Im Sommer hatte ich hier auf der Kulturbowle bereits Sigrid Undset’s (1882 – 1949) nobelpreisgekrönten Auftakt ihrer Kristin Lavranstochter-Trilogie vorgestellt: nach „Der Kranz“ (Kransen) folgt nun „Kristin Lavranstochter – die Frau“ (Husfrue), welches 1921 erschienen ist. Meine Neugier war durch den ersten Band geweckt und so habe ich mich gefreut, dass ich meine Lektüre jetzt in der wunderbaren und zeitgemäßen Neuübersetzung von Gabriele Haefs fortsetzen konnte. Denn schließlich wollte ich wissen, wie sich die Geschichte um Kristin und Erlend weiterentwickelt.
Sigrid Undset gelingt es erneut auf unnachahmliche Art und Weise, mich sofort in die Geschichte hineinzuziehen. Norwegischer Winter, klirrende Kälte – grandiose Naturschilderungen und detailgenaue Beschreibungen der Stimmung – zwei Seiten und ich bin mitten im Geschehen, sehe die Landschaft und die Figuren buchstäblich vor mir. Charlotte Gyth – die Mutter der Autorin – war Aquarellmalerin. Offenbar hat sie den Blick fürs Detail an die Tochter weitergegeben, die mit wenigen Worten gleich einem Pinselstrich ein eindrucksvolles Bild für ihre Leser zeichnet.
Nach der Trauung mit Erlend zieht Kristin zu ihm auf seinen Hof Husaby. Dass sie zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits schwanger war, hat sie verheimlicht und sie trägt schwer an dieser Last. Und auch der Start in Husaby ist alles andere als einfach: sie findet einen verwahrlosten und heruntergekommenen Hof vor, den Erlend sträflich vernachlässigt hatte, und macht sich zunächst daran, aufzuräumen und das Vertrauen des Personals zu gewinnen. Sie versucht, durch einen Bußgang nach Nidaros ihr Gewissen zu erleichtern, sucht Trost und Kraft in Gesprächen mit dem Geistlichen Gunnulf – Erlend’s Bruder – und im Glauben.
Fernab von ihrer Familie – und vor allem getrennt von ihrem geliebten Vater – muss sie ihre Frau stehen: sie wird mehrfache Mutter, durchleidet schwere Geburten und ihr Gatte lässt sie – verwickelt in politische Intrigen und Machtspiele – immer mehr allein. Auch das komplizierte Familiengeflecht – heute würde man dies wohl als Patchworkfamilie bezeichnen – und das Verhältnis zu Erlend’s Kindern aus einer anderen Beziehung vor ihrer Ehe sorgen für Konflikte.
„Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht die Messe hört. Und Sira Eiliv, unser Priester, den du gesehen hast, der liest uns aus frommen Büchern vor – das mag er am liebsten, gleich nach Leckereien und Bier, das Vorlesen, meine ich. Und die armen Leute kommen zu Kristin, wenn sie Rat und Hilfe suchen – ich glaube, sie küssen sogar die Zipfel ihres Gewandes (…)“
(S.164)
Religion, Glaube und Katholizismus spielten in Sigrid Undset’s Leben und auch in ihrem Werk eine große Rolle. Auch in diesem zweiten Band bekommt dieser Aspekt zunehmend Gewicht. So nimmt Gunnulf, der Bruder Erlends, Priester und Mönch, mehr Raum in der Erzählung ein und auch das Motiv des Pilgerns bzw. des Bußgang’s nach Nidaros (im heutigen Trondheim) wirft sicherlich bereits Schatten auf den letzten Band der Trilogie: „Das Kreuz“ (Korset) voraus.
„Tief in ihrem Herzen ahnte Kristin, warum ihr Vater sich solche Mühe gab, um Gott nah und immer näher zu kommen. Aber sie wagte nicht, sich diese Gedanken wirklich bewusst zu machen. Sie wollte sich auch nicht eingestehen, dass sie sehen konnte, wie sehr sich der Vater verändert hatte.“
(S.304)
Undset behandelt in diesem Band die ganz großen Themen des Menschseins, gleichsam den Kreislauf des Lebens: Geburt und Tod, Werden und Vergehen, Liebe zu den Eltern, zum Partner, zu den Kindern. Kristin reift zur Frau, wird vielfache Mutter und muss sich von der ungestümen Wildheit der Jugend, der Unbekümmertheit und unüberlegten Entscheidungen verabschieden. Sie muss Verantwortung für sich, ihr Leben und ihre Kinder übernehmen und doch flackert in den Auseinandersetzungen mit Erlend auch das Feuer und das Temperament der jungen Tage wieder auf. Sie durchleidet die Schmerzen der Geburt ebenso wie sie sich leidvoll von geliebten Menschen verabschieden muss.
Sigrid Undset ist eine Meisterin der Atmosphäre und sie erforscht die Gefühlswelt ihrer Figuren mit einer Tiefgründigkeit und Genauigkeit, die ihresgleichen sucht. Sie hat die besondere Gabe, Emotionen unmittelbar in Bilder aus der Natur zu übertragen. Gefühle und Natur verschmelzen und werden eins:
„Als sie ihn damals kennengelernt hatte, war das Leben für sie wie ein reißender Fluss geworden, der über Stock und Stein strömte. In diesen Jahren auf Husaby hatte sich das Leben ausgebreitet, hatte weit und geräumig wie ein See dagelegen und alles um sie herum gespiegelt.“
(S.446)
Ein reifes und gesetztes Werk, das die Autorin im Alter von gerade einmal 39 Jahren veröffentlicht hat. Ein Roman über elementare und archaische Themen: Leben und Tod, Geburt und Sterben, Schuld und Sühne, Untreue und Eifersucht, Glaube und Liebe, Familienbande und Muttergefühle. Undset zeichnet authentische Menschen mit allen Stärken und Schwächen. Das ruhige Tempo und ihre großartige Erzählkunst, die ohne jede Effekthascherei auskommt, lassen die Lektüre zu einem intensiven, wehmütigen und lebensklugen Leseerlebnis werden.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kröner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Sigrid Undset, Kristin Lavranstochter – Die Frau
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Kröner
ISBN: 978-3-520-62201-3
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Sigrid Undset’s „Kristin Lavranstochter – Die Frau“:
Für den Gaumen:
Kulinarisch werde ich leider mit den norwegischen Spezialitäten des Mittelalters nicht so recht warm. Folgendes, geschilderte Festmahl überlasse ich daher gerne Kristin und ihrem Priester und Beichtvater Sira Eiliv, denn es gibt:
„(…) einen Spieß mit jungen Schneehühnern im feinen Speckmantel oder ein Gericht aus Rentierzungen in französischem Wein und Honig“
(S.193)
Zum Weiterlesen (I) bzw. vorher lesen:
Es lohnt sich unbedingt, den ersten Band „Kristin Lavranstochter – Der Kranz“ vorweg zu lesen, denn die Geschichte baut aufeinander auf und knüpft nahtlos an. Wer also dabei sein möchte, wenn sich Erlend und Kristin verlieben und die Hintergründe der Familiensaga verstehen möchte, dem sei der Auftakt der Reihe wärmstens ans Herz gelegt:
Sigrid Undset, Kristin Lavranstochter – Der Kranz
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Kröner
ISBN: 978-3-520-62101-6
Zum Weiterlesen (II):
Der dritte und letzte Band von Sigrid Undset’s preisgekrönter Trilogie „Kristin Lavranstochter – Das Kreuz“ erscheint im Frühjahr im Kröner Verlag und Gabriele Haefs hat somit ihre Neuübersetzung dieses Werks vervollständigt. Man darf sich also aufs Frühjahr freuen und die Wartezeit ist überschaubar:
Sigrid Undset, Kristin Lavranstochter – Das Kreuz
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Kröner
ISBN: 978-3-520-62301-0
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