Die meisten Menschen haben Sehnsuchtsorte. Orte, die aus ganz bestimmten, individuellen Gründen eine besondere Bedeutung oder Faszination für die- oder denjenigen besitzen. Für den in England lebenden libyschen Autor Hisham Matar ist dies Siena. Er hat sich den Wunsch eines längeren Aufenthalts in dieser Stadt erfüllt und lässt mit „Ein Monat in Siena“ seine Leserinnen und Leser an dieser intensiven Erfahrung teilhaben.
Die meisten Touristen und Toskanaurlauber haben für Siena einen Tag oder gar nur wenige Stunden Zeit, um sich einen Eindruck von dieser geschichtsträchtigen Stadt machen zu können und über den fächerförmig angelegten Campo zu schlendern.
„Die Piazza zu überqueren heißt, an einer jahrhundertealten Choreographie teilzunehmen, die alle einsamen Wesen daran erinnern soll, dass es weder gut noch möglich ist, ganz allein zu existieren.“
(S.22)
Hisham Matar, der sich nach Abschluss eines fordernden Buchprojekts dazu entschlossen hat, eine Auszeit zu nehmen und sich einen langgehegten Traum zu erfüllen, verbringt einen ganzen Monat in Siena, um sich der Stadt mit Haut und Haar widmen zu können.
Bereits seit seiner Jugend üben die Kunstwerke der Sienesischen Schule, d.h. italienischer Künstler des 13. bis 15. Jahrhunderts wie zum Beispiel Duccio die Buoninsegna oder Ambrogio Lorenzetti, eine ganz besondere Faszination auf ihn aus.
Er kann sich stunden- und tagelang in Museen in ein und das selbe Werk vertiefen, sich darin verlieren und jedes Detail in sich aufnehmen. Schlendern viele Museumsbesucher häufig nur uninspiriert an den Gemälden vorbei, so verinnerlicht er diese und macht sie sich ganz zu eigen.
Er teilt mit dem Leser seine Sicht und Begeisterung für die Kunstwerke und erläutert Hintergründe, setzt Akzente und vermittelt, was ihn persönlich besonders bewegt. Man spürt beim Lesen, welch hohen Stellenwert die Malerei und die Auseinandersetzung mit diesen Werken für ihn hat.
„Liegt das wahre Vergnügen nicht darin, das Ziel ins Visier zu nehmen, statt es zu erreichen?“
(S.39)
Die Zeit in Siena wird für ihn auch zu einer Reise zu sich selbst und einer intensiven Erfahrung, die neben dem Kunstgenuss auch von der Begegnung mit Menschen, dem Knüpfen von Freundschaften und anregenden Gesprächen lebt.
Er schreibt, was es bedeutet, allein zu reisen, sich treiben zu lassen und sich vollständig auf einen Ort einzulassen, sich Zeit zu nehmen für das Reiseziel und sich selbst.
Natürlich erfährt man auch einiges über die Geschichte der Stadt, die Künstler, den legendären Palio und die Contraden, die eine so große, auch soziale Bedeutung im Stadtleben spielen, aber dieses Buch ist so viel mehr als ein Reise- oder Kunstführer. Es ist das Erzählen über eine einzigartige Reise, einen außergewöhnlichen Monat und eine Lebenserfahrung, die Matar anreichert mit philosophischen Gedanken. Ein sehr persönliches Werk, das tief in die Gedankenwelt des Autors und seine Lebensgeschichte blicken lässt – verfasst in einer Sprache, die in ihrer Klarheit und Schönheit dazu einlädt, immer wieder innezuhalten und Sätze erneut zu lesen und so auch ein zweites oder drittes Mal zu genießen.
„Wie ungeheuerlich es ist, am Leben zu sein, dachte ich. Es erfüllte mich mit Begeisterung und einem düsteren Stolz auf meine Art, darauf, wie tapfer und heldenhaft wir mit der unleugbaren Tatsache umgehen, dass unser Leben nicht zu erhalten ist und alles, ganz gleich, welche Rüstung wir wählen, vergeht.“
(S.75)
Matar hat ein Buch über Kunst und die Kunst, Bilder zu betrachten und zu beschreiben, geschrieben. Aber auch darüber, was es bedeutet, Mensch zu sein und zu leben: über Trauer, Einsamkeit und Freundschaft. Ein zutiefst menschliches, philosophisches und intelligentes Buch, das mich vollkommen begeistert und inspiriert hat. Das Buch ist auch optisch und haptisch ein Genuss, denn es ist hochwertig gestaltet mit farbigen Abbildungen der Gemälde, auf welche sich Matar bezieht. Selten habe ich ein Buch gelesen, das so von Kunst durchdrungen ist und Lust auf Kulturgenuss und Museumsbesuche weckt.
Wenn die letzte Seite gelesen ist, verspürt man den Wunsch, gleich wieder von vorne zu beginnen. Ein wunderbares Werk voller Weisheit und kluger Gedanken, das bereichert, inspiriert und zum Nachdenken einlädt.
Eine literarische Entdeckung und eine Einladung, die große Lust auf mehr und natürlich auch auf eine Reise nach Siena macht.
Buchinformation:
Hisham Matar, Ein Monat in Siena
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87618-4
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Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Hisham Matar’s „Ein Monat in Siena“:
Für den Gaumen:
Eine Spezialität, die im Buch Erwähnung finden, sind fritelle – „in Zucker getauchte gebackene Reismehlbällchen mit Orangenschale“ (S.79) – das klingt nach Italien, Sommer, Urlaub und lässt einem sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Zum Weiterschauen:
Eines der Schlüsselbilder, auf welche Hisham Matar im Buch explizit eingeht, ist Ambrogio Lorenzetti’s „Allegorie der guten Regierung“ – zu sehen ist das Werk im Palazzo Pubblico von Siena – ein Muss für jeden Siena-Besucher.
Zum Weiterlesen:
Hisham Matar wurde für „Die Rückkehr – Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater“ mit dem Pulitzerpreis und dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Nach dieser inspirierenden und eindrucksvollen Lektüre von „Ein Monat in Siena“ ist jetzt auch sein preisgekröntes Memoir auf meine Wunschliste gewandert, das ich bisher noch nicht gelesen habe:
Hisham Matar, Die Rückkehr
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87422-7







Danke für die wunderbare Anregung. Ich fühlte mich ertappt bei der Zeile „Die meisten Touristen …“, ich war schon mehrmals in Siena, aber immer nur auf der Durchreise, nie für mehr als einen Tag. Vielleicht ergibt sich doch noch mal die Gelegenheit und spätestens dann kommt dieses Buch mit. Buona serata! Anke
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Liebe Anke! Ich zähle selbst auch zu „den meisten Touristen“ 😉 und habe (leider) auch keine längere Zeit dort verbracht – die Toskana hat einfach so viel zu bieten und so möchte man – wenn man schon einmal in der Gegend ist – auch noch viele andere schöne Orte sehen. Aber das Buch ist wirklich großartig, es lohnt sich auf jeden Fall – für mich war es eine wunderbare Möglichkeit mich wieder einmal gedanklich nach „Bella Italia“ zu versetzen. Buona serata und herzliche Grüße! Barbara
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Klingt interessant. Zusammen mit den Bildern noch mehr…
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Ein Buch, das mich zum Schwärmen bringt – wie man vermutlich merkt 😉 – und wirklich eine Stadt mit einem ganz besonderen Flair.
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Dank deiner Empfehlung ist das Buch bereits hier eingezogen. Mich hatte allerdings schon sein Buch „The Return“ sehr bewegt und fasziniert.
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Das freut mich. Ja „Die Rückkehr“ steht jetzt auch ganz weit oben auf meiner Wunschliste und wird wohl beim nächsten Besuch im Buchladen den Weg mit zu mir nach Hause finden. Dann haben wir beide etwas, auf das wir uns freuen können. Herzliche Grüße und morgen einen schönen Sonntag!
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Liebe Barbara,
Deine aktuelle Besprechung und Empfehlung mit feinen Zitaten und Aufnahmen ruft Erinnerungen auf.
Unser Professor las über die Geschichte des politischen Denkens in einem Zyklus von vier Semestern. Zum Übergang vom Mittelalter zur Renaissance sprach er über die italienischen Stadtrepubliken und erläuterte die Illustrationen im Rathaus von Siena.
Bei einer Reise in die Toscana später Siena besuchen, vom Turm über die Stadt und die Piazza zu schauen und die wunderbaren Fresken von Ambrogio Lorenzetti im Rathaus betrachten.
Die Allegorie der guten Regierung, die Allegorie der schlechten Regierung, die Auswirkungen der schlechten Regierung auf Stadt und Land, die Auswirkungen der guten Regierung in der Stadt – dies bleibt – von Dir wieder aufgefrischt – in meinem Sinn.
Spannend, wie der Autor dies mit seinem neuen Blick beschreibt.
Schönen Dank und herzliche Grüße
Bernd
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Gern geschehen und dankeschön! Ja, auch ich hatte Siena und Lorenzetti’s Bilder in guter Erinnerung, als ich das Buch gelesen habe. Daher hatte ich vermutlich auch noch einmal mehr ganz besondere Freude an der Lektüre und den klugen Gedanken des Autors. Herzliche Grüße und eine schöne restliche Woche! Barbara
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