Das Paris der Achtziger Jahre ist der Schauplatz und die heimliche Hauptfigur in Sacha Bronwassers Roman „Was du nie sehen wirst“ – die pulsierende Weltstadt im Herzen Frankreichs, die in dieser Zeit von zahlreichen Terroranschlägen auf das öffentliche Leben bzw. Kaufhäuser, Restaurants etc. erschüttert wurde.
Ein zeitgeschichtliches Kapitel, das bislang in der Literatur noch nicht häufig beleuchtet wurde und daher einen interessanten Rahmen für eine spannende Geschichte bildet.
„Paris bestand aus Schwingtüren, wie es sie in Restaurants in Stummfilmen gibt. Zwischen dem Davor und dem Dahinter gab es fast nichts. Bühne und Kulisse, überirdisch und unterirdisch, Gegenwart und Vergangenheit – ständig schritt ich von der einen auf die andere Seite. Es waren nicht einmal Schritte, ich fiel hindurch.“
(S.120)
Mittendrin ist die junge Marie, die Hals über Kopf ihr Fotografiestudium in den Niederlanden abgebrochen hat und jetzt ihr Glück und einen Neuanfang als Au-Pair in der französischen Hauptstadt sucht. Schnell merkt sie, dass es in der Familie, für die sie arbeitet, kriselt. Der Vater verhält sich merkwürdig und die Beziehung zwischen den Eheleuten gibt weitere Fragen auf.
„Ihr Leben war so voll, die Wohnung so klein und ihr Mann … Mir war noch nicht ganz klar, welche Rolle er spielte, aber besonders wichtig war sie nicht.“
(S.109)
Bronwasser beschreibt die intensiven Erfahrungen, die Marie in ihrer Zeit in Paris macht, ebenso eindringlich wie das subtile Brodeln unter der Oberfläche.
So entsteht ein Spannungsbogen, dem man sich nur schwer entziehen kann und auch so manche dunkle Vorahnung scheint sich zu erfüllen.
Während ich diese Rezension schreibe fällt mir auf, dass dieser Roman wieder mal einer dieser Fälle ist, bei dem es mir schwerfällt, viel zum Inhalt zu schreiben, zumal ich möglichst wenig im Vorfeld verraten möchte, ohne den Lesegenuss zu trüben. Aber vermutlich ist das auch nicht nötig, denn alle neugierig gewordenen, sollten sich ohnehin am besten selbst einen eigenen Eindruck verschaffen. Denn gute Gründe für die Lektüre gibt es – unter anderem folgende:
Spannend fand ich persönlich die Verknüpfung mit künstlerischen Milieus, wie zum Beispiel durch die Figur Flo, die Lehrerin für narratives Erzählen ist, oder aber auch die Bezüge zur Fotografie. Marie entdeckt Paris auch durch die Linse ihrer Fotokamera und die niederländische Autorin Sacha Bronwasser, die neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auch Kunsthistorikerin und Kuratorin ist, sowie lange Jahre als Kunstkritikerin gearbeitet hatte, beschreibt auf fesselnde Weise künstlerische Prozesse und vermittelt einen Eindruck, wie Kunst entsteht.
„Wahrscheinlich, aber es war zu früh, das zuzugeben, wollte ich das Fotografieren von Menschen vermeiden. Respekt oder Feigheit? Es lief aufs Gleiche hinaus. Ich entschied mich für die reglosen, neuen Dinge. vielleicht würde ich daraus destillieren können, wie sich die Stadt neu erfunden hatte. Dass Veränderung etwas war, auf das man nicht warten musste, sondern selbst in Gang setzen konnte.“
(S.230)
So ist ein Roman entstanden, der sehr stark auf die Kraft des Visuellen setzt und der künstlerischen Darstellung bzw. Verwirklichung einen großen Stellenwert einräumt. Für Marie ist die Fotografie ein wichtiges Ventil, um sich in Paris und ihrem neuen Leben zurechtzufinden.
Zudem hat mir „Was du nie sehen wirst“ zweifellos neue Einblicke in eine Zeit bzw. das von Terror Anschlägen erschütterte Paris der Achtziger Jahre gewährt, das mir bisher so nicht bekannt war. Bronwasser gelingt es auch, psychologische Folgen der stets präsenten Bedrohung bzw. der Anschläge einfühlsam und geschickt im Roman einzuflechten. Als gelungen habe ich auch die feinfühlige und subtile Darstellung der Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen und die Einblicke in das Seelenleben ihrer Personen empfunden.
„Aufmerksamkeit richtet sich auf mich wie eine Wärmelampe. Sie weiß, dass sie diesen Effekt hat, ich bin mir sicher, dass sie es weiß. Ich spüre so etwas zum ersten Mal. Ja, es ist wie bei einem Heizstrahler im Badezimmer, man zieht an einer Schnur, und die Wärme entwickelt sich als etwas Greifbares in den Raum hinein, sinkt wohltuend auf die nackten Schultern. So fühlt sich das an.“
(S.118/119)
„Was du nie sehen wirst“ ist der zweite Roman der Autorin, der in den Niederlanden ein sensationeller Erfolg (mit mehr als 100.000 LeserInnen) war. Und es ist ein düsteres, ein abgründiges Buch, das zweifellos dunkle Seiten der Weltstadt, aber vor allem auch der Menschen zum Vorschein bringt. Bronwasser erzählt eine Geschichte, die sich ihren Weg aus dem Dunkel ans Licht sucht und ein neues Bild von Paris zeichnet, das sich bei der Lektüre eindrucksvoll ins Gedächtnis brennt – gleich einem belichteten Negativ.
Eine weitere Besprechung gibt es bei Letteratura.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim ARCHE Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Sacha Bronwasser, Was du nie sehen wirst
Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
ARCHE
ISBN: 978-3-7160-0018-2
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Sacha Bronwassers „Was du nie sehen wirst“:
Für den Gaumen:
Als eher gewöhnungsbedürftig habe ich folgende kulinarische Kreation empfunden:
„Eine Zwischenmahlzeit, das hat sie mir gezeigt, war ein halbes Baguette mit drei Rippen Schokolade dazwischen.“
(S.110)
Zum Weiterhören:
Zu der Handlung während der Achtziger Jahre gehört natürlich auch der passende Soundtrack – aber Achtung Ohrwurmgefahr:
„Sie singt leise, nickt den Takt mit. You take my self, you take my self control, ein Hit vom letzten Jahr. Laura Brannigan – Philippe erkennt ihn“
(S.45)
Zum Weiterlesen:
Vor einiger Zeit hatte ich schon mal einen Roman über ein Au-Pair in Paris hier auf der Bowle vorgestellt: Und zwar den der dänischen Autorin Emeli Bergman „Die andere Seite des Tages“ – ebenfalls eine eindringliche Lektüre.
Emeli Bergman, Die andere Seite des Tages
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Ecco Verlag
ISBN: 978-3-7530-0068-8
Die kulinarische Kreation ist für mich ebenso gewöhnungsbedürftig wie ein Schaumkuss in einem Brötchen 😉
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Das stimmt, aber das hatte ich vorher zumindest schon einmal gehört. Doch die Schokoladenvariante war mir wirklich gänzlich neu. 🙂 Herzliche Grüße!
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Ich bin jetzt sehr neugierig geworden. Danke für den Lesetipp. Viele Grüße
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Sehr gern geschehen, Constanze. Dann bin ich gespannt, wie es Dir gefällt. Ebenfalls ganz herzliche Grüße!
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Schokolade als Brotbelag kenne ich in Form der Eszet-Schnitten, die ich früher manchmal von meiner Oma bekommen habe. Ich kann mich aber nicht erinnern, ob ich die tatsächlich jemals auf eine Semmel gelegt habe – wahrscheinlich habe ich sie einfach so direkt aus der Packung gegessen. 😉
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Hm, die habe ich tatsächlich auch noch nie gegessen. Da scheine ich wohl wirklich eine kulinarische Bildungslücke zu haben. 😉
Schönes Wochenende und herzliche Grüße!
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Ich glaube, das ist eine Lücke, die nicht unbedingt gefüllt werden muss. 😀
Dir auch ein schönes Wochenende!
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🙂 Na dann kann ich ja beruhigt sein. 😉
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Ich finde es auch immer sehr schwierig, wenig zu spoilern!
Schokolade in Brötchen war schwer angesagt und gab es nur am Wochenende.
Ganz liebe Grüße
Eine neugierig gewordene Nina
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Liebe Nina, ja, gerade bei solchen Büchern, die von ihrem Spannungsbogen leben, fasse ich mich dann lieber kürzer, um das Leseerlebnis für Andere nicht zu trüben.
Und Schokolade im Brötchen ist für mich noch immer exotisch. 😉 Herzliche Grüße und einen schönen Sonntagabend! Barbara
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