Tausend mal berührt

Es gibt sie, diese verhinderten Jugendlieben bzw. die Beziehungen, die irgendwie immer in der Luft liegen, aber dann eben doch nicht sein sollen. Und es gibt diesen Spruch, dass man sich immer zwei Mal im Leben sieht. Manchmal auch drei Mal. Frie und Robert aus Julia Karnicks neuem Roman „Man sieht sich“ treffen sich drei Mal: als Gymnasiasten Ende der Achtziger, in ihren Dreißigern im Jahr 2002 und dann wieder bei einem Klassentreffen 2022.

„Sie hat noch nie verstanden, warum man wild darauf sein soll, lauter Menschen wiederzusehen, die man vor langer Zeit aus den Augen verloren hat – aus guten Gründen, sonst hätte man ja noch Kontakt. Der Sinn eines solchen Treffens kann nur darin bestehen, dass man sich gegenseitig versichert, man sei zufrieden, selbst wenn man in Wahrheit froh ist über jeden, dessen Leben noch mittelmäßiger verlaufen ist als das eigene.“

(S.11)

Frie hat ehrlicherweise überhaupt keine Lust auf das Abitreffen und lässt sich nur durch eine Freundin dazu überreden. Im Grunde interessiert sie ohnehin nur von einer Person, was aus ihr geworden ist, und genau jener Robert hat seine Teilnahme nicht bestätigt. Robert, ihr ehemals bester Freund, bei dem es mehr als einmal auch deutlich geknistert hat. Mit dem sie einst unzertrennlich war, mit dem sie über alles sprechen konnte und den sie doch in all den Jahren aus den Augen und aus ihrem Leben verloren hat.

Wie es wohl wäre, ihn wiederzusehen? Wie ist sein Leben verlaufen? Was macht er heute und wird das Herz immer noch freudig klopfen, wenn sie ihn sieht?

„Wenn sie nachher den dunkelroten Rotwein trinken, den er bereits geöffnet hat, wird ihr Gespräch mehr Gewicht bekommen, da ist sie sich sicher. Aber jetzt, in der Sonne sitzend, reden sie erst mal über Dinge, die so hell und einfach sind wie dieser späte Sommernachmittag.“

(S.378)

Und auch wenn sich die Wege von Frie und Robert immer wieder trennen, vergessen können sie einander nie…

Julia Karnick erzählt die Geschichte zweier Menschen, die sich gegenseitig die Welt bedeuten und doch immer wieder verpassen. Das Leben kommt ihnen immer wieder dazwischen. Auf gut 470 Seiten gibt sie ihren Figuren viel Raum, sich zu entwickeln, verfolgt ihre teils verschlungenen Lebenswege und zeichnet zwei intensive Charakterporträts.

Frie, die aus einem behüteten Elternhaus stammt und eine Karriere als Juristin anstrebt und doch so nach und nach manchen Lebenstraum begraben muss und Robert, der sich schon früh Sorgen macht um seine kranke Mutter, sich seit seinem Zivildienst liebevoll und regelmäßig um einen älteren Herrn kümmert und sich nichts sehnlicher wünscht, als eine erfolgreiche Musikerkarriere hinzulegen.

Julia Karnicks Roman ist wie eine prall gefüllte Zeitkapsel, die uns zurückführt in die Achtziger, Neunziger und Nuller Jahre bis in die Gegenwart. Da gibt es Songs, Filme, Bücher und Gerichte, die den jeweiligen Zeitgeist wach rufen und Erinnerungen wecken. Das ist sehr lebendig und bei vielem fühlt man sich ertappt, denn oft denkt man sich: Genau so war’s. Da wurde Tabu gespielt, das bestandene Abitur gefeiert und der Walkman lief mit der Lieblingsmusik in Dauerschleife.

Die gebürtige Hamburgerin (Jahrgang 1970) schreibt lebendig, frei von der Leber weg und als ob sie ihre Geschichte einer guten Freundin oder einem Freund erzählen würde: ehrlich, offen, liebevoll, aber teilweise auch schonungslos. Gleichsam so als ob einem auch ein enger Kumpel manch unangenehme Wahrheit um die Ohren hauen würde. Sie erzählt eine Geschichte mitten aus dem Leben, die authentisch wirkt und Sympathien weckt. Sie schreibt musikalisch, melodisch in einem Sound der heutigen Zeit – natürlich und ungekünstelt.

Liest man – mit einem gewissen Altersabstand – über die Sorgen und Nöte der Teenager und jungen Erwachsenen, der Schüler und Studenten über all die Zukunftspläne und Liebeshoffnungen, die zerplatzen oder sich in völlig andere Richtungen entwickeln, ist man dankbar, diesem Lebensabschnitt entwachsen zu sein. Nochmal 19 oder 20 Jahre alt sein? All das nochmal durchleben? Gehe zurück auf Los? Möchte man das? Die Frage muss sich jeder selbst beantworten, aber die meisten würden ihre bereits gewonnene Lebenserfahrung vermutlich nicht missen oder eintauschen wollen.

„Man sieht sich“ ist eine romantische Liebesgeschichte mit Hindernissen – in guten wie in schlechten Tagen – und zugleich ein Buch über das Baden in der Ostsee, über versaute Abinoten, über durchwachte Nächte, über Liebeskummer und vor allem über verpasste Gelegenheiten – das heißt über das ganz normale und wahnsinnige Leben eben…

Ich bedanke mich sehr herzlich beim dtv Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Julia Karnick, Man sieht sich
dtv
ISBN: 978-3-423-28391-5

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Julia Karnicks „Man sieht sich“:

Für den Gaumen (I):
Spätestens seit Garfield kennt sie wohl jeder:

Lasagne war das Köstlichste, das Robert sich vorstellen konnte, seit er es zum ersten Mal bei Frie gegessen hatte. Er hatte Frau Carstensen um das Rezept gebeten, aber es klang so schwierig, dass er sich nicht traute, es nachzukochen. Außerdem brauchte man frischen Parmesan und Mozzarella, das war teuer.“
(S.115)

Für den Gaumen (II):
Viele Jahre später gibt es eine andere kulinarische Modeerscheinung:

„Ich habe hundert Schriftsätze diktiert, Fenster geputzt und meinen ersten Maulwurfkuchen gebacken, fürs Frühjahrsfest (…)“
(S.314)

Zum Weiterhören (I):
Der Titel meines Blogbeitrags kommt nicht von ungefähr. Sogar die Autorin selbst, zitiert DAS Lied (aus dem Jahr 1984), das unweigerlich bei solchen Geschichten im Kopf zu spielen beginnt:

Entweder es knallt sofort, oder es knallt gar nicht, hatte Christoph gesagt, aber bestimmt gab es Ausnahmen, so wie es immer von allem Ausnahmen gab. Es gab zum Beispiel Klaus Lage, der wusste, dass es manchmal 1000 und 1 Nacht brauchte, bis es Zoom! machte, (…)“
(S.119)

Zum Weiterhören (II):
Ach ja, bevor ich es vergesse: Es gibt eine eigene Tracklist zum Roman, die am Ende des Buches im Nachsatzpapier aufgelistet wird und von The Cure, über R.E.M, Eurythmics, Queen, Depeche Mode bis hin zu John Coltrane oder Amy Winehouse und vielen anderen mehr reicht. Für musikalische Anregungen ist also gesorgt…

Zum Weiterlesen (I):
Ein Buch, das für Frie zu einem Schlüsselerlebnis wird, habe ich wohl in einem ähnlichen Alter gelesen wie die Hauptfigur in Julia Karnicks Roman – ein Klassiker: Erich Fromm „Die Kunst des Liebens“.

Erich Fromm, Die Kunst des Liebens
dtv
ISBN: 978-3-423-36102-6

Zum Weiterlesen (II):
Eine Bildungslücke möchte ich – inspiriert durch die Lektüre – demnächst schließen:

„Während er seine Vorspeise aß, hatten sie darüber gestritten, wie glaubwürdig die Liebesgeschichte zwischen Holly Hunter und Harvey Eitel in Das Piano war, waren sich jedoch anschließend einig gewesen, dass sie seit Langem nichts Kurzweiligeres als die Stadtgeschichten von Armistead Maupin gelesen hatten.“

(S.188/189)

Armistead Maupins „Stadtgeschichten“ sind somit gleich mal auf meine Merkliste bzw. „das sollte ich wohl gelesen haben“-Liste gewandert.

Armistead Maupin, Stadtgeschichten
Aus dem Englischen von Heinz Vrchota
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-499-01451-2

5 Kommentare zu „Tausend mal berührt

    1. Danke, Alexander. Ja, ich denke, Lebenserfahrung und Gelerntes ist dann doch etwas, das man rückwirkend nicht mehr missen möchte. 🙂 Oder wie von Dir schön auf den Punkt gebracht: einmal reicht. Herzliche Grüße und einen guten Start in diese Sommerwoche! Barbara

      Gefällt 1 Person

Hinterlasse eine Antwort zu kulturbowle Antwort abbrechen