Salzige Brombeeren

Wieviel kann ein Mensch ertragen? Über eine Grenzerfahrung der besonderen Art hat die Britin Raynor Winn ein außergewöhnliches Buch geschrieben: „Der Salzpfad“. 2018 im Original und 2019 auf deutsch erschienen ist es mittlerweile sicherlich kein Geheimtip mehr, aber es ist ein großartiges Buch, das Mut macht, inspiriert und unbeschreiblich schön zu lesen ist.

Die Autorin beschreibt ihre Wanderung auf dem South West Coast Path an der Küste Englands, welche sie gemeinsam mit ihrem Ehemann unternahm, als sie buchstäblich alles verloren hatten. Finanziell standen sie vor dem Nichts, alle Rücklagen waren aufgebraucht, sie verloren einen Gerichtsprozess sowie ihre Farm und somit ihren Beruf und ihr Einkommen. Zudem bekam ihr Gatte Moth nahezu zeitgleich die niederschmetternde Diagnose an einer tödlichen, degenerativen Gehirnerkrankung (CBD) zu leiden.
Wie viel kann ein Mensch ertragen?

„Ein ewiges Auf und Ab zwischen Ginster und Stein, stets begleitet vom Brausen des Meeres. Ein Rhythmus aus Qual und Hunger, Schmerz und Durst, bis irgendwann nur noch der Rhythmus des brausenden Meeres zu spüren war. Während der Wind das Wasser aufwühlte und die Möwen uns den Weg wiesen, schwanden unsere Bedürfnisse.“

(S.185)

Obdachlos und mit einem Budget von lediglich 48 Pfund pro Woche machen sich die beiden mit nichts als einem Zelt, leichten Ruck- und Schlafsäcken sowie der Kleidung, die sie am Leib tragen, auf den Weg entlang des berühmten Küstenpfads an der englischen Südwestküste – den 1014 Kilometer langen Fernwanderweg South West Coast Path. Ein langer Weg – weg von Problemen, Sorgen – hin zu sich selbst.

Tage voller körperlicher Anstrengung, physischer und psychischer Grenzerfahrungen und der Erkenntnis, dass es kein Zurück in das alte Leben geben wird. Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Schmerzen und Angst vor der Zukunft sind die anfänglichen Begleiter und doch merkt man, dass beide Sorgen und Ängste immer mehr hinter sich lassen, dass dieser Weg auf sie eine heilsame Wirkung zu entfalten scheint.

„Der Küstenpfad hatte uns gelehrt, dass die zu Fuß zurückgelegten Kilometer anders waren; wir kannten die Entfernung, den räumlichen Abstand von einem Punkt zum anderen, von einem Schluck Wasser zum nächsten, wir kannten sie mit unseren Knochen, kannten sie wie der Turmfalke im Wind und die Maus, die er im Blick hatte. Bei gefahrenen Kilometern ging es nicht um Entfernung; da ging es nur um Zeit.“

(S.221)

Winn schreibt schonungslos offen über ihre Existenzsorgen, die Angst davor, ihre große Liebe an den Tod zu verlieren, aber auch was es bedeutet, obdachlos zu sein und kein Zuhause, keinen Schutz- und Rückzugsort mehr zu haben.
Gleichzeitig flicht sie Hintergrundinformationen über die Situation der Obdachlosen in England, das britische Sozial- und Rechtssystem ein, ebenso wie großartige Naturbeschreibungen und weiterführende Details zu den Orten und Stationen ihrer Wanderung.

Aber sie berichtet auch über die Menschen, welche ihnen auf dem Weg begegnen und die anfängliche Scham, sich und den anderen die eigene Situation einzugestehen. Sie stoßen auf Unverständnis, Verachtung und Ablehnung, aber dennoch überwiegen letzten Endes vor allem die überraschend positiven und respektvollen Begegnungen mit Menschen, die ihnen Bewunderung und teils auch uneigennützige Großzügigkeit entgegenbringen, sowie neue Perspektiven aufzeigen.
Raynor und Moth wachsen auf diesem langen, strapaziösen Weg über sich hinaus und sie gehen am Ende gestärkt und selbstbewusst einer neuen, anderen Zukunft entgegen.

„Im Grunde hatte wir alle, die wir auf dem Küstenpfad unterwegs waren, etwas gemeinsam; wir waren wohl alle auf der Suche. Suchten nach der Vergangenheit oder der Zukunft, oder nach etwas, was uns fehlte. Es zog uns an den Rand der Zivilisation, auf einen Streifen Wildnis, wo wir frei waren und einfach darauf warten konnten, dass die Antworten kamen – oder eben auch nicht -, wo wir lernen konnten, das Leben, unser Leben zu akzeptieren, wie immer es auch aussehen mochte.“

(S.271)

Die salzigen Brombeeren, die kostenlos am Wegesrand gepflückt werden können, anfangs zu herb schmecken und erst am Ende der Reifezeit ihr volles und unvergleichliches Aroma entfalten, wurden für mich zum Symbol für diese Reise der beiden: Oft sind es die einfachen, kleinen Dinge, welche am Ende zählen, derer man sich aber erst bewusst werden muss. Auch aus Krisensituationen kann man am Ende etwas Positives herausziehen. Und auch das Herbe kann am Ende süß werden.

„Der Salzpfad“ ist ein existenzielles Buch, das erdet und demütig macht, indem es dem Leser vor Augen führt, was wesentlich ist im Leben. Man wird dankbar für vermeintlich Alltägliches, die kleinen, einfachen und so oft für selbstverständlich gehaltenen Dinge des Lebens. Und so kann die Lektüre dieses Reiseberichts auch eine wohltuende und heilsame Wirkung auf den Leser entfalten. Großartige Literatur, die tiefere Saiten zum Klingen bringt und gerade jetzt in der stillen Zeit wunderbar bereichernd sein kann. Und vielleicht möchte so mancher nach der Lektüre am liebsten selbst die Stiefel schnüren und einfach losgehen…

Weitere Besprechungen gibt es unter anderem bei Zeichen & Zeiten und Deutschlandfunk Kultur.

Buchinformation:
Raynor Winn, Der Salzpfad
Aus dem Englischen von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair
Goldmann
ISBN: 978-3-442-14268-2

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Raynor Winn’s „Der Salzpfad“:

Für den Gaumen:
Kulinarisch herrschen für Raynor und Moth oft karge Zeiten – nicht selten hungern sie regelrecht, ernähren sich von Nudeln und Fudge. Ein Höhepunkt sind neben gelegentlichen Ausreißern von Pasteten bzw. Cornish pasties (laut Wikipedia „eine gefüllte Teigware, deren Füllung typischerweise aus Rindfleisch, Kartoffeln, Steckrüben, Zwiebeln, Salz und Pfeffer besteht“), welche sie sich jedoch nur selten leisten können, die salzigen Brombeeren, die erst im perfekten Erntemoment ihren ganz besonderen Geschmack entfalten:

„Als ich sie jedoch in den Mund steckte, schmeckte sie besser als alle Brombeeren, die ich je probiert hatte. Weich, süß, ein vollendetes herbstliches Aroma wie ein fruchtiger Rotwein, und im Abgang ein Hauch, wirklich nur ein Hauch von Salz.“

(S.246)

Zum Weiterhören oder für einen Theaterbesuch:
Raynor und Moth stoßen während ihrer Wanderung zufällig auf ein Open Air Theater und haben das Glück, dass ein netter Herr sie dazu einlädt, die Aufführung zu besuchen und ihnen die Tickets schenkt, die sie sich selbst niemals hätten leisten können: auf dem Programm steht die komische Oper „Iolanthe“ von Gilbert und Sullivan. Sie ist eine von vierzehn Opern dieses Duos, welche im 19. Jahrhundert entstanden und auch als „Savoy Operas“ bezeichnet werden. Einfach mal reinhören: Vielleicht verzaubert Euch die Musik und der Feenstaub ja ebenso wie die beiden Wanderer, die einen magischen Theaterabend erleben durften?

Zum Weiterlesen:
Neben der Poldark-Roman-Reihe von Graham Winston taucht vor allem der Sagenstoff um König Artus immer wieder auf. Vielleicht wäre das eine Anregung, sich mal mit diesem großen Mythos zu befassen – was ich bisher literarisch noch nicht getan habe. Auch Literaturnobelpreisträger John Steinbeck hat sich mit „König Artus“ beschäftigt und auch wenn er das Werk nicht mehr ganz vollenden konnte, wäre das doch mal eine Möglichkeit:

John Steinbeck, König Artus
Aus dem Englischen von Christian Spiel
Zsolnay
ISBN: 978-3-552-04546-0

19 Kommentare zu „Salzige Brombeeren

      1. Schön, dann bin ich gespannt, ob es Dir auch so gut gefallen wird wie mir. Ist ja auch gerade „Wunschzettel“-Zeit, da passt das ja mit der Wunschliste ganz gut – dann kann man sich beschenken lassen oder sich einfach mal selbst beschenken. 😉 Herzliche Grüße und viel Freude bei der Lektüre!

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    1. Dankeschön! Ja, da war ich auch wirklich von beiden sehr angetan bzw. begeistert. Beides Sachbücher, welchen man dies aber aufgrund der jeweils tollen Sprache und der Herzenswärme, die beide ausstrahlen, nicht anmerkt – ich fand beide großartig und gerade in der aktuellen Zeit sehr wohltuend und bereichernd. Falls Du Dich für eins der beiden (oder gar alle beide 😉 ) entscheiden solltest, wünsche ich auf jeden Fall viel Spaß bei der Lektüre! Eine schöne restliche Woche und eine gute Zeit! Barbara

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    1. Bitte gerne, Stefan. Der Platz auf dem Wunschzettel ist unbedingt verdient und vielleicht steigen ja jetzt die Chancen im Advent, dass der Wunsch auch in Erfüllung geht? 😉 Herzliche Grüße und eine gute Zeit! Barbara

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  1. Tatsächlich ging es mir nach „Ich bin dann mal weg“ so. Und ich bin auch aufgebrochen. Eine Woche Backpacker durch Ligurien (der Jacobsweg war zu überfüllt). In sich gehen mit dem nötigsten im Gepäck ist eine sehr heilsame Übung. Wobei ich natürlich wusste, dass am Ende der Reise wieder mein „Luxus“ auf mich wartet. Den habe ich aber einmal mehr geschätzt, als zuvor.
    Danke. Wie immer….

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    1. Liebe Nicole! Wow, auch ich habe damals „Ich bin dann mal weg“ mit großer Faszination gelesen und fand die Idee des Pilgerns und Wanderns mit leichtem Gepäck sehr attraktiv. In die Tat umgesetzt habe ich es aber bisher so nicht. Bei der Lektüre vom „Salzpfad“ musste ich aber unweigerlich auch immer wieder an Hape Kerkeling’s Buch denken… also falls Du den Kerkeling mochtest, dann ist der „Salzpfad“ bestimmt auch etwas für Dich. Herzliche Grüße und einen guten Start in die Adventszeit! Barbara

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  2. Das Buch steht schon seit einer halben Ewigkeit auf meiner Wunschliste. Demnächst muss ich es aber wirklich einmal lesen — danke für die euphorische Erinnerung!

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    1. Gern geschehen, Christoph. Manchmal braucht es ein paar Anläufe oder mehrere „Stupser“ bis die Zeit für ein Buch gekommen ist. Das geht mir auch öfter so. Vielleicht war ich ja jetzt euphorisch genug, um Dich zu überzeugen. 😉 Herzliche Grüße und einen guten Start in den Advent! Barbara

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