Sommerverlängerung mit Weinlese

Die Lektüre von Mascha Vassenas Tessin-Krimis rund um Moira Rusconi und ihren Vater Ambrogio fühlt sich stets wie ein kleiner Kurzurlaub an. Dieses Jahr durfte ich gleichsam meinen Sommer mit „Der Schädel von Sant’Abbondio“ nochmal ein wenig verlängern, obwohl es vor meinem Fenster schon deutlich zu herbsteln begonnen hatte. Doch der vierte Band der Reihe, der während der Zeit der Tessiner Weinlese spielt, passte wirklich wunderbar in diese Zeit des Übergangs von Sommer zu Herbst.

„Dann arbeiteten sie weiter, und nach einigen Minuten war sie wieder so im Rhythmus der Weinlese, dass sie ihren steifen Rücken vergaß. Die herbstliche Sonne lag weich auf ihrem Nacken, im Hintergrund erklangen gut gelaunte Stimmen, die sich scherzhafte Bemerkungen zuwarfen. Konzentriert füllte sie noch eine ganze Kiste, bevor Lucas Mutter Silvana zum Mittagessen rief.“

(S.11)

Moira Rusconi, die vor kurzem mit ihrer Teenagertochter Luna zu ihrem Vater Ambrogio ins Tessin gezogen ist, genießt es zum ersten Mal, auch die legendäre Weinlese im Ort als Helferin zu erleben. Schließlich ist ihre Jugendliebe Luca, für die sie wieder neu entflammt ist, der Sohn einer Winzerfamilie. Die Herbstsonne scheint auf die Weinberge, die Trauben sind vielversprechend und alles könnte perfekt sein, würde da nicht auf einmal der neugierige Hund Liam einen menschlichen Schädel im Weinberg ausbuddeln. Luca, der als Gerichtsmediziner arbeitet, kann schnell feststellen, dass der Schädel bereits viele Jahre in der Erde auf seine Entdeckung gewartet hat.

Als der Verdacht aufkeimt, es könnte sich bei dem Toten um einen als verschollen gegoltenen Jugendfreund von Moiras Vater Ambrogio handeln, fällt der Verdacht plötzlich auf ihn. Denn kurz vor dessen Verschwinden hatte es wohl einen lautstarken Streit unter Kumpels gegeben.

„Warst du in dieser Nacht an der Kirche? Vielleicht betrunken? Jemand hat das der Polizei gegenüber behauptet. Kein Wunder, dass die Leute im Dorf dich jetzt verdächtigen. Diese Geschichte wirst du nicht so leicht wieder los.“

(S.63)

Schnell wird der pensionierte und honorige Literaturprofessor von den Dorfbewohnern kritisch beäugt und geschnitten, so dass Moira alles daran setzt, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen und seine ehrenvolle Stellung im Dorf wieder herzustellen. Dafür muss sie sich weit zurück in die Vergangenheit bzw. tief in alte Dorfgeschichten vergraben und stößt dabei auf langgehegte Geheimnisse.

Es handelt sich bei diesem Fall bereits um den vierten Band dieser Reihe, die sicherlich vielen LeserInnen mittlerweile aus verschiedenen Gründen ans Herz gewachsen ist.
Zum einen sind da die liebenswerten Figuren: der leicht schrullige, emeritierte Literaturprofessor Ambrogio mit seinen Katzen, welche die Namen von Lieblingsschriftstellerinnen tragen, und auch seine Freunde im Dorf – das Winzerehepaar Cavadini oder die zupackende Wirtin der dörflichen Osteria Gabriella.
Für amouröse Verwicklungen ist dank Moira und Luca auch gesorgt und die Kriminalfälle zeichnen sich nicht durch atemlose Spannung und Blutrüstigkeit aus, sondern vielmehr häufig durch Geschichten, in welchen Menschen zu Verbrechern werden, denen das Böse nicht schon in die Wiege gelegt wurde, sondern die das Leben und so mancher Schicksalsschlag auf die falsche Bahn hat geraten lassen. Abgrundtiefe Bosheit sucht man in der Regel vergeblich, vielmehr schreibt Vassena „menschenfreundliche“ Krimis – falls es diese Bezeichnung überhaupt geben kann.

Zudem spürt man bei der Lektüre, dass die Autorin, die früher unter anderem als freie Journalistin in Hamburg gearbeitet hat, doch nun bereits seit 2004 mit ihrer Familie am Luganer See lebt, ihre Wahlheimat bzw. diese Region kennen- und lieben gelernt hat. Denn das Tessin mit der vielseitigen Landschaft und den geschichtsträchtigen Orten ist der heimliche Star ihrer Kriminalromane, dem sie liebevolle und detaillierte Beschreibungen widmet, die Stimmung und Atmosphäre hervorragend transportieren.

„In Saronno legten sie eine Pause ein und tranken einen Cappuccino auf der Piazza di Libertà. Moira war entzückt von dem Städtchen mit seiner historischen Altstadt und den kleinen Läden. An jeder Ecke wurden der berühmte Amaretto di Saronno und amarettini, runde, gewölbte Mandelkekse, verkauft.“

(S.226)

Wer also eine appetitanregende, wärmende und entspannende Lektüre mit ausgeprägtem Tessiner Lokalkolorit, einer gehörigen Prise kulinarischen Anregungen, einem Hauch Liebesgeschichte und einem weitgehend unblutigen Kriminalfall für gemütliche Herbstabende sucht, ist hier genau richtig.

Dank Mascha Vassenas neuem Regio-Krimi durfte ich die Leichtigkeit des Sommers noch ein wenig mit hinein in den Herbst nehmen. „Der Schädel von Sant’Abbondio“ eignet sich wunderbar dafür, sich noch etwas in südlichere Gefilde und die stimmungsvollen Weinberge des Tessins zu träumen und vielleicht bei einem Gläschen Wein schon mal gedanklich einen Urlaub dorthin zu planen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Eichborn Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Mascha Vassena, Der Schädel von Sant’Abbondio
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0206-5

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Mascha Vassenas „Der Schädel von Sant’Abbondio“:

Für den Gaumen (I):
Für die Helfer im Weinberg ist das gemeinsame Mittagessen der Höhepunkt des Tages, kein Wunder, wenn es Typisches und Traditionelles aus der Region zu kosten gibt:

„Luca half seiner Mutter, das Risotto zu verteilen, das diese in einem Kupferkessel über einem offenen Feuer zubereitet hatte.“ (S.11)

Für den Gaumen (II):
Und eine Nachspeise darf natürlich auch nicht fehlen und zwar gibt es Torta della Nonna:

„Mit viel „Oh“ und „Ah“ nahmen alle ihre Plätze wieder ein und vergaßen nicht, den appetitlich aussehenden Kuchen mit der dicken Schicht Puderzucker und den darauf verstreuten Pinienkernen abzulichten, bevor sie sich an dessen Vernichtung begaben.“ (S.12)

Zum Weiterlesen bzw. vorher lesen:
Auch wenn sich „Der Schädel von Sant’Abbondio“ hervorragend auch einzeln bzw. unabhängig lesen lässt, bin ich persönlich eine große Verfechterin bei Krimireihen die Bände in der richtigen Reihenfolge zu lesen. Daher hier als Service die vorangegangenen Fälle, die ich auch alle bereits auf der Bowle vorgestellt habe:
Den Auftakt bildet Mord in Montagnola, gefolgt von Die Tote im Luganer See undDer Schatten über Monte Carasso“.

Mascha Vassena, Mord in Montagnola
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0102-0

Mascha Vassena, Die Tote im Luganer See
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0134-1

Mascha Vassena, Schatten über Monte Carasso
Eichborn Verlag
ISBN: 978-3-8479-0167-9

Ein Kommentar zu „Sommerverlängerung mit Weinlese

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