Unverständnis und offene Ablehnung.

„Heute gerieten wir in einen grässlichen Streit, als der Chef gerade frühstückte. Es ging, wie es immer geht: Ich wurde zum Schweigen gebracht, aber nicht überzeugt.“

(S.33)

Die Jobs in den Büros der Großstadt sind dürftig bezahlt und reichen gerade mal so, die Miete und die Kost zu bezahlen. Große Sprünge sind da nicht zu machen und doch genießen die Freundinnen ihre selbstgewählte Unabhängigkeit und unterstützen sich gegenseitig, teilen Freud und Leid, ersetzen sich gegenseitig die Familie.

Sie kämpfen für Gleichberechtigung, gleiche Bezahlung und gegen die Diskriminierung durch die männlichen Kollegen. Auch sexuelle Übergriffe sind keine Seltenheit. Doch die jungen Frauen lassen sich nicht beirren, organisieren sich und schnell entwickeln sich auch politische Ideen und Aktivitäten.
Sie wollen frei sein und unabhängig ein selbstbestimmtes Leben im Sinne der Gleichberechtigung von Mann und Frau führen. Dafür kämpfen und streiken sie.

„Mit dreißig Jahren macht eine Frau mehr oder weniger leicht, was sie mit zwanzig noch verurteilt hätte.“

(S.57)

Sprachlich und stilistisch ist der Roman so herzerfrischend modern, dass man ihm die mehr als 110 Jahre auf dem Buckel überhaupt nicht anmerkt. Wägner schreibt so entwaffnend direkt und mit einer ordentlichen Prise Selbstironie, dass es eine Freude ist, Eva, Magnhild, Emmy und Elisabeth zu begleiten.

Man könnte es sich gut vorstellen, mit ihnen einen draufzumachen, in der WG-Küche zu feiern, zu tanzen und zu diskutieren. Mit einigen Themen hat auch die Frau von heute immer noch zu kämpfen und doch haben Generationen wie diese dankenswerterweise große Vorarbeit hinsichtlich der Frauenrechte geleistet. Man hätte sich sicherlich viel zu erzählen und würde sich prächtig verstehen.

Trotz all der kämpferischen Haltung klingen im Roman jedoch auch immer wieder Selbstzweifel durch und auch Elisabeth und ihre Freundinnen haben schwache Momente, in welchen sie den Mut vor der eigenen Courage zu verlieren scheinen. Denn hin und wieder verdreht ihnen doch auch mal ein Mann den Kopf und der Gedanke blitzt auf, ob eine Ehe nicht doch eine Option bzw. eine bequeme Lösung sein könnte.

Ein ehrliches und authentisches Buch, das zwischen ungezähmter Lebensfreude und nachdenklicher Melancholie schwankt, so wie die hellen skandinavischen Sommer sich mit langen, dunklen Wintern abwechseln.

Mich hat die Lektüre fasziniert und hätte es der Klappentext nicht verraten, hätte ich das Werk niemals dem Erscheinungsjahr 1908 zugeordnet. Elin Wägner (1882 – 1949), die sich für das Frauenwahlrecht einsetzte und 1919 zu den GründerInnen von Save the Children gehörte, schreibt so zeitlos und unterhaltsam, dass die Lektüre auch heute noch zum Fest wird. Mehrfach musste ich herzlich lachen, um mich schon ein paar Seiten weiter gemeinsam mit der Ich-Erzählerin Elisabeth wieder so richtig über die Ungerechtigkeiten zu ärgern. Ein empathisches Buch, dem man sich nicht entziehen kann und möchte.

Grandiose Unterhaltung und ein kampflustiges Zeitzeugnis feministischer Literatur des frühen 20. Jahrhunderts vor der zauberhaften Kulisse Stockholms und in meinen Augen eine wirklich lesens- und liebenswerte literarische Wiederentdeckung, die ich wärmstens empfehlen kann.

„Nein, Baby“, sagte ich, „man kriegt nie den, den man haben will, aber man kann vielleicht den kriegen, den eine andere haben will, und das ist genauso gut, fast noch besser.“

(S.43)

Die bisherigen Stationen meiner Europabowle oder Literarischen Europareise haben mich nach Finnland, Irland, Italien, Österreich, Dänemark, Rumänien, Griechenland, in die Schweiz, nach Spanien, Slowenien und Frankreich geführt – wer neu auf die Kulturbowle gelangt ist und noch weiterreisen oder nachlesen möchte, was bisher geschah, kann dies auf den farbig hinterlegten Länderbezeichnungen gerne tun. Weitere Stationen sind in Planung und werden folgen.

Buchinformation:
Elin Wägner, Die Sekretärinnen
Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn
Ecco Verlag
ISBN: 978-3-7530-0060-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Elin Wägner’s „Die Sekretärinnen“:

Für den Gaumen:
Die jungen Damen müssen sich ihr Verpflegung hart erarbeiten und oft fällt sie daher auch dürftig aus, um so größer die Freude über den gelungenen Einstand der neuen Mitbewohnerin:

„Wir haben keine Butter mehr“, flüsterte sie.
„Ich schon“, verkündete ich, und es war rührend zu sehen, wie sie sich freuten, als ich Butter und Brot und Eier vom Land auspackte. Wir hatten ein verschwenderisches Souper, die Stimmung schlug hohe Wellen.“

(S.21)

Zum Weiterhören:
Musikalisch hat der Roman einiges zu bieten, immer wieder taucht – gerade wenn die Damen in Feierlaune sind – der Bostonwalzer auf, der dann gerne getanzt wird.

Allerdings haben auch Händels Largo bei einem Kirchenkonzert und Wagner’s Lohengrin bei einem seltenen und kostbaren Opernbesuch ihren Auftritt im Buch:

„Ich kaufte mir eine Karte für einen Platz für fünfundsiebzig Öre in der dritten Reihe, wo ich nicht mehr sah als ein paar weiße Blusenleibchen und Nackenkämme und nicht mal die, denn ich hörte mir den Lohengrin mit geschlossenen Augen an. Die Musik wirkte wie Coldcream auf meine Seele, sie wurde außen ganz glatt.“

(S.115)

Zum Weiterlesen:
Schweden, das Heimatland der Literaturnobelpreise hat bisher 8 PreisträgerInnen zu verzeichnen: Selma Lagerlöf, Verner von Heidenstam, Erik Axel Karlfeldt, Pär Lagerkvist, Nelly Sachs, Eyvind Johnson, Harry Martinson und Tomas Tranströmer.
Interessanterweise ist wohl die Erste in dieser Reihe und zugleich die erste Frau, die den Literaturnobelpreis bekam, auch die Bekannteste. Sie erhielt den Preis 1909, ein Jahr nachdem Elin Wägners „Die Sekretärinnen“ erschienen ist.
Mich würden vor allem die Memoiren Selma Lagerlöf’s interessieren, die ich mir hiermit einmal auf meine geistige Merkliste setze:

Selma Lagerlöf, Die Erinnerungen: Mårbacka. Aus meinen Kindertagen.
Das Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf
Aus dem Schwedischen von Pauline Klaiber-Gottschau
Urachhaus
ISBN: 978-3825179595

5 Kommentare zu „Schwedisches Schreibmaschinengeklapper

    1. Danke! Ja, mir war das Buch vorher nicht bekannt, aber es ist wirklich eine wunderbare Wiederentdeckung, die jetzt hoffentlich auch in Deutschland die verdienten Leserinnen und Leser findet. Herzliche Grüße nach Schweden! Barbara

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