Poesie zwischen Tag und Nacht

Für Lyrik muss man sich Zeit nehmen, Muße haben, sich konzentrieren und auf die sprachliche Schönheit einlassen: Christine Langer’s neuer Gedichtband „Ein Vogelruf trägt Fensterlicht“ hat mir wunderbare Momente der Kontemplation und inneren Einkehr beschert. Gerade am Ende eines langen Tages ist es schön, sich etwas Stille zu gönnen und anzukommen. Denn Langer’s Lyrik hat etwas Meditatives, Beruhigendes und eine wunderbare Ästhetik, die einen erdet und ganz bei sich sein lässt.

Die Uhrzeit am Handgelenk längst abgelegt“

(aus „Tage wie dieser“ – Nr.1, S.8)

Die feinen Gedichte haben oft die Natur im Zentrum und bilden Stimmungen ab: Lichtstimmungen, Tageszeiten, Übergänge zwischen Tag und Nacht. Die Texte sind ungemein atmosphärisch und zaubern sofort Bilder vors geistige Auge. Man sieht die Bäume, hört die Vögel zwitschern, blickt auf das Wasser oder das leuchtend gelbe Rapsfeld und spürt den Wind auf der Haut. Es sind schöne Momente, die Langer mit fein gesetzten, wohlklingenden Worten für die Ewigkeit festhält.

Bäume und Vögel ziehen sich wie ein roter Faden durch Langer’s Lyrik. Aber auch das Spiel mit Hell und Dunkel, Tag und Nacht oder auch dem Gegensatz zwischen Schwere und Leichtigkeit. Auch das „Fenster“, das den Blick freigibt und die Perspektive auf andere Dinge öffnet, taucht immer wieder auf.

Die Gedichte strahlen Ruhe aus und sind geprägt von genauem Beobachten und einem ausgezeichneten Blick für Details. Für mich sind sie getragen von einer positiven Grundstimmung sowie einer tiefen Dankbarkeit und Achtsamkeit für die Natur und die Welt, die uns umgibt.

Langer spielt souverän mit der Sprache und eindrucksvollen Bildern. So entstehen ausdrucksstarke Wortschöpfungen wie „Tapetengebete“, „wimpernschwer“, „Lichtfeder“ oder „Amselmond“, welche die Fantasie bei der Lektüre anregen und den Geist in Bewegung setzen.

In manchen Gedichten greift sie kurze Zitate bzw. einzelne Zeilen berühmter Dichter auf, wie z.B. Rimbaud, Hebbel, Fontane oder Hölderlin, umrahmt diese mit ihren eigenen poetischen Gedanken und schafft so daraus ihre ganz eigenen Kunstwerke.

Es lohnt sich, sich ganz bewusst an dieser sprachlichen Schönheit zu erfreuen und das lyrische Ich, das in einigen Gedichten zu Wort kommt und sich manchmal auch an ein „Du“ wendet, auf dem Weg durch die Natur, die Jahres- und Tageszeiten und die Momente des Lichts, der Dämmerung und der Dunkelheit zu begleiten.

Das Körperhaus trägt mich ins Offene der Nacht“

(aus „Nächtliche Korrespondenz mit dem Schreibtisch“, S.20)

Vor kurzem habe ich in einem Interview mit Elke Heidenreich gehört, dass sie, die ja umgeben von Büchern in jedem Raum ihres Zuhauses lebt, ihre Lyrikbände im Schlafzimmer aufbewahrt. Ein schöner Gedanke wie ich finde. Schließlich haben Gedichte etwas Intimes, denn jeder Mensch liest und versteht sie anders. Kaum eine literarische Gattung lässt so viel Raum für Interpretation, Identifikation und Gefühle. Gedichte können etwas Tröstliches, Beruhigendes und Entschleunigendes haben – Poesie ist persönlich, Poesie ist Herzenssache.

Das Licht noch mehr lieben, wenn es fehlt.“

(aus V. Traumnuancen – Übungen im poetischen Sprechen Nr. 39, S.94)

Vielen fällt es gerade in diesen Zeiten schwer, das Gedankenkarussell abzustellen und zur Ruhe zu kommen, doch diese wunderbaren Gedichte in ihrer sprachlichen Eleganz und Natürlichkeit machen es einem ganz leicht.

Christine Langer’s Gedichte des Bands „Ein Vogelruf trägt Fensterlicht“ sind sehr sinnlich, ästhetisch und lenken die Aufmerksamkeit auf Schönes, auf die Natur, auf Lichtstimmungen und Jahreszeiten. Poetische Achtsamkeit, die helfen kann zu entspannen, runterzukommen, den Alltag eine Weile auszublenden – gleich einer geistigen Yogaeinheit. Balsam für die Seele.

Weil der Tag noch auf den Schultern liegt,
Sinken wir mit der blauen Stunde
In die Dämmerung. (…)“

(aus V. Traumnuancen – Übungen im poetischen Sprechen Nr. 1, S.67)

Der wunderbare Band wird wohl die nächste Zeit weiterhin auf meinem Nachtkästchen liegen, denn wir können in diesen dunklen Zeiten alle etwas wohltuende Schönheit gebrauchen. Warum also nicht den Tag mit etwas Positivem in Form von Poesie und einem feinen Gedicht beschließen, schließlich handelt es sich hier um traumhaft schöne Lyrik!

Gebet

Der Duft der Linde hält die Fensterläden
Über Nacht geöffnet,
Sterne fallen vom Himmel,
Scheiteln deine Träume.

Dein Atem pendelt sich
In den Takt rauschender Blätter,
Ich halte einen
Schatten fest, bevor er zu Stein wird


(Christine Langer aus „Ein Vogelruf trägt Fensterlicht“)

Mit diesem Buch habe ich einen weiteren Punkt meiner „22 für 2022“ erfüllt – Punkt Nummer 2) auf der Liste: Ich möchte einen Lyrikband lesen. Die zauberhaften Gedichte von Christine Langer waren für mich höchster sprachlicher und literarischer Genuss. Gedichte zum immer wieder lesen!

Ich bedanke mich sehr herzlich beim Kröner Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat und bei Frau Birgit Böllinger, die mich auf das Buch aufmerksam gemacht hat. Mein Dank geht auch an die Autorin Christine Langer dafür, dass ich das „Gebet“ in voller Länge hier präsentieren darf. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.

Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.

Buchinformation:
Christine Langer, Ein Vogelruf trägt Fensterlicht
Kröner
ISBN: 978-3-520-76501-7

***

Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Christine Langer’s „Ein Vogelruf trägt Fensterlicht“:

Für den Gaumen:
Der einzige kulinarische Anklang, den ich in den Gedichten entdecken konnte ist etwas ganz Elementares, Einfaches, Gutes – aber auch Paradiesisches: Äpfel.

Zum Weiterschauen:
Die schöne Gestaltung des Buches mit einem Werk des Maler’s Paul Klee auf demTitel: „Landschaft mit gelben Vögeln“ (1923) – macht dieses kleine, feine Büchlein auch optisch zu einem wunderbaren Geschenk für liebe Menschen. Das fröhliche, farbenfrohe Bild passt nicht nur perfekt zum Titel „Ein Vogelruf trägt Fensterlicht“, sondern auch zu Langer’s positiver Lyrik, sowie ihren häufig gewählten Motiven aus der Natur: wie Vögel, Bäume, Pflanzen – aber auch durch die klaren Hell-Dunkel-Kontraste zum großen Thema „Licht und Schatten“.

Zum Weiterklicken:
Christine Langer ist 1966 in Ulm geboren und wird 2022 auch die künstlerische Leitung des Ulmer Lyriksommers übernehmen. Auf der Homepage der Autorin gibt es mehr über ihre Biografie, ihre Veröffentlichungen und Auszeichnungen nachzulesen.

Zum Weiterlesen:
Christine Langer hat bereits mehrere Lyrikbände veröffentlicht – unter anderem mit den schönen Titeln „Lichtrisse“, „Findelgesichter“ oder „Körperalphabet“ – besonders angetan hat es mir jedoch der Titel „Jazz in den Wolken“ – da beginnt der Geist schon vorher zu tanzen.

Christine Langer, Jazz in den Wolken
Klöpfer & Meyer
ISBN: 978-3863510978

11 Kommentare zu „Poesie zwischen Tag und Nacht

  1. Auf meinem Nachttisch liegt immer noch „Ich selbst, auch ich tanze“ von Hannah Ahrendt, das Du neulich vorgestellt hattest. Ich mag es sehr. Auch dieses Buch heute hast Du wieder sehr appetitmachend vorgestellt. Ich werde es mir merken, liebe Barbara.

    Gefällt 1 Person

    1. Danke, Bettina! Ja, ich nehme mir jetzt auch wieder gezielt vor, mir immer mal wieder neue Lyrik auf den Nachttisch zu legen. Ein paar schöne Zeilen vor dem Einschlafen können wirklich gut tun. Und die Gedichte von Christine Langer sind wirklich sehr, sehr schön. Ich wünsche Dir ein schönes Osterwochenende – vielleicht ja auch mit Zeit und Muße für feine Poesie! Herzliche Grüße, Barbara

      Gefällt 1 Person

      1. Man kann beim Einschlafen gut darüber nachdenken. Gerade auch bei Hölderlins wunderbar bildlich poetischen Natur- und Heimatgedichten geht es mir so. Man muss sich wirklich konzentrieren und gerät immer tiefer in Hölderlins Welt und seine eigenen Gedanken. Beruhigend und gut für die Seele. Dankeschön, auch Dir wünsche ich ein wunderbares Osterwochenende, liebe Barbara, und Muße für alles Schöne! Herzlich grüßt Bettina

        Gefällt 1 Person

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