Susanne Matthiessen ist ein waschechtes Sylter Inselkind – dort geboren und aufgewachsen – und beschreibt in „Ozelot und Friesennerz“ witzig, bissig und wehmütig ihre Kindheit, die Geschichte ihrer Familie und ihr bittersüßes Verhältnis zur liebsten Insel der Deutschen.
Die Bezeichnung „Roman einer Sylter Kindheit“ trifft es für mich nicht so ganz, vielmehr habe ich das Buch weniger als Roman, sondern eher als eine Sammlung von Anekdoten und Episoden aus dem Leben der Autorin gelesen. Geboren 1963 und aufgewachsen in den wilden Siebzigern kann Susanne Matthiessen viel erzählen, hat sie doch den touristischen Aufschwung und die Entwicklung der Insel hautnah miterlebt und auch über die berühmt-berüchtigten Gäste und furiosen High Society-Parties weiß sie so einiges zu berichten. Die Perspektive der Einheimischen macht es für den Leser interessant, der in aller Regeln Sylt nur durch den eigenen Urlaub oder gar nur vom Hörensagen kennt. Wann versetzt man sich schon einmal in die Perspektive der Gastgeber?
Wie ist es, als Kind auf dieser Urlaubsinsel zu leben und aufzuwachsen? Die Eltern betreiben ein florierendes Pelzgeschäft, das seit Generationen in der Hand der Familie ist. Pelze – Luxusgüter der damaligen Zeit, die perfekt auf die Insel und zu den wohlhabenden Gästen passten. Geld spielt bei den Inselgästen häufig keine Rolle und so klingelt die Kasse im Laden. Die Eltern arbeiten viel und lange und die Tochter läuft eher nebenher mit. So verbringt sie auch als Kind und Jugendliche viel Zeit im Geschäft, lernt die Kniffe und Tricks des Verkaufens und die extravaganten Sonderwünsche der Kundschaft kennen. Sie weiß von Strandleben, Parties und exzentrischen Urlaubern zu erzählen und wie es ist, sich das Haus stets mit Sommergästen teilen zu müssen.
„Ozelot und Friesennerz“ ist aber auch ein Buch über starke, emanzipierte und geschäftstüchtige Frauen, die auf der Insel bereits früher als anderswo ihr Schicksal und das Regiment in die eigenen Hände genommen haben – und ebenso ist es ein Stück Zeitgeschichte der Bundesrepublik. Wie war das denn damals in den Siebzigern?
So erzählt die Autorin im Plauderton unterhaltsam, scharfzüngig und teils fast zynisch über sich und ihre Familie als „aussterbende Spezies“. Aussterbend in vielerlei Hinsicht: Seit die Geburtsstation der Insel geschlossen hat, werden keine Kinder mehr dort geboren, sondern kommen auf dem Festland zur Welt. Die wenig verbliebenen Einheimischen können es sich kaum noch leisten auf der Insel zu leben, seit der Ausverkauf der Insel begonnen hat und die Immobilienpreise ins Astronomische gestiegen sind. Und auch das Geschäft der Eltern ist einen relativ plötzlichen Tod gestorben, denn Pelze sind mittlerweile verpönt und werden nicht mehr gekauft. Und so werden die waschechten Insulaner weniger und das zunächst positiv begrüßte Wirtschaftswunder ist auf der Insel nahtlos in einen gnadenlosen Finanzkapitalismus übergegangen, der für die meisten Einheimischen kaum noch Raum lässt.
Kritisch räumt die Autorin jedoch auch ein, dass sich die Sylter selbst hier auch teilweise an die eigene Nase fassen müssen, aber die Selbstkritik, die Trauer, der Schmerz und die Wut über die negativen Veränderungen auf der Insel, die nicht mehr zurückgedreht werden können und den ursprünglichen Charakter Sylts immer mehr verdrängt und verwässert haben, ist deutlich zu spüren. Da schwingt große Wehmut mit und Matthiessen versucht mit ihrem Buch der Insel etwas zurückzugeben und Erinnerungen festzuhalten, die sonst auch noch verloren gehen. So schreibt sie: „In mir wächst das Gefühl, dass ich der Insel etwas schulde. Auch wenn es am Ende nur dieses Buch sein wird.“ (Zitat, S. 245).
Die Lektüre war kurzweilig und unterhaltsam, auch wenn mir etwas weniger „Pelzdetails und Kürschnerhandwerk“, dafür etwas mehr „Sylt, Land und Leute“ oder vor allem Zeitgeschichte lieber gewesen wäre. Denn die Stärke des Buches kommt für mich vor allem dann zum Tragen, wenn Matthiessen in ihrer flapsig-amüsanten und humorvollen Art zu Schreiben den großen Bogen zur deutschen Geschichte schlägt und zum Beispiel fast nebenbei durch die Geschichte ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihrer eigenen, die Situation und Emanzipation der Frau in Westdeutschland erzählt. Wer also abtauchen will in die wilden Siebziger Jahre oder vielleicht demnächst einen Sylt-Urlaub plant – dem sei dieses Buch ans Herz gelegt – man erfährt interessante Hintergründe aus einem neuen Blickwinkel. Wer aber dem Sehnsuchtsort Sylt keine Kratzer im Lack zufügen möchte und sich lieber die Postkartenidylle und das Bild einer heilen Welt bewahren will anstatt sich kritisch mit der Inselgeschichte auseinanderzusetzen, der sollte das Buch lieber im Regal stehen lassen.

Buchinformation:
Susanne Matthiessen, Ozelot und Friesennerz
Ullstein
ISBN 9783550200649
***
Wozu inspirierte mich „Ozelot und Friesennerz“:
Für den Gaumen:
Der Sylter Klassiker ist für mich ganz klar ein Fischbrötchen – ganz frisch direkt am Hafen – leider in meiner Heimat in der Qualität so nicht zu bekommen. Schmeckt für mich daher immer nach Meer, Freiheit und Urlaub und die Austern überlasse ich gerne den anderen.
Für die Ohren:
Musikalisch gesehen waren die im Buch geschilderten Schallplattenkäufe der Autorin nicht ganz meine Zeit oder Wellenlänge, aber auf Sylt hört man doch am besten ohnehin den Wellen, der Brandung und dem Meeresrauschen zu.
Für weiteren literarischen Genuss:
Wer nach der kritischen Auseinandersetzung mit der Sylter Geschichte lieber doch nochmal ein bisschen mehr „Heile Welt“, Urlaubsstimmung und gute Laune braucht, dem sei die Inselwelt der Stockholmer Schären und ein absoluter Klassiker (und eines meiner Allzeit-Herzensbücher) ans Herz gelegt:
Astrid Lindgren, Ferien auf Saltkrokan
Oetinger
ISBN: 978-3-7891-4119-5
2 Kommentare zu „Sylt bittersüß“