Ach, herrlich! Dass es das noch gibt. Bücher, die einen nicht nur blendend unterhalten und die man dank des Humors gar nicht mehr weglegen möchte, sondern die trotz allem auch Tiefgang haben – nur eben auf die leichte Art. Welches Buch mich so begeistert hat? Es ist Alina Bronskys neuer Roman „Pi mal Daumen“. Ein klares Leseglanzlicht für mich in diesem Sommer.
Schon beim Aufklappen fällt einem der doch etwas ungewöhnliche Stammbaum auf dem Vorsatzpapier auf. Da versucht sich jemand im Dickicht eines leicht unübersichtlichen Familiengeflechts zurecht zu finden.
Dieser Jemand ist Oscar – 16 Jahre alt, von adeliger Herkunft, mit autistischen Zügen, hochbegabt und somit bereits mit Abitur versehen, so dass er gerade sein Mathematikstudium an der Universität zweifelsohne als Jüngster seines Jahrgangs beginnt.
„Wenn ich am Tag zu wenig Eiweiß zu mir nahm, träumte ich nachts von Gauß. Einem Gauß, der sich beschwerte, dass wir die Normalkurve nicht mehr auf den Geldscheinen hatten, seit die D-Mark abgeschafft worden war und niemand mehr mit den schönen alten Zehnern bezahlte.“
(S.20)
Und das Familiengeflecht gehört zu Moni, deren 50. Geburtstag schon ein Weilchen zurückliegt, Mutter von Püppi und Großmutter von drei Enkelkindern mit Namen Justin, Quentin und Keanu. Sie erfüllt sich – während sie sich, ihre Sprösslinge und ihren Partner Pit mit diversen Brotjobs über Wasser hält, Haushalt und Betreuungsarbeit stemmt – einen Lebenstraum: Mathematik studieren.
Umgeben von Fliederduft und ausgestattet mit einem großen Herz erobert sie schnell ihre KommilitonInnen und ProfessorInnen im Sturm. Sie wird geradezu zum Lieblingsmaskottchen der Mathematikfakultät. Und auch Oscar, der zunächst starke Zweifel hegte, ob Moni diesen Studienplatz verdient hatte, entwickelt plötzlich eine zwischenmenschliche Bindung zu dieser Frau, die für ihn – den gefühlsunerfahrenen und weitestgehend alltagsuntauglichen Einzelgänger – Neuland bedeutet.
Während er der patenten, zupackenden und bemutternden Moni mit mathematischen Grundlagen und Lösungen auf die Sprünge hilft, weiß sie schnell, wie sie mit dem 16-jährigen Überflieger, der so manche undiplomatische Äußerung tätigt ohne Nachzudenken, umgehen muss.
Bronsky schreibt oft, was in Oscars Kopf vorgeht, und eröffnet mit dieser Perspektive eine besondere Gedankenwelt.
Das kann auch mal richtig vernichtend und böse sein, ohne dass man jedoch der Autorin bzw. ihrem Protagonisten Oscar böse sein kann. Beispiel gefällig?
„Püppi dagegen bewegte sich im Intelligenzkontinuum deutlich näher an der unbelebten Natur. Ich beobachtete sie in den Pausen meiner Lektüre und versuchte, Denktätigkeit auszumachen. Es gelang mir selten. Hinter der porzellanglatten Stirn schien wenig los zu sein.“
(S.97)
Doch sollten sich solche Gedanken bei Oscar tatsächlich Bahn brechen und in unkontrollierter Kommunikation münden, gibt es ja auch immer noch ein Korrektiv:
„Liebling.“ Meine Mutter wurde ernst, „Wir achten darauf, dass wir nicht respektlos über andere Menschen reden. Deine Privilegien verleihen dir keine Legitimation, abschätzig über Benachteiligte zu urteilen.“
(S.128)
Es ist herzerwärmend mitzuverfolgen, wie zwischen Oscar und Moni eine ganz besondere Freundschaft entsteht. Zu erleben, wie sich Oscar mehr und mehr öffnen kann – sich schließlich sogar mit Monis Enkelkindern arrangiert – und wie Moni in ihrem neuen studentischen Umfeld immer mehr aufblüht.
Alina Bronsky hat in ihrem neuen Roman wieder einmal ganz zauberhafte Charaktere geschaffen, die man einfach ins Herz schließen muss. Zudem jubelt sie einem die großen Gefühle stets mit so viel Humor unter, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Oder doch beides und wenn ja, was zuerst?
Sie spielt virtuos auf der Klaviatur von Klischees und Vorurteilen, die zunächst ausgekostet, um dann gebrochen zu werden. So gelingt es ihr ganz spielerisch und mit einer Leichtigkeit über Denkbarrieren, Klassenunterschiede und soziale Schranken zu schreiben, ohne dabei je zu moralisieren.
Um in der Welt der Mathematik zu bleiben – ich hatte bei der Lektüre so manches Stochastik-Déja vue (aber keine Angst, man braucht kein Mathe-Crack zu sein, um Freude an diesem Buch zu haben!) – für mich hat Alina Bronsky die perfekte Formel für einen großartigen Roman gefunden. In ihrem ganz eigenen, unverwechselbaren Stil, der süchtig machen kann, schreibt sie über Menschen, die liebenswert und schräg zugleich sind.
„Pi mal Daumen“ ist großes, literarisches Kino, denn es ist komisch, witzig, flapsig, aber auch gefühlvoll und tiefgründig. Es ist warmherzig und schonungslos zugleich. Es ist intelligent und zutiefst menschlich. Es ist wunderbar und ein Buch, das ich wirklich sehr, sehr gerne gelesen habe, das mich herzhaft lachen ließ, aber eben auch zum Nachdenken angeregt hat. Eine Empfehlung die daher – völlig ohne jede (mathematische oder sonstige) Berechnung – von Herzen kommt.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Kiepenheuer & Witsch, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Alina Bronsky, Pi mal Daumen
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00425-0
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Alina Bronskys „Pi mal Daumen“:
Für den Gaumen (I):
Es gibt sie diese kleinen Wunder- und Heilmittel oder Seelentröster kulinarischer Art – das können – wie bei Oscar auch mal ganz einfache Kindheitsgerichte sein:
„Ich aß in schwierigen Lebenssituationen gern Pommes ohne alles. Dafür kratzte Moni auch den Ketchup wieder herunter.“
(S.63)
Und gerade nochmal kurz recherchiert: ja, es gibt laut Duden sowohl das Ketchup, als auch den Ketchup – nur so als kleiner Grammatik-Service zwischendurch.

Für den Gaumen (II):
Und mit ihrer zweiten Wunderwaffe für alles könnte Moni definitiv auch bei mir punkten: ich sage nur… „Zimtschnecken“ (S.93).
Zum Weiterlesen (I):
Hier auf dem Blog ist Alina Bronsky keine Unbekannte, habe ich doch schon ihren letzten Roman „Barbara stirbt nicht“ sehr begeistert vorgestellt und wärmstens zur Lektüre empfohlen – wer also nochmal nachlesen möchte, kann das hier gerne tun.
Alina Bronsky, Barbara stirbt nicht
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00072-6
Zum Weiterlesen (II):
Meine erste Bekanntschaft mit Alina Bronsky habe ich vor einigen Jahren mit dem ganz wunderbaren Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ gemacht, der sich auf großartige Weise unter anderem mit dem Thema Tschernobyl und der Folgen auseinandersetzt. Ebenfalls sehr lesenswert.
Alina Bronsky, Baba Dunjas letzte Liebe
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05028-8
KLingt nach sehr originellen Charakteren
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Ja, absolut. Eine tolle Figurenzeichnung, viel Liebe und Humor – Alina Bronsky hat da wirklich ein Händchen dafür. Ich habe es sehr, sehr gerne gelesen. Herzliche Wochenendgrüße!
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Ui, das klingt gut, ich glaube das muss ich lesen… hab einen nicht ganz so extremen aber auch sehr mathematischen 16jährigen 😁
Liebe Grüße
Nanni
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Dankeschön, Nanni. Ich mochte es wirklich sehr. Es ist schön und herzerwärmend zu lesen, wie diese beiden Welten aufeinanderprallen und doch über die Unterschiede hinweg eine Verbindung entsteht bzw. sich eine Freundschaft entwickelt. Herzliche Ferien- und Sonntagsgrüße!
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