Der Autor Maxim Leo und die Illustratorin Kat Menschik sind beide in Ostberlin aufgewachsen. Für Kat Menschiks Reihe Lieblingsbücher haben sie sich nun zu einem ganz besonderen Projekt zusammengetan – man könnte wohl auch von einer Herzensangelegenheit sprechen. „Junge aus West-Berlin“ erzählt nicht nur eine berührende Liebesgeschichte zweier junger Menschen aus Ost- und West-Berlin, sondern zugleich auch die Geschichte des außergewöhnlichen Sommers und Herbsts 1989 bis zum Mauerfall.
Erzählt wird aus zwei Perspektiven, der Perspektive von Marc und der von Nele, dem Jungen aus West-Berlin und der jungen Frau aus dem Osten der Stadt.
Marc verfällt auf einer Stippvisite in Ost-Berlin dem ganz besonderen Flair, findet Gefallen am Nachtleben und den Parties, die so ganz anders sind als im Westen und er verliebt sich in Nele, die so ganz anders ist als alle Mädchen, die er bisher kennengelernt hat. Die trotz Partytrubel um sie herum Heidegger lesen kann, Rotwein trinkt, Klassik und Jazz hört.
„Dazu muss man wissen, dass Frankreich damals für uns Ostdeutsche (oder zumindest für den Teil der Ostdeutschen, der rotweintrinkend in besetzten Wohnungen im Prenzlauer Berg lebte) das absolute Traumland war. Frankreich war Schönheit, Freiheit, Revolution und Genuss. Und auch wenn die Westdeutschen später andere Vorstellungen hatten, kann ich versichern, dass wir nie von München oder Hamburg geträumt haben. Dafür umso mehr von Montmartre, Picasso, der Provence und Alain Delon.“
(S.29)
Gegensätze ziehen sich an, Marc fährt bei jeder Möglichkeit über die Grenze nach Ost-Berlin und eine zarte Liebesgeschichte entspinnt sich. Parties im Prenzlauer Berg, romantische Momente über den Dächern der Stadt – wir werden Zeuge des Gefühlserwachens zweier junger Liebender und gleichzeitig spüren die Menschen im Land, wie eine Bewegung immer mehr an Fahrt aufnimmt. Marc und Nele nehmen an Demonstrationen teil und sind Teil dessen, was wir heute Geschichte nennen… alles ändert sich – auch für die beiden.
„Eine ganz besondere Stimmung lag in diesem Raum, die Menschen auf der Bühne und auf den Bänken wirkten erstaunlich selbstbewusst. Als ob sie sich entschieden hätten, nicht mehr lockerzulassen, nicht mehr wegzusehen, keine Angst mehr zu haben.“
(S. 51)
„Junge aus West-Berlin“ ist bereits der 18. Band aus der feinen und erfolgreichen Reihe „Lieblingsbücher“ von Kat Menschik. Ihre illustrative Gestaltung macht diese zu etwas Besonderem. Ihr feines Auge, ihr Sinn für Farben und Kontraste, ihr eigener, unverwechselbarer Stil begeistert stets aufs Neue und hat mittlerweile – vollkommen zu Recht – Fans und SammlerInnen gefunden.
Maxim Leo findet wunderbare Worte für eine berührende Liebesgeschichte über die Grenzen hinweg und versteht es, die besondere Atmosphäre Ost-Berlins, die Stimmung im Studentenmilieu im Prenzlauer Berg und die Magie der Wendezeit lebendig und erfahrbar werden zu lassen.
Man spürt mit jeder Faser, dass sowohl Leo als auch Menschik selbst Zeitzeugen der Berliner Geschehnisse dieser Zeit waren und so gehen die Worte bzw. die Geschichte und die Bilder eine wunderbare, geradezu betörende Symbiose ein.
„Meine Idee für dieses Buch war, allen Zeichnungen die Farbigkeit Ostberlins zu verleihen, dieses Grau in allen möglichen Tönungen. Ein warmes Grau, ein Grau mit Patina, ein lebendiges Grau, welches Geschichten erzählt. Aber eben ein Grau! Hinzugefügt habe ich nur Rosa. Klar, das ist die Liebe…“
(S.76, Kat Menschik im Nachwort über das Buch)
Heute am 9. November wird übrigens im Tränenpalast die große Buchpremiere von „Junge aus West-Berlin“ gefeiert – ein geschichtsträchtiger Ort an einem geschichtsträchtigen Tag.
Der 9. November 1989 gehört zu den Tagen, an denen jeder (ab einem gewissen Alter) auch 35 Jahre später noch weiß, was er damals gemacht hat und wann er von den Ereignissen erfahren hat. Sofort hat man die Bilder im Kopf, Bilder von glücklichen Menschen.
„Als ich am Grenzübergang ankam, gab es schon keine Kontrollen mehr, man konnte einfach durchlaufen, an den Abfertigungsbaracken vorbei, auf das hell erleuchtete Tor zu. Es gab diese weiße Linie auf der Straße, hinter der Westberlin begann. Um mich herum lagen sich die Menschen in den Armen, tranken Sekt und weinten vor Freude.“
(S.64)
Dieses Schmuckstück von einem Buch ist ein Erlebnis und eine bildschöne Erinnerung an diesen ganz besonderen Abend, an die Zeit der Wende bzw. des Mauerfalls. An eine Zeit voller Veränderungen und des Umbruchs, die getragen war von positiver Aufbruchstimmung. Ein Buch, das es ermöglicht, viel Pink bzw. Rosa im Grau zu entdecken. Ein kleines großes Buch wie gemacht für den heutigen Tag, ein Buch über deutsch-deutsche Geschichte, Berlin, die Liebe und das Leben – in Wort und Bild auf gerade einmal ca. 75 Seiten. Eine literarische Momentaufnahme eines magischen und geschichtsträchtigen Augenblicks und eine kurze, feine Geschichte ganz groß!
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag Galiani Berlin, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Maxim Leo, Junge aus West-Berlin
Illustriert von Kat Menschik
Galiani Berlin
ISBN: 978-3-86971-5
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Maxim Leos „Junge aus West-Berlin“:
Für den Gaumen:
Marc verwöhnt Nele mit Leckereien aus dem Westen, die er ihr mitbringt und freut sich, wenn sie Gefallen und Genuss daran findet, zum Beispiel an „in Calvados eingelegte[m] Camembert aus der Normandie“ (S.43).
Zum Weiterhören:
Neles Musikgeschmack mutet für Marc zunächst ungewohnt an:
„(…) aus einem Lautsprecher, der auf dem Boden stand, rieselte Musik, die mir bis dahin unbekannt war und von der ich heute weiß, dass es sich um Dvoraks 9. Sinfonie Aus der neuen Welt handelte.“
(S.20)
Zum Weiterschauen und Weiterlesen (I):
Wer wie ich immer hin und weg ist von den großartigen Illustrationen Kat Menschiks, dem kann ich auch einen weiteren Band aus der Reihe Lieblingsbücher wärmstens empfehlen: „Im Paradies – Erzählungen“ von Asta Nielsen.
Das Buch verströmt für mich Urlaubsstimmung pur und erinnert in der Farbwahl an die Farbgestaltung von Asta Nielsens Ferienhaus „Karusel“ auf der Insel Hiddensee: blau und weiß – dazu noch ein leuchtendes Rot als Akzent… wunderschön!
Asta Nielsen, Im Paradies – Erzählungen
Illustriert von Kat Menschik
Übersetzt von Alan O. Hagedorff, Steffen Jacobs und Renate Seydel
Galiani Berlin
ISBN: 978-3-86971-280-2
Zum Weiterlesen (II):
Maxim Leo hat sich auch in seinem Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse“ bereits der deutsch-deutschen Geschichte gewidmet und zugleich einen Hochstaplerroman verfasst, der sich sehr flüssig liest. Das Buch hatte ich bei Erscheinen im Jahr 2022 hier auf dem Blog vorgestellt.
Maxim Leo, Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse
Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-00084-9
Das hab ich gerade auf meine Wunschliste gelegt! Hab deinen Beitrag sehr gerne gelesen, macht auf jeden Fall noch mehr Lust auf das Buch und ich möchte jetzt auch in Calvados eingelegten Camembert. Noch nie drauf geachtet – is this a thing? Wenn ja, brauch ich das 😉
Liebe Grüße und ein schönes Wochenende, Sabine
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Dankeschön, Sabine!
Den Calvados-Camembert habe ich vor einiger Zeit schon mal probiert. Sehr fein! Bin aber für guten Käse grundsätzlich immer zu haben. 🙂
Herzliche Grüße (aus dem niederbayerischen Dauergrau) und auch Dir ein wunderbares Wochenende! Barbara
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Das beschriebene rosa-grau freut mich, gerade auch aus gegebenem Anlass.
Danke Barbara und herzliche Grüße
Bernd
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Ich habe zu danken, Bernd und freue mich über Deinen Kommentar.
Herzliche Grüße aus dem Landshuter Nebelgrau, für das Rosa muss heute wohl noch anderweitig gesorgt werden! Einen schönen Sonntag wünscht, Barbara
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