Wien und die ewigen Geliebten

Eine meiner persönlich liebsten literarischen Neuentdeckungen in diesem Jahr ist sicherlich Eva Ibbotson, deren Werke der Kampa Verlag aktuell in schöner, hochwertiger Gestaltung wieder für die deutschsprachige Leserschaft auflegt. Nach „Was der Morgen bringt“, das ich bereits begeistert hier auf dem Blog vorgestellt habe, war klar, dass ich auch weitere Bücher der Autorin lesen möchte. Jetzt also ein Titel, zu dem ich – hätte ich die Autorin nicht bereits kennen- und schätzen gelernt – in der Buchhandlung wohl nicht gegriffen hätte: „Der Modesalon des Glücks“. Doch hinter dem in meinen Augen leider etwas kitschig-süßlich anmutenden Titel verbirgt sich vielmehr ein sehr warmherziger, kluger und sehr lesenswerter Roman über das Wien der späten k.u.k-Zeit.

In der früheren deutschen Ausgabe wurde der Titel „Die Vertraute“ gewählt, im englischen Original aus dem Jahr 1988 heißt der Roman „Madensky Square“, was ich persönlich (und somit natürlich völlig subjektiv) für die gelungenste Variante halte.

„Als ich die Blumen in einer Schale arrangierte, verspürte ich plötzlich das Bedürfnis, etwas festzuhalten, zu bewahren … meinen Alltag hier auf dem Madensky-Platz. An die Tragödien, die Dummheiten, die großen Feste werde ich mich erinnern – daran erinnert sich jeder. Aber was ist mit den ganz normalen Dingen, den kleinen Momenten? Wer interessiert sich für sie?“

(S.17)

Denn dieser Madensky-Platz im Wien des Jahres 1911 ist der Schauplatz des Romans – gleichsam der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte.
Dort wird geliebt, gelacht, geweint, sich miteinander gefreut und gemeinsam gelitten – der Platz und die Anwohner sind gleichsam ein kleines Spiegelbild der Gesellschaft im kaiserlichen Wien Anfang des 20. Jahrhunderts kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs.

Susanna betreibt dort einen kleinen, feinen und sehr erfolgreichen Modesalon. Ihre exquisiten Kreationen locken die unterschiedlichsten Damen der Wiener Gesellschaft in ihr Geschäft, das sie sich selbst aufgebaut und hart erarbeitet hat.
Ihre Angestellten und die Nachbarschaft sind ihre Familie, denn der Mann, den sie liebt, ist nicht frei für sie, so dass sie statt Lebenspartnerin nur heimliche Geliebte sein kann.

„Ich würde in der Hölle schmoren, das wusste ich. Egal war mir das natürlich nicht, doch meine Vorstellung vom Leben nach dem Tod entsprach sowieso nicht ganz der Norm. Ich dachte ans Jüngste Gericht, an die offenen Gräber und an die Skelette, die sich daraus erheben und sich auf die Suche nach ihren Liebsten machen, um mit ihnen dem ewigen Leben entgegenzugehen. Wer würde nach uns suchen, nach den Schattenfrauen, den heimlichen Geliebten? An diesem Tag, dem wichtigsten von allen, würde niemand die Regeln der Sittlichkeit missachten können, das war mir bewusst.“

(S.65)

So lebt Susanna selbstbestimmt, selbstbewusst und eigenständig ihr Leben, kümmert sich um die Nachbarsfamilie, in welcher die Frau ihr fünftes Kind erwartet, das nach vier Mädchen jetzt endlich der langersehnte, männliche Erbe für die familieneigene Schreinerei werden muss, um ihre junge Näherin Nini, die revolutionäre Gedanken hegt, die sie in Gefahr bringen und um den kleinen Sigismund, der auf Geheiß des Vormunds stundenlang Klavier übt, um zum nächsten Wunderkind zu werden…
Und da ist Alice, ihre Freundin, die in der Volksoper als Chorsängerin in der zweiten Reihe arbeitet und ihr Schicksal teilt, einen verheirateten Mann zu lieben.

Ich komme immer wieder auf einen Begriff, wenn ich nach Worten suche, um die Faszination dieses Buchs zu beschreiben: Herzenswärme.
Die Autorin hat ein unfassbares Gespür dafür, sympathische und gewinnende Figuren zu zeichnen und stattet sie mit viel Liebe und großer Menschlichkeit aus. Wie Susanna weiß, welches Kleidungsstück welcher Frau am besten schmeichelt, so schmeichelt Ibbotson ihren Charakteren.
Berührt hat mich auch, wie Ibbotson die Gefühlswelt der ewigen Geliebten psychologisch ergründet und sehr fein differenziert beschreibt. Sehr stark.

Eva Ibbotson (1925 – 2010), die in Wien als Maria Charlotte Michelle Wiesner geboren wurde, wuchs nach der Trennung ihrer Eltern in einem Kinderheim auf und musste als Kind 1933 vor den Nationalsozialisten aus Österreich nach England fliehen. Nach Ende des zweiten Weltkriegs studierte sie Physiologie und Erziehungswissenschaften und wurde Lehrerin. Nach der Heirat mit ihrem Kollegen Alan Ibbotson bekam sie vier Kinder und begann – nachdem das jüngste Kind in die Schule kam – Kinderbücher zu schreiben, später folgten auch Romane für Erwachsene.

Behält man diese Lebensgeschichte und die sicherlich nicht einfache Kindheit der Autorin bei der Lektüre im Hinterkopf, ist es um so bemerkenswerter mit welcher Güte und Versöhnlichkeit Ibbotson von und für Kinder, aber eben auch für Erwachsene schreibt.
So ist mit „Der Modesalon des Glücks“ ein Buch entstanden, das Mut macht, Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit feiert und sehr tolerant unterschiedliche Lebensentwürfe und -einstellungen nebeneinander gelten lässt.

Wer ein Faible für Wien hat und in diesen aufgeheizten Zeiten auf der Suche nach einem Buch für einige wohltuende, positive und tröstliche Lesestunden ist, wird sich bei diesem Roman und der Autorin, die das Herz am rechten Fleck hatte, sehr gut aufgehoben fühlen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kampa Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Eva Ibbotson, Der Modesalon des Glücks
Aus dem Englischen von Liselotte Julius und Lena Riebl
Kampa Verlag
ISBN: 978-3-311-10141-3

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Eva Ibbotsons „Der Modesalon des Glücks“:

Für den Gaumen:
Was wäre Wien ohne süße Versuchungen zum Kaffee:

„Mitzi hatte ganz allein Vanillekipferln gebacken, außerdem gab es Linzer Schnitten und einen Gugelhupf mit Zuckerguss.“

(S.120)

Zum Weiterhören:
Der kleine Sigismund muss sich schon früh an schweren Stücken versuchen, für die seine Hände eigentlich noch zu klein sind:

„Ich soll die Waldsteinsonate spielen, weil die sich schwer anhört ud die Leute mich dann für begabt halten werden. Aber ich schaffe die Akkorde im letzten Satz nicht.“

(S.104)

Es gibt bei BR Klassik sogar eine eigene Podcast-Folge von Igor Levit zu diesem Stück von Beethoven, das er selbst als „das größte Geschenk“ bezeichnet.

Zum Weiterlesen:
Bereits die erste Neuauflage von Ibbotsons Werken im Kampa-Verlag „Was der Morgen bringt“ war ein wohltuendes, feines Leseerlebnis, das ich hier auf der Bowle vorgestellt habe und das mich jetzt aufmerksam die Augen für alles offen halten lässt, was hoffentlich noch folgen wird.

Eva Ibbotson, Was der Morgen bringt
Aus dem Englischen von Mechtild Ciletti
Kampa
ISBN: 978-3-311-10137-6

7 Kommentare zu „Wien und die ewigen Geliebten

    1. Lieber Bernd, Dankeschön fürs Vorbeischauen auf meiner Bowle und für den warmherzigen Kommentar. Ich denke zur Herzenswärme wird sich heute auch noch die tatsächliche Sommerhitze gesellen (es sind über 30 Grad vorhergesagt). Da gilt es, sich ein schattiges Plätzchen und gute Lektüre zu suchen. Einen entspannten, in diesem Falle wohl besser herzerfrischenden und hoffentlich nicht allzu heißen Sonntag wünscht Dir, Barbara

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    1. Danke, Nina. Mit den Kinderbüchern hast Du mir etwas voraus, denn die kenne ich wiederum nicht. Und das obwohl sie ja das geheimnisvolle (Harry Potter-)Gleis am Bahnhof King’s Cross erfunden hat. Hm, als Leseratte hat man immer was zu tun und Bildungslücken zu schließen. 😉
      Liebe Grüße und einen zauberhaften, entspannten Sonntagabend! Barbara

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  1. Ich kannte Eva Ibbotson bisher gar nicht aber dein Beitrag hat mich überzeugt. Vielen Dank für diese Entdeckung! Zugleich ist das Buch eine gute Geschenkidee für meine „Wien-Freundin“.

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    1. Das freut mich sehr, wenn ich da Lust und Neugier auf Ibbotsons Bücher wecken konnte. Für mich ist sie dieses Jahr eine wunderbare Entdeckung und für eine „Wien- Freundin“ sicherlich eine feine Wahl! Herzliche Grüße und viel Spaß beim Selbstlesen und/oder Verschenken!

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