Malender Entdecker

Es gibt sie diese Familienerbstücke, die von Generation zu Generation vererbt werden. Das Gemälde, das im Flur oder Wohnzimmer hängt, weil es eben schon immer da war. Manchmal verbergen sich dahinter abenteuerliche Geschichten und ganze Familienpanoramen, die geradezu darauf warten erzählt zu werden. Marie Gaté hat jetzt mit ihrem Roman „Mirador“ nicht nur die Geschichte eines ganz besonderen Gemäldes, sondern auch die Familiengeschichte ihres Ehemanns und seiner Vorfahren zum Leben erweckt. Entstanden ist eine sinnliche, lebendige Reise rund um den Globus, die vom 19. Jahrhundert und den reizvollen Landschaften Süd- und Mittelamerikas bis hinein ins Augsburg der heutigen Zeit führt.

Der Auslöser ist ein zauberhaftes Gemälde, das den Titel „Blick auf die Hacienda El Mirador und den Pico de Orizaba“ trägt und farbenfroh sowie detailverliebt die üppige Vegetation und das satte Grün der mexikanischen Vegetation sowie ein Anwesen vor einem schneebedeckten Berggipfel darstellt.

Gemalt hat es der 1802 in Augsburg geborene Sprössling einer Malerdynastie Johann Moritz Rugendas im Jahr 1833, als er sich zum zweiten Mal auf einer mehrjährigen Reise in Mittel- und Südamerika aufhielt. In die Familiengeschichte wird er als der Reisemaler und Zeitgenosse bzw. Weggefährte von Alexander von Humboldt eingehen.

„In Paris traf er Alexander von Humboldt, der beim Betrachten seiner Zeichenmappe aus Brasilien voller Begeisterung fand, dass Johann Moritz Rugendas den wahren Charakter der Tropenwelt erfasst habe. Bis zu seinem Lebensende hatte Rugendas in Humboldt einen Mentor.“

(S.6)

Viele Jahre später wird Ubaldo Stallforth – ein Nachkomme Rugendas – bereits als kleiner Junge fasziniert vor dem Gemälde sitzen und jede Kleinigkeit in sich aufnehmen. Als er später beim Studium in Spanien seine zukünftige Ehefrau Marie kennenlernt, teilt er seine Begeisterung für das Bild auch mit ihr.

„Lange Zeit stand er unbeweglich in stille Bewunderung versunken. Bezaubert von den unzähligen Farben, die die Strahlen der Morgensonne auf den mächtigen Schneefeldern erzeugten, wagte er nicht, seinen Blick abzuwenden, fürchtend, dies sei ein übernatürlicher Anblick, der für immer verschwinden könne. In diesem Moment war er überzeugt, das Schönste, was die Erde zu bieten hat, vor den Augen zu haben.“

(S.156)

Und sie, die als Übersetzerin, Dolmetscherin und Autorin arbeitet, und jetzt mit ihrem Mann in Augsburg lebt, wird es sein, die viele Jahre später die Geschichte von „Mirador“ und der Familie ihres Mannes zu Papier bringen und für die Ewigkeit festhalten wird. So wie Rugendas mit Pinsel und Farbe die Schönheit und den Zauber des mexikanischen Anwesens auf der Leinwand verewigt hat, hat nun Marie Gaté mit Worten dem interessanten, begabten und weltoffenen Vorfahren ihres Mannes ein literarisches Denkmal gesetzt.

„Ich konnte mir keine schönere Aufgabe denken, als das Paradies zu malen.“

(S.189)

Johann Moritz zieht es in die Ferne, obwohl er in Augsburg sesshaft bleiben könnte, will er die Welt entdecken und sie malerisch festhalten. In den weiten und vielseitigen Landschaften Süd- und Mittelamerikas findet er nicht nur seine Berufung als reisender Maler, sondern auch das, was er später als Paradies bezeichnen und während mehrerer Reisen in seinen Werken verarbeiten wird. Und aus dem Augsburger Johann Moritz wird Juan Mauricio.

„Ich wollte mich mit meinen Wolken, mit meinen Farnen, Palmen und Bäumen, mit meinem Berg vereinigen, um das zu sein, was ich bin, ein Maler.“

(S.189)

Gaté erzählt jedoch auch, wie es später mit dem Anwesen „Mirador“ weitergeht und folgt den wechselvollen und teils verschlungenen Pfaden der Familiengeschichte. Erst im lebhaften und quirligen Valencia der späten Siebziger Jahre kreuzen sich die Wege der jungen Studentin Marie aus Frankreich und des deutschen jungen Mannes, der den ungewöhnlichen Namen Ubaldo trägt. Ab dann werden sich die Wege der beiden nicht mehr trennen und die Geschichte Rugendas‘ auch zu ihrer Geschichte werden.

Marie Gaté hat mit ihrem zweiten Roman „Mirador“ ein sehr persönliches und intelligentes Buch verfasst, das entlang von Gemälden und Zeichnungen Rugendas’, welche den Kapiteln vorangestellt und auch farbig abgebildet sind, kunstvoll zwischen den Zeiten wechselt. So entsteht ein abwechslungsreiches Buch, das eine abenteuerlustige und entdeckerfreudige Familiengeschichte erzählt und diese zugleich gekonnt mit Zeit-, Kultur- und Kunstgeschichte verbindet.

Es ist wunderbar, dass der Verlag eben jenes paradiesische Gemälde, das sich immer noch im Privatbesitz der Familie befindet, auch als Umschlagbild für „Mirador“ verwenden konnte. So wird der opulente, sinnenfreudige Zauber dieses Werks auch für die Leserschaft erlebbar. „Mirador“ ist ein kleines Kunstwerk für sich und ein feines Buch für KunstliebhaberInnen, Abenteuerlustige und geschichtsinteressierte LeserInnen, die Freude daran haben, in einer vielschichtigen Familiengeschichte abzutauchen. Dank des Gemäldes von Johann Moritz und dem gleichnamigen Roman „Mirador“, wird der Glanz dieses Wunders (schon im Wortstamm scheinen sich ja „Miraculum“ das Wunder und das Gold „aurum“ bzw. „or“ zu verstecken) zweifelsohne weiterscheinen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Verlag STROUX edition, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Marie Gaté, Mirador
STROUX edition
ISBN: 978-3-948065-39-3

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Marie Gatés „Mirador“:

Für den Gaumen (I):
In Augsburg besteht ein „Lieblingsessen“ (S.54) für Johann Moritz aus Folgendem:

„Zuerst soll es eine Flädlesuppe geben, danach Tellerfleisch mit Spätzle und zum Schluss die von Moritz geliebten Apfelküchle.“

(S.54)

Für den Gaumen (II):
Zudem habe ich bei der Lektüre gelernt, dass spanische Kinoverpflegung offenbar nicht nur aus Popcorn und Gummibärchen besteht. Da geht es wohl schon deutlich opulenter zu:

„Vor der Projektionsfläche versammelten sich spanische Familien mit Kindern, die bocadillos de chorizo y sobrasada, tortilla de patatas, pipas y horchata mitgebracht hatten – belegte Brötchen mit Paprikawurst und Streichwurst, Kartoffelomelett, Sonnenblumenkerne und Erdmandelmilch.“

(S.133)

Zum Weiterlesen:
Ein wenig vorwurfsvoll blickt mich schon seit einiger Zeit das viel- und hochgelobte Buch „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ von Andrea Wulf aus dem Regal an. Denn das wartet jetzt wirklich schon lange darauf gelesen zu werden. Jetzt würde es thematisch hervorragend als Anschluss zu „Mirador“ passen.

Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Penguin
ISBN: 978-3-328-10211-3

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