Sylter Schweigen

Sylt – diese vier Buchstaben wecken bei vielen Menschen sofort Assoziationen. Sogleich flimmern Bilder vom Strand, Watt und Nordsee, reetgedeckten Häuschen, Fischbrötchen, vielleicht aber auch von Luxus, Stars und Sternchen vor dem geistigen Auge. Nur wenige Orte in Deutschland haben in den letzten Jahrzehnten eine so extreme Entwicklung durchlaufen wie diese Insel und doch gibt es neben allen Besonderheiten und Unterschieden eben auch Geschichten und Verhaltensweisen, die sich nicht von anderen Orten in Deutschland unterscheiden. Auch auf Sylt gab es eine „Stumme Zeit“, die Silke von Bremens Debütroman den Titel gab und die das Verdrängen und Totschweigen nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs beschreibt.

Helma und Rudi sind seit ihrer Kindheit befreundet. Sylter Nachbarskinder, die nicht nur viele Kindheitserinnerungen, sondern auch ein gemeinsames Schicksal teilen: beide sind ohne ihre Mutter aufgewachsen. Helma, die lange unter ihrem jähzornigen und hartherzigen Vater litt, der auch nach dem Krieg seine Gesinnung nicht ändern wollte und der ihr im Alltag und im Leben keine große Hilfe war. Und Rudi, dessen Mutter während des Krieges abgeholt wurde und nie mehr zurückkam und der sich an den Abenden in der Dorfkneipe mit Alkohol betäubt.

„Diese Unsicherheit und Angst schnürten ihr schon morgens nach dem Aufstehen die Luft ab, und nachts konnte sie keinen Schlaf finden. Sie hatte sich um ihren Herrgott nie wirklich gekümmert. Jetzt aber rief sie ihn in ihren Gebeten täglich an, als wenn sie auf einmal beste Freunde wären.“

(S.32/33)

Über beide Mütter wurde nicht gesprochen. Ihre Schicksale wurden totgeschwiegen. Und doch kommt viele, viele Jahre später der Moment, an dem etwas Licht in die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit fällt. Ein altes Poesiealbum taucht auf und plötzlich fangen Helma und Rudi doch an Fragen zu stellen, mit Zeugen der Vergangenheit zu sprechen und in Archiven zu graben.

„Warum man in alten Häusern die historischen Fliesen abschlug, um sie in modernen Friesenhäusern, an denen nichts friesisch war, wieder einzubauen, interessierte Hauke nicht. Er liebte es, Geschäfte zu machen, und war sich sicher, dass alle dabei gut wegkamen.“

(S.86)

Gleichzeitig treibt ein heimtückischer Feuerteufel auf der Insel sein Unwesen und Helma muss sich immer wieder gegen den umtriebigen Geschäftsmann und Immobilienhai Hauke Henningsen zur Wehr setzen, der am liebsten alles zu Geld machen möchte, was ihr lieb und teuer ist.

Von Bremen versteht es, nicht nur Figuren, sondern echte Charaktere erschaffen. Inselmenschen mit Ecken und Kanten, die vom Leben gezeichnet sind und denen der stürmische Nordseewind mehr als einmal heftig ins Gesicht geblasen hat. Sie schreibt mit Feingefühl und einem guten Gespür für die richtige Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Humor. Bei aller Schwere hat der Roman auch luftige, leichte Momente, die Hoffnung geben.

„Helma wurde auf einmal bewusst, dass sie nie mit Rudi über das Verschwinden seiner Mutter gesprochen hatte. Der Tod, die Nichtexistenz ihrer beider Mütter war eine Selbstverständlichkeit wie Kälte im Winter oder Durst im Sommer. Darüber sprach man einfach nicht. Darüber sprach niemand.“

(S.130/131)

Was bedeutet es, ohne Mutter aufzuwachsen?
Was bedeutet es, Kind eines überzeugten und selbst nach dem Krieg unbelehrbaren Nationalsozialisten zu sein?
Was bedeutet es, mit ansehen zu müssen, wie die Heimat sich immer mehr verändert und alte Traditionen immer mehr verloren gehen?

Das sind nur einige wenige Fragen, die sich im Roman stellen, denn Silke von Bremen hat viel in ihren Erstling gepackt: viele Fragen, viele Denkanstöße, viele Aspekte, welche die Lektüre zu einem spannenden, anregenden und abwechslungsreichen Leseerlebnis machen.

„Hauke Henningsen war taub und blind gegen das, was die hochbetagten Häuser, die schmalen Wege und die alte Kirche einem erzählen konnten. Er konnte einfach nicht erkennen, dass sie ein Teil von allem waren und die Menschen unsichtbar durch ihr Leben trugen. Er sah nicht, wie sich das Dorf veränderte und die ersten Häuser ihre Gesichter verloren.“

(S.89)

Die Autorin, die 1959 geboren ist und seit 1989 auf Sylt lebt, hat sich seit langem mit der Geschichte der Insel und ihrer BewohnerInnen befasst. Vieles davon hat sie in ihren ersten Roman einfließen lassen: es geht um Arbeitsdienst und Einquartierung ebenso wie um Bräuche wie das Biikebrennen, aber auch um den Tourismus, den Ausverkauf und den Wandel der Insel im Laufe der Jahrzehnte. Von Bremen entwirft eine Zeitreise vom Zweiten Weltkrieg, über die Wirtschaftswunderjahre und den aufkeimenden Tourismus bis hinein in unsere heutige Zeit.

Trotz all der Themenvielfalt ist das Buch aber keinesfalls überfrachtet, sondern eine wunderbar flüssige Lektüre, die sich großartig liest mit einer Geschichte, die mich sofort hineingezogen und nicht mehr losgelassen hat.

Und auch in das farbenfrohe, ausdrucksstarke Umschlagbild von Julia Küchmeister, das die Kirche St. Severin in Keitum regelrecht leuchten lässt, habe ich mich sofort verliebt. Hier hat der Dörlemann Verlag erneut auch durch die hochwertige Buchgestaltung mit Lesebändchen ein echtes Schmuckstück geschaffen, das man gerne zur Hand nimmt und welches das Herz bibliophiler Menschen aufgehen lässt.

„Stumme Zeit“ ist ein Roman über das Verdrängen, aber auch darüber, wie heilsam und befreiend es sein kann, sich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen und das Schweigen zu brechen. Ein lebensweises, gefühlvolles Buch für den nächsten Urlaub, den Strandkorb oder einfach für eine gedankliche „Sylt-Reise“ vom heimischen Lesesessel aus, das zum Nachdenken anregt und ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte – nun auch aus Sicht der beliebten Ferieninsel – zur Sprache bringt.

Eine weitere Besprechung zum Roman findet man auf Monalisablog.

Mit Silke von Bremens „Stumme Zeit“ habe ich einen weiteren Punkt meiner 24 für 2024erfüllt – Punkt Nummer 20) auf der Liste: Ich möchte einen Debütroman lesen. Die Autorin, die seit 1989 auf Sylt lebt hat zwar bereits die „Gebrauchsanweisung für Sylt“ verfasst, aber mit „Stumme Zeit“ jetzt erst ihren ersten Roman veröffentlicht.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Dörlemann Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Silke von Bremen, Stumme Zeit
Dörlemann
ISBN: 978-3-03820-137-3

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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Silke von Bremens „Stumme Zeit“:

Für den Gaumen (I):
Um die einquartierte Alwine wieder zu Kräften kommen zu lassen und ein wenig aufzupäppeln, gibt es einen „Teller mit Bratkartoffeln“ und einen „Becher mit Milch“ (S.38).

Für den Gaumen (II):
Oft verbindet man mit bestimmten Gerichten besondere Momente in der eigenen Kindheit, so ergeht es auch den Geschwistern im Roman und zwar wecken „gestovte Bohnen mit Kartoffeln“ (S.255) auf einmal längst verschüttete Erinnerungen.

Zum Weiterhören:
Auf einem alten Grammophon läuft während des Krieges Richard Taubers berühmte Interpretation von „Dein ist mein ganzes Herz“ – Musik von Franz Léhar aus seiner Operette „Das Land des Lächelns“ aus dem Jahr 1929.

Zum Weiterlesen (I):
Helma ist eine passionierte Leserin, die in Büchern Trost sucht:

„Wie oft sie Vom Winde verweht gelesen hatte, wusste sie nicht mehr. aber damit gelang es ihr jedes Mal, in eine andere Welt zu wechseln. Wenn Helma der Wirklichkeit entfliehen wollte, wurde sie zu Scarlett O’Hara, zu Stella Termogen, Angélique oder zu Lara aus Doktor Schiwago. Die Bücher waren wie vertraute Orte, an die sie gehen konnte, wenn die Wirklichkeit schwierig oder fade war.“

(S.157)

Margaret Mitchell, Vom Winde verweht
Übersetzt von Martin Beheim-Schwarzbach
Ullstein
ISBN: 978-3-548-26189-8

Zum Weiterlesen (II):
Vergangenen Herbst habe ich Dörte Hansens Bestseller Zur See gelesen und hier auf der Kulturbowle vorgestellt. Wer noch mehr literarische Nordsee- und Inselluft schnuppern möchte, hätte mit diesem Roman eine gute Möglichkeit:

Dörte Hansen, Zur See
Penguin
ISBN: 978-3-328-60311-5

Zum Weiterlesen (III):
Einer meiner ersten Blogbeiträge im August 2020 widmete sich Susanne Matthiessens Buch Ozelot und Friesennerz, in welchem sie sich an ihre Kindheit auf Sylt erinnert und sich auch kritisch mit der Entwicklung der Insel auseinandersetzt.

Susanne Matthiessen, Ozelot und Friesennerz
Ullstein
ISBN: 9783548065083

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