Ein Höhepunkt dieses Bücherfrühjahrs war für mich persönlich zweifelsohne der neue Roman „Monschau“ von Steffen Kopetzky. Grund dafür war nicht die Aktualität der Thematik um eine hochinfektiöse Krankheit, sondern vielmehr seine virtuose Art und Weise, den Zeitgeist der frühen Sechziger Jahre lebendig werden zu lassen und die wunderbare, zarte Liebesgeschichte, die er feinsinnig erzählt ohne kitschig zu sein.
„Sie waren da. Etwas anderes auch. War schon in den Lüften. Hatte sich blind einem kleinen Hauch anvertraut, (…)“
(S.9/10)
1962 – es ist die Zeit von Adenauer und Kennedy, des Wirtschaftswunders, kurz nach dem Mauerbau und das Jahr, in dem „Die Physiker“ von Dürrenmatt uraufgeführt werden. Hamburg erlebt durch das Sturmtief Vincinette eine katastrophale Sturmflut und in Monschau – einem kleinen Industrieort in der Eifel – brechen die Pocken aus. Ein Mitarbeiter der Rither-Werke hat den Virus von einer Dienstreise aus Indien eingeschleppt. Als die ersten Menschen erkranken, beginnen die Maßnahmen, um die Ausbreitung der Krankheit einzudämmen und die Bewohner zu schützen. Basierend auf einer wahren Begebenheit erzählt Steffen Kopetzky in seinem Roman über diese Zeit des Ausnahmezustands.
Vera – die junge Firmenerbin der Rither-Werke – ist gerade von einem Studienaufenthalt aus Paris in die Eifel zurückgekehrt und wird Zeugin, wie die Krankheit den Alltag und das Leben im Ort und in der Fabrik auf den Kopf stellt. Der Geschäftsführer möchte den florierenden Betrieb – Deutschlands Ökonomie erlebt gerade den enormen Aufschwung der Wirtschaftswunderjahre – keinesfalls schließen und handelt heraus, dass sich ein Betriebsarzt um die Betreuung der Mitarbeiter und Bewohner des Ortes kümmern soll, um den Laden am Laufen zu halten. So kommt – gemeinsam mit dem renommierten Arzt und Pockenexperten Stüttgen – der junge, ungebundene griechische Medizinstudent Nikolaos nach Monschau und nimmt den Kampf mit dem gefährlichen Virus auf, der in Deutschland eigentlich schon als besiegt galt. Im zu medizinischen Zwecken umfunktionierten Stahlkocher-Schutzanzug besucht er die Verdachtsfälle und Patienten, impft, verhängt die notwendigen Quarantänemaßnahmen und übernimmt die Aufgabe des Betriebsarztes. Einquartiert wird er im Obergeschoss der geräumigen Villa der Fabrikeigentümer und schon bald vernimmt er im Haus die Musik, die ihn so fasziniert: Jazz.
„Nein, Vera und er, solche wie sie, die Generation, die während der Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit Murmeln gespielt, als Kinder in den Luftschutzbunkern geschlafen hatte – und manche von ihnen hatten die Hölle der Lager aller Art kennengelernt -, sie wollten ein neues Europa. Und sie wollten guten amerikanischen Jazz.“
(S.163)
Schon bald kommen sich Vera und Nikolaos in dieser seltsamen Zeit und Ausnahmesituation näher. Sie verbringen die Abende zusammen, essen, diskutieren und hören Musik. In Zeiten der Verunsicherung durch die bedrohliche Krankheit und der Einsamkeit suchen sie die Nähe des Anderen, sie teilen die Leidenschaft für amerikanischen Jazz und verlieben sich. Und doch sind die beiden auch unterschiedlich: Nikolaos, der starke Grieche, mit den breiten Schultern eines Schwimmers, der in Griechenland in einfachen und ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und sein berufliches Glück nun in Deutschland sucht und die körperlich zerbrechliche Vera – durch eine Polio-Erkrankung in der Kindheit humpelt sie ein wenig – als selbstbewusste Studentin und reiche Firmenerbin, die das wirtschaftliche Erbe und die damit verbundenen Verpflichtungen am liebsten gar nicht antreten möchte.
Die Pocken breiten sich aus, fordern Opfer, der Fasching muss ausfallen, Quarantänemaßnahmen müssen eingehalten werden, die Presse stürzt sich auf das Thema und entfacht einen Medienrummel in dem kleinen Ort. Wirtschaftliche, politische und medizinische Interessen kollidieren – vieles kommt einem sehr bekannt vor.
„Wann würden sie endlich dieses endlose Gebirge verlassen können, in dem ein Tal auf das nächste folgte und eine Schwierigkeit der anderen, ohne dass man jemals den erlösenden Berggipfel erreichte? Wann würde der volle Mond über dem Venn stehen? Wann würde es endlich Frühling werden?“
(S.331)
In einigen Szenen und Absätzen spricht Kopetzky natürlich auch den pandemiemüden Menschen des Heute aus der Seele und trifft Gedanken, die aktuell jeder wohl von Zeit zu Zeit mit sich herumträgt, auf den Punkt.
In Summe habe ich „Monschau“ jedoch nicht als „Pandemieroman“, sondern vielmehr als berührenden und wunderschönen Liebesroman mit viel zeitlichem Hintergrund und Wirtschaftswunder-Flair des Jahres 1962 gelesen. Mich fasziniert, wie stimmig und intensiv Kopetzky den damaligen Zeitgeist für den Leser eingefangen hat und spürbar werden lässt. Das ist genial gemacht, gleichzeitig wirklich unterhaltsam und in einer herrlich flüssigen Sprache geschrieben. Von der ersten Seite an hat mich dieses Buch in seinen Bann gezogen und bis zur letzten Seite nicht mehr losgelassen. Schon heute bin ich mir sicher, dass es in diesem Lesejahr zu meinen Lieblingsbüchern zählen wird.
Ganz großes, literarisches Kino – der Roman schreit geradezu nach einer Verfilmung für Kino oder Fernsehen. Ich hoffe nur, dass diese dann auch gut gemacht sein wird – eine Lektüre sollte und wird diese jedoch keinesfalls ersetzen können.
Eine weitere Besprechung des Romans findet sich bei Bücheratlas.
Buchinformation:
Steffen Kopetzky, Monschau
Rowohlt Berlin
ISBN: 978-3-7371-0112-7
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich „Monschau“:
Für den Gaumen:
Was war 1962 kulinarisch angesagt? Vera bewirtet ihren Liebsten mit „Lachsnudeln mit Cognac“ und „Armen Rittern“. Ich kann mich nicht erinnern, das in dieser Kombination schon einmal gegessen zu haben, aber 1962 war auch vor meiner Zeit.
Zum Weiterhören:
Eine wichtige Rolle in „Monschau“ spielt der Jazz von Miles Davis und die Platten, welche Vera aus Paris mit in die Eifel gebracht hat. Es ist die Liebe zu dieser Musik, welche die beiden Liebenden verbindet und zueinander führt. Sein bekanntestes Album wird wohl „Kind of Blue“ aus dem Jahr 1959 sein.
Zum Weiterschauen:
Im Januar 1962 flimmerte der Straßenfeger „Das Halstuch“ von Francis Durbridge über die deutschen Fernsehschirme. Ein Sechsteiler, der damals das ganze Land in Atem hielt (unter anderem mit Heinz Drache und Horst Tappert), den ich aber bisher nie gesehen habe. Vielleicht lässt sich diese schwarz-weiße Bildungslücke der deutschen Fernsehgeschichte ja irgendwann einmal noch schließen.
Zum Weiterlesen:
Den Literaturnobelpreis in eben jenem Jahr 1962 erhielt John Steinbeck. Das Werk, welches mir bisher von ihm am häufigsten begegnet ist – in der Schule, als Film (mit John Malkovich) und auch im Theater – war „Von Mäusen und Menschen“, das jedoch bereits 1937 erschienen ist. Die Übersetzerin Mirjam Pressler (vor kurzem habe ich ihr letztes Buch „Dunkles Gold“ vorgestellt) hat im Jahr 2002 eine Neuübersetzung des Werks verfasst, welche auch der aktuellen dtv-Ausgabe zugrunde liegt.
John Steinbeck, Von Mäusen und Menschen
Aus dem Englischen von Mirjam Pressler
dtv
ISBN: 978-3-423-14211-3
Jazz und Deine Buchtipps liebe ich! Im Warenkorb … schon wieder … **augenroll**
Schönes Wochenende!
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Liebe Nicole! Wie immer freue ich mich sehr, wenn ich Deinen Geschmack getroffen und Dich neugierig gemacht habe. Mich hat „Monschau“ wirklich begeistert, aber wie immer… Geschmäcker sind verschieden, daher bin ich gespannt, was Du dazu sagen oder schreiben 😉 wirst. Ein schönes, sonniges Wochenende und herzliche Grüße nach Düsseldorf! Barbara
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Ich bin gerade total angefixt von der neuen Judith Hermann….demnächst in meinem Kino 🙂
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Sehr schön, ich reserviere mir schon einmal einen Platz im Sperrsitz… da muss ich unbedingt dabei sein… 😉 Schönen Abend!
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Liebe Barbara,
nach der langen Schließung war es ein Genuss, wieder in den Buchladen im Stadtteil zu gehen und bestellte Bücher dort abzuholen mit dem ein oderen anderen Kommentar der Buchhändlerin. Von „Monschau“ hatte ich im Radio gehört, in der Zeitung gelesen und Deine Empfehlung im Blog.
Am Feiertag konnte ich mich mit dem Roman zurückziehen und fand eine fesselnde Lektüre. Mehrere Aspekte hast Du angesprochen, darunter das Zeitgeschehen. Wie die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs nachwirkte, sich die Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten und Kriegsverbrechern entwickelte und sich der Aufbruch der sechziger Jahre anbahnte. Wie und mit welchen Mitteln die Wirtschaft zum Boomen gebracht wurde. Steffen Kopetzky streut Philosophisches ein, Literarisches – es macht Spaß, den Journalisten-Autor, der „Grünwald“ genannt ist, zu entschlüsseln, was hier aber nicht verraten wird :-).
Schon auch das Drama der Epidemie, Medizin und Gesundheitspolitik bis hin zu dem makabren Maskenball. Hier die „alten Haudegen“ und dort die einfühlsame Begegnung des jungen Paares.
So teile ich die Empfehlung und grüße herzlich, Bernd
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Lieber Bernd! Oh, das freut mich sehr, dass Dir „Monschau“ auch so gut gefallen hat wie mir. Danke für die schöne Rückmeldung und dass Du Deinen Leseeindruck hier geteilt hast. Auch die Freude über etwas „entspanntere“ Besuche im Buchladen teile ich absolut. Hoffen wir, dass der Sommer weiterhin entspannt beginnt und bleibt. Dir ein schönes Wochenende und herzliche Grüße nach Nürnberg! Barbara
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