Sieben Kinder, ein psychisch labiler Ehemann und eine Karriere als vielreisende, erfolgreiche Konzertpianistin – Clara Schumanns (1819 – 1896) Herausforderung, die sie im 19. Jahrhundert tagtäglich zu meistern versuchte, würde man heute unter dem Begriff Vereinbarkeit von Familie und Beruf einordnen. Die Autorin und studierte Literatur- und Musikwissenschaftlerin Christine Eichel hat nun mit „CLARA – Künstlerin, Karrierefrau, Working Mom“ Clara Schumanns Lebensgeschichte mit modernem, weiblichen Blick neu erzählt bzw. in ein neues Licht gesetzt.
„Jenseits simpler Einordnungen, die Clara Schumann wahlweise als aufopferungsvolle Gefährtin oder rücksichtslose Karrieristin darstellen, lassen sich mit dem heutigen Blick neue Lesarten gewinnen. Anhand von Briefen, Tagebüchern und weiteren Quellen entsteht ein differenziertes Bild, mal inspirierend, mal irritierend, aber stets in Anerkennung der Tatsache, dass hier eine unerhört mutige Frau Pionierarbeit geleistet hat.“
(S.20)
Sie erzählt die Lebensgeschichte der spannenden Frau, die als geborene Wieck schon früh von ihrem Vater zum pianistischen Wunderkind herangezogen, gefördert und gedrillt wurde, die als 12-Jährige bereits Goethe vorspielte, später gemeinsam mit Franz Liszt auftrat und auf den großen Bühnen riesige Erfolge feierte.
Der Vater hatte für sie eine große Karriere als Musikerin vorgesehen und richtete alles danach aus – doch mit der Liebe hatte er zunächst nicht gerechnet.
„Genau diese beiden Trümpfe – finanzielle Unabhängigkeit, Wegfall des Heiratszwangs – hat Clara in der Hand. Und verspielt sie sehenden Auges, für Robert Schumann, den Mann ihres Herzens.“
(S.86)
Eichel schildert die Liebesgeschichte zwischen Robert Schumann und Clara, ihren Kampf darum, heiraten zu dürfen, die ersten Ehejahre. Und sie beschreibt den Kampf Claras, die neben den Geburten ihrer Kinder, ihren häuslichen Verpflichtungen als Frau und Gattin bzw. der moralischen und künstlerischen Unterstützung ihres Ehemanns auch noch versucht, ihre Karriere als erfolgreiche Pianistin aufrechtzuerhalten, um so auch einen finanziellen Beitrag zur Ehe leisten können.
„Ihr Ausbruchsversuch aus der häuslichen Enge ist umso erstaunlicher, wenn man sich die Randbedingungen im neunzehnten Jahrhundert vergegenwärtigt. Clara lehnt sich gegen die ehelichen Beschränkungen in einer Zeit auf, in der Frauen nicht voll geschäftsfähig sind, weder wählen noch an Universitäten studieren dürfen. Dennoch will sie sich ihre Rolle als Musikerin zurückerobern, in ihren Kreisen eine ungewöhnliche Berufswahl und für Ehefrauen schon gar nicht vorgesehen.“
(S.165)
Eichel schildert die schwierige Lage Claras, der es nicht gegeben ist, voll in der Mutterrolle aufzugehen, sondern die – auch aufgrund ihrer Erziehung und Vorgeschichte – sich gleichsam als eigenständige Künstlerin versteht und ausleben möchte.
„Alles konnten sie sich sagen in Musik. Dieses Gefühl hat die Jahre überdauert, die hässlichen Zwischentöne, die grellen Missklänge. Robert bleibt ihr Zentralgestirn. Und ohne ihn erlischt ihr musikalisches Schaffen. Nach seinem Ableben gibt Clara das Komponieren auf.“
(S.211)
Die Autorin macht klar, welche inneren und äußeren Kämpfe Clara in ihrem Leben ausgefochten hat. Zudem würdigt sie die Leistung Claras und ihre Verdienste um das Werk Robert Schumanns.
Eichel beschreibt Licht und Schatten im Leben der Mutter, Gattin und Künstlerin ohne zu romantisieren und zu beschönigen, sie versucht dem Menschen Clara Schumann gerecht zu werden, ihre intrinsischen Motivationen zu ergründen, zu verstehen, warum sie sich in welcher Situation wie verhalten hat. Denn es gibt durchaus Entscheidungen – unter anderem im Umgang mit ihren Kindern – die aus heutiger Sicht und mit zeitlicher Distanz herzlos erscheinen.
Eichel hat eine umfassende Biografie geschrieben, die chronologisch von der Kindheit bis zum Tod, über die Ehe mit Schumann, ihrer Zeit als Witwe auch ihre besondere Beziehung zu Johannes Brahms und das Verhältnis zu ihren Kindern beleuchtet. Doch stets setzt sie die Lebensphasen auch in den Kontext zu modernen Sichtweisen auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft, bedient sich hierfür dem heutigen Vokabular, spricht u.a. von „toxischen Beziehungen“, „Care Arbeit“, „Regretting motherhood“ und „Vereinbarkeit“.
Es ist interessant zu lesen, wie sich die Wahrnehmung und der Blick auf eine Lebensgeschichte auch im zeitlichen Kontext ändert. So fällt die Biografie Eichels mit der Sicht einer Frau im 21. Jahrhundert unweigerlich anders aus, als eine Biografie, die im 20. Jahrhundert von einem Mann geschrieben wurde.
So versucht Eichel vor allem auch mit alten Einordnungen ihrer (meist) männlichen Kollegen bzw. gegebenenfalls zu romantisierenden oder zu kritischen Sichtweisen auf Clara aufzuräumen. Sie setzt den Schwarz-Weiß-Zeichnungen somit eine differenzierte Würdigung Clara Schumanns mit einem breiten Spektrum an Graustufen entgegen.
Clara Schumann – geborene Wieck – war ihrer Zeit in vielen Aspekten sicherlich weit voraus und doch auch gefangen in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und weiblichen Dilemmata, die bis in die heutige Zeit bestehen.
„Ihr Platz ist nicht in der Familie. Die ganze Welt ist ihr Zuhause, so unbehaust sich das auch manchmal anfühlen mag. Sie lebt in der Musik und für die Musik. Auf der Suche nach einem Platz in der Welt hat sie ihn auf den großen Konzertbühnen Europas gefunden.“
(S.341)
Christine Eichels Biografie über Clara Schumann liest sich frisch, modern und kämpferisch und ist eine gut lesbare, flüssige Lektüre fernab von trockener Zahlen-Daten-Fakten-Vermittlung. Sie geht vielmehr in meinen Augen aufgrund der Einordnung aus moderner, weiblicher und feministischer Sicht an vielen Stellen deutlich über eine klassische Biografie hinaus. Am Ende hat man als Leserin das Gefühl, die innere Zerrissenheit, die Beweggründe und Motivation dieser mutigen, starken Frau und Künstlerin – die uns so lange vom Hundertmarkschein anblickte und jetzt auch vom Umschlagbild des Buchs mild-melancholisch, leise anlächelt – besser zu verstehen.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Siedler Verlag (Penguin Randomhouse), der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Mit „CLARA“ habe ich einen weiteren Punkt meiner „24 für 2024“ erfüllt – Punkt Nummer 4) auf der Liste: Ich möchte eine Biografie lesen. Clara Schumanns Lebensgeschichte, die von Christine Eichel in Bezug zur heutigen Zeit gesetzt wird, erfüllt diese Kategorie zweifelsohne.

Buchinformation:
Christine Eichel, CLARA – Künstlerin, Karrierefrau, Working Mom;
Clara Schumanns kämpferisches Leben
Siedler
ISBN: 978-3-8275-0174-5
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Christine Eichels „CLARA“:
Für den Gaumen:
Als Lieblingsspeisen Claras benennt die Autorin:
„Pfannkuchen mit viel Zucker, Gurkensalat mit viel Essig, Maroneneis zum Dessert.“
(S.344)
Eine ungewöhnliche Mischung, aber warum nicht?
Zum Weiterhören:
Auch auf Clara Schumanns Werk als Komponistin geht Eichel ein, so schreibt sie unter anderem zu einem Lied Folgendes:
„Etwas mehr hält sie offenbar von „Ich stand in dunklen Träumen“, ebenfalls 1840 entstanden, das mit fünf weiteren Liedern 1843 als op.13 erscheint, gewidmet der dänischen Königin. Ein Lied, von Melancholie umflort, ein Doppelgängerwerk, in dem die leidlich glückliche Ehefrau und die tief unglückliche Komponistin einander musikalisch die Hand reichen.“
(S.194)
Hier auf YouTube gibt es eine schöne Version von Katharina Konradi zum Reinhören.
Zum Weiterlesen:
Schon seit längerem steht in meinem Regal Peter Härtlings Schumann-Roman „Schumanns Schatten“ aus dem Jahr 1996 – bislang noch ungelesen. Vielleicht wäre das jetzt ein guter Zeitpunkt, diese Lektüre zeitnah anzuschließen.
Peter Härtling, Schumanns Schatten
dtv
ISBN: 978-3-423-12581-9
Biografien und Autobiografien lese ich sehr gern. Vielen Dank für den Tipp. Das klingt nach einer vielversprechenden Lektüre!
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Sehr gern geschehen. Das freut mich, wenn ich Neugier wecken konnte. Ich mag Biografien ebenfalls gerne – vor allem wenn sie wie diese über das trockene „Jahreszahlen-Abklappern“ hinaus gehen und wirklich eine „Lebensgeschichte“ erzählen. Herzliche Sonntagsgrüße!
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