Norwegischer Nobel-Klassiker

Klassiker lesen lohnt sich und im Falle von Sigrid Undset’s „Kristin Lavranstochter – Der Kranz“ aus dem Jahr 1920 – dem ersten Teil der nobelpreisgekrönten Trilogie – ganz besonders. Die renommierte Übersetzerin Gabriele Haefs hat das Werk aus dem Norwegischen neu ins Deutsche übertragen – ein wunderbarer Anlass, wieder einmal ein großes Werk der Weltliteratur zur Hand zu nehmen.

14. Jahrhundert – Kristin wächst behütet als Lieblingskind ihres Vaters im norwegischen Gudbrandsdalen auf. Ihre Mutter ist schwermütig und kann die Verluste weiterer Kinder kaum verkraften, so dass sich der Vater verstärkt des Mädchens annimmt. Das Leben ist rau, schroff und arbeitsreich und doch verbringt Kristin eine weitgehend unbeschwerte, naturverbundene und freie Kindheit, bis sich die Schicksalsschläge häufen. Ihre kleine Schwester verletzt sich bei einem Unfall schwer und wird nie mehr vollständig genesen. Auch ihre Jugendliebe – der junge Arne aus der Nachbarschaft – stirbt unter tragischen Umständen.

Schon früh wird sie daher Simon, dem dominanten Sohn einer einflussreichen Familie, versprochen. Doch der Tod Arne’s, für den sie sich selbst die Schuld gibt, lässt sie für eine gewisse Zeit ins Kloster nach Oslo fliehen, um wieder Ruhe und Besinnung zu finden.

Eine völlig andere Welt – sie begegnet dem strengen Glauben der Schwestern im Orden, aber auch bei Besorgungsgängen dem quirligeren, bunten und lauten Stadtleben, das so anders ist als das bodenständige, einfache Leben in der kargen Natur ihrer Heimat. Und sie trifft auf Erlend – einen gutaussehenden, jungen Adeligen, dem ein zweifelhafter Ruf anhaftet, hat er sich doch in seiner Jugend einige Fehltritte geleistet, die ihn immer noch verfolgen. Und trotz alledem verliebt sich Kristin sofort in ihn.

„(…) doch sie hatte auch das Gefühl, dass alle Menschen sie anstarrten, als hätten sie durchschaut, dass sie als Lügnerin hier stand, mit dem goldenen Kranz in ihren offenen Haaren.“

(S.210)

Eine Ehe mit Simon kommt für sie nun nicht mehr in Frage und es kommt zur offenen Konfrontation mit dem Vater, der Erlend nicht als Schwiegersohn akzeptieren möchte. Kristin kämpft für ihre Liebe.

Steht der Kranz im Titel des Romans – der auch an den skandinavischen Mittsommer denken lässt – symbolisch für die Jungfräulichkeit, so stammt auch die Redewendung „unter die Haube kommen“ aus dem Mittelalter, da Frauen ab dem Zeitpunkt ihrer Heirat das Haar nicht mehr offen tragen durften, sondern unter einer Kopfbedeckung verbargen.

„Vielleicht hatte er sich in diesem Jahr gar nicht so sehr verändert, aber in all den Jahren hatte sie ihn als den jungen, kräftigen, schönen Mann gesehen, auf den sie als kleines Kind so stolz gewesen war, weil sie ihn zum Vater hatte.“

(S.240)

Mich berührte vor allem die besondere, innige Beziehung zwischen Vater und Tochter. Undset zeichnet ein ganz besonderes, sehr liebevolles Band zwischen den beiden, das durch Kristin’s Brechen mit Regeln und Traditionen im Laufe des Romans einer starken Zerreißprobe unterzogen wird. Und doch springt selbst der starrköpfige Patriarch aus Liebe zu seiner Tochter in so manchem Punkt über seinen Schatten. Die ausdrucksstark charakterisierte Vaterfigur mutet im Vergleich zum erzkonservativen und herrschsüchtigen Verlobten Simon noch sehr verständnisvoll und weichherzig an und doch bricht ihm die unkonventionelle Entscheidung seiner Tochter nahezu das Herz.

Sigrid Undset hatte ein sehr feines Auge für Stimmungen, zwischenmenschliche Gefühle sowie eindrückliche Naturbeschreibungen und auch die Übersetzerin Gabriele Haefs hat hier einen sehr harmonischen sprachlichen Klang gefunden, der sich wunderbar liest.

In meiner Heimatstadt Landshut hat man aufgrund der „Landshuter Hochzeit 1475“ – einem historischen Fest, das alle vier Jahre (außer in Pandemiezeiten) nachgespielt wird – einen engen Bezug zum Mittelalter – wenn diese auch zeitlich etwas später liegt, als der Roman (14. Jahrhundert). Bei mir ließen die präzisen Beschreibungen der Norwegerin jedoch sofort ein mittelalterliches Kopfkino entstehen, das sich in punkto Kleidung, Schuhwerk oder Waffen bei mir natürlich schnell mit meinen persönlichen Erinnerungen des Landshuter Festes vermischte.

Man sollte keine Berührungsangst oder Scheu vor traditionsreicher, großer Literatur haben. Ganz im Gegenteil: es ist eine Bereicherung, wenn man diese Klassiker – die nicht umsonst zu solchen wurden – in einer derart gelungenen und zeitgemäßen Neuübersetzung für sich entdecken und genießen darf. Da ist nichts Antiquiertes oder Angestaubtes, sondern Undset hat mit Kristin Lavranstochter eine unvergessliche Frauenfigur des norwegischen Mittelalters zum Leben erweckt – eine interessante Frau aus Fleisch und Blut mit Stärken, Schwächen, Eigensinn und einem starken Willen.

Das Nobelpreiskomitee begründete die Vergabe des Preises 1928 an Sigrid Undset wie folgt und zeichnete sie „vornehmlich für ihre kraftvollen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter“ (Quelle: Wikipedia) aus. Dem kann ich mich nur anschließen.

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kröner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt und bei Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Sigrid Undset, Kristin Lavranstochter – Der Kranz
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Kröner
ISBN: 978-3-520-62101-6

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Sigrid Undset’s „Kristin Lavranstochter – Der Kranz“:

Für den Gaumen:
Das mittelalterliche Festessen ist zumindest in Teilen für heutige Gaumen gewöhnungsbedürftig:

„Es gab Roggenmehlgrütze, gekochte Bohnen, weißes Brot und als Frischgericht Forellen, salzig und frisch, und fetten Weißfisch.“

(S.349)

Zum Weiterlesen (I):
Der zweite Teil von Sigrid Undset’s preisgekrönter Trilogie „Kristin Lavranstochter – Die Frau“ erscheint im Herbst im Kröner Verlag ebenfalls neu übersetzt von Gabriele Haefs. So kann die Klassiker-Lektüre schon sehr bald fortgesetzt werden.

Sigrid Undset, Kristin Lavranstochter – Die Frau
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Kröner
ISBN: 978-3-520-62201-3

Zum Weiterlesen (II):
Einer meiner ersten Beiträge auf der Kulturbowle war Lars Mytting’s „Die Glocke im See“ gewidmet, einem Roman, der ebenfalls im norwegischen Gudbrandsdalen spielt. Auch in Bezug auf das Erzählen einer Familiengeschichte, die Nähe zur schroffen Natur und der Kargheit des einfachen Lebens lassen sich durchaus Parallelen erkennen, auch wenn was die Handlung betrifft 500 Jahre dazwischen liegen, denn Mytting’s Roman spielt im 19. Jahrhundert.

Lars Mytting, Die Glocke im See
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Insel Taschenbuch
ISBN: 978-3458364757

13 Kommentare zu „Norwegischer Nobel-Klassiker

  1. Klasse Barbara,
    wie Du aktuelle und klassische Bücher vorschlägst. Trotz großer Auszeichnung sind mir die Autorin und ihr Werk bisher nicht bekannt gewesen. Dazu flichst Du das Lokalkolorit reizvoll ein.
    Dankeschön und herzliche Grüße
    Bernd

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    1. Danke Bernd, für dieses schöne Kompliment, das mich sehr freut. Auch beim Lesen finde ich es reizvoll, dass die Literatur so vielseitig ist und genieße es, immer wieder zwischen Zeiten und Genres zu wechseln. Das ist das Schöne an der Literatur, dass sie eine so reiche Fülle an Möglichkeiten bietet. Ich werde auch weiterhin versuchen, zwischen neuer und älterer Literatur zu wechseln und nehme Deine positive Rückmeldung gerne als Ansporn. Herzliche Grüße nach Nürnberg! Barbara

      Gefällt 1 Person

    1. Ja, Gabriele Haefs ist die Schwester der beiden. Mir ist sie bereits als Übersetzerin der Krimi-Reihe um die Kommissarin Hanne Wilhelmsen der norwegischen Autorin Anne Holt mehrfach begegnet. Herzliche Grüße!

      Gefällt 1 Person

  2. Über Sigrid Undset besuchte ich während meines Nordistik-Studiums gleich zwei Seminare. Mit ihrer Sprachbeherrschung und feinen Beobachtungsgabe hat sie den Nobelpreis verdient. Acht Jahre früher hatte Hamsun für „Markens Grøde“ den Nobelpreis bekommen, wo ja auch das Leben auf dem Lande zugleich idealisiert und in seiner ganzen niederdrückenden Schwere geschildert wird wie auch bei Gulbranssen. Das war eine Eigenart der norwegischen Literatur zu Beginn des letzten Jh.
    Danke für die Vorstellung
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

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    1. Sehr gerne, es war mir ein Vergnügen. Die norwegische Literatur hat sicherlich noch vieles zu bieten, das es zu entdecken gilt. Skandinavien hat für mich eine ganz besondere Faszination, so dass ich sicherlich auch durch meine Lektüren immer wieder dorthin zurückkehren werde. Sommergrüße aus Niederbayern in den Norden!

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      1. Unsere Liebe für Skandinavien ist darin begründet, dass unsere liebe Dina Norwegerin ist und Masterchen teilweise in Schweden aufwuchs und für seine erste Arbeit nach dem Studium fürs Goethe Institut nach Finnland ging.
        Mit lieben Grüßen vom kleinen Dorf am großen Meer
        The Fab Four of Cley
        🙂 🙂 🙂 🙂

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      2. Eine familiäre Verbindung zu Skandinavien habe ich nicht, aber ich durfte den Zauber des Nordens auf einigen sehr schönen Reisen entdecken. Unvergesslich schöne Landschaften und wunderbare Erlebnisse, die ich gerne mit der passenden Lektüre immer wieder auffrische. Herzliche Grüße an die Fab Four, Barbara

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