Der finnische Autor Mooses Mentula hat mit „Der Schildkrötenpanzer“ ein eigenwilliges und ungewöhnliches Buch vorgelegt, das nun von Stefan Moster aus dem Finnischen ins Deutsche übertragen wurde. Ein fantasievoller, wilder Ritt durch Raum und Zeit unter der Reiseleitung von Charles Bukowski und Jack Kerouac.
„Immerhin war es ihm beim Schreiben gelungen, eine Welt zu sehen, die weiträumiger war als zweiundvierzig Quadratmeter!“
(S.30)
Tino, der in einem kleinen Apartment in Helsinki haust, wird bald Vierzig und hat noch nichts geschafft in seinem Leben. Kein Studium beendet, keine Berufsausbildung abgeschlossen, keinen Job lange ausgehalten, keine Beziehung – vielmehr kämpft er seit Jahren mit einer schweren psychischen Erkrankung und Angstzuständen, die seinen kompletten Alltag dominieren. Um sich zu beruhigen, sieht er den Online-Livestream eines Aquariums und beobachtet die Fische. Selbst ein vermeintlich normaler Friseurbesuch wird zum nahezu unüberwindbaren Hindernis und auch die notwendigen Lebensmitteleinkäufe erträgt er nur, wenn er sich vorher mit Medikamenten und Dosenbier ausreichend betäubt.
„Tinos gesamtes Erwachsenenleben war ein einziges Schwimmen zwischen Haien. Jedes Mal, wenn er auch nur ein bißchen die Hoffnung nährte, daß sich die Lage besserte, warf ihn die Panik mit einem Tritt zurück und lieferte ihn wieder den Raubtieren aus.“
(S.35)
Auch die Eltern, die viele hundert Kilometer entfernt leben, haben die Hoffnung, dass er sein Leben doch noch in den Griff bekommen wird, nahezu aufgegeben.
„Tino hingegen hatte Angst vor der Angst selbst, deren Grund man weder akzeptieren noch ersticken konnte, weil es ihn nicht gab.“
(S.58)
Eines Tages landet Tino auf der Flucht vor einem kleinen Mädchen, das ihm zu nahekommt, in einem Antiquitätenladen. Ein alter Schildkrötenpanzer zieht ihn in seinen Bann und als Zugabe zu seinem Kauf erhält er vom Inhaber des Ladens eine Tasche mit Büchern, die sein Leben verändern werden. Er taucht ab in die Welt von Jack London, Jack Kerouac und Charles Bukowski, der plötzlich leibhaftig vor ihm steht und ihm dabei helfen will, sein Leben zu verändern und selbst ein neues Lebenskapitel zu schreiben. Kann das Schreiben seine Rettung sein?
„Er bekam keine Luft und konnte nicht einmal schreien. Er begriff, daß das Leben ein einziges Luftschnappen im Eimer eines Anglers war.“
(S.211)
Und so beginnt eine völlig neue, wilde Geschichte, denn plötzlich begegnet er dem kleinen Mädchen Tuuli und ihrer Mutter Mirjam, die ihm ans Herz wachsen und auf seine Hilfe angewiesen sind und ehe er sich versieht, befindet er sich in einem Wohnmobil auf einer wilden Reise durch Finnland. Den schützenden Panzer hat er abgelegt.
Sind das nur Wahnvorstellungen, die Tino’s Psychosen entspringen, oder seine Fantasie und seine ersten schriftstellerischen Gehversuche, befeuert durch die inspirierenden Werke in seiner Büchertasche? Welchen Anteil haben die starken Medikamente, die er nimmt, und welchen Bukowski, Kerouac und Co? Traum, Realität, Fakten und Fiktionen verschwimmen mehr und mehr und schon bald wird es nicht nur für Tino schwierig, den Überblick zu behalten.
Auch ich musste mich für diesen Roman aus meiner gewohnten literarischen Komfortzone ein wenig herauswagen, ganz vorsichtig den Kopf aus meinem selbstgewählten Schildkrötenpanzer strecken und ich gebe zu, dass ich stellenweise – vor allem bei allzu männlichen und sprachlich etwas vulgären Passagen – manchmal etwas gefremdelt habe.
Hinter dem harten Panzer steckt jedoch ein ernster, weicher Kern: das schwierige Thema der Angststörungen und auch die schöne Idee, dass Literatur und Fantasie helfen und einem Leben eine neue Richtung geben können. Daher lohnt sich die Lektüre – schon allein aufgrund der absolut verblüffenden Wendungen und des wirklich genialen, geradezu göttlichen Finales.
„Meine Absicht bestand darin, im Kopf des Lesers eine Geschichte zu lancieren, die erst zu leben beginnt, nachdem die letzte Seite gelesen ist.“
(S.232)
Und genau ein solches Buch ist Mooses Mentula mit „Der Schildkrötenpanzer“ gelungen – ein rätselhaftes, merkwürdiges Buch, das nach der Lektüre in einem arbeitet und das man nicht so schnell beiseite schieben kann. Viele Fragen, viele verschlungene Wendungen, viele verschiedene Ebenen – ein Buch wie ein Roadmovie und ein wilder Ritt zwischen Wirklichkeit und Illusion. Ein Roman, der verwirrt und die Leserschaft stellenweise etwas plan- und ratlos zurücklässt und doch den Geist anregt, noch einmal darüber nachzudenken. Ein verspieltes, fantasievolles literarisches Experiment für abenteuerlustige Leser, die keine Angst vor ungewöhnlichen, schrägen und skurrilen Büchern haben.
Ich bedanke mich sehr herzlich beim Weidle Verlag, der mir freundlicherweise ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat. Auf meine Meinung und Rezension des Buches hatte dies keinen Einfluss.
Beim Klick auf den Titel gibt es nähere Informationen zum Buch auf der Seite des Verlags.
Buchinformation:
Mooses Mentula, Der Schildkrötenpanzer
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
Weidle Verlag
ISBN: 978-3-949441-03-5
***
Wozu inspirierte bzw. woran erinnerte mich Mooses Mentula’s „Der Schildkrötenpanzer“ – im übrigen mit einer herrlichen Umschlagsillustration von Greta von Richthofen:
Für den Gaumen:
Die kulinarischen Gelüste sind wahrlich very british, denn sie sind inspiriert von einem britischen Missionar in der Südsee (Jack London lässt grüßen):
„Wie sehr sehnte er sich nach Darjeeling-Tee, nach Toast mit Marmelade und einem Pint Stout.“
(S.24)
Zum Weiterhören:
Ähnlich schräg und unerwartet wie die Handlung ist auch der Soundtrack des Romans: Oder hättet Ihr in einem finnischen Roman mit Ricky Martin’s „Livin la vida loca“ gerechnet? Ich nicht. Da passt für mich Van Halen’s „Right now“ gefühlt doch noch etwas besser.
Für einen Theaterbesuch:
Jean Genet – sein Roman „Querelle“ aus dem Jahr 1947 ist in der Tasche, die Tino aus dem Antiquariat mitnimmt – kenne ich bisher lediglich vom Theaterstück „Die Zofen“, welches vor kurzem im Landestheater Niederbayern auf dem Spielplan stand – ein düsteres, perfides Drama.
Zum Weiterlesen:
In Tinos Büchertasche, die sein Leben verändert, befinden sich vier Werke: Charles Bukowski „Schlechte Verlierer“, Jean Genet „Querelle“, Jack Kerouac „Unterwegs“ und Jack London „Südsee-Geschichten“. Sicherlich hilft die Kenntnis dieser Bücher auch für ein besseres Verständnis von „Der Schildkrötenpanzer“ und man wird die literarischen Anspielungen erkennen und mehr zu schätzen wissen. Ich muss gestehen, dass ich bisher keines der Bücher gelesen habe. Am meisten würde mich wohl Jack Kerouac’s Klassiker „Unterwegs“ reizen – vielleicht sollte ich diese Bildungslücke mal schließen.
Bei den Werken, die ebenfalls noch im Roman erwähnt werden, sieht meine Lesebilanz besser aus (immerhin zwei von drei): Jane Austen „Stolz und Vorurteil“, George Orwell „1984“ und Edgar Allan Poe „Der Rabe“ (nur letzteren kenne ich nicht).
Jack Kerouac, Unterwegs
Übersetzt von Thomas Lindquist
Rowohlt Taschenbuch
ISBN: 978-3499222252
Welchen Lesestoff Du immer wieder ans Land ziehst, liebe Barbara,
lesend ansprechend wiedergibst und fein garnierst – so als hätte ich es auch schon gelesen.
Jack Kerouac war gerade in der Zeitung zu seinem 100.
Herzlich Bernd
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Dankeschön, Bernd! Das Lob freut mich. Ja, ich versuche, immer mal wieder neue Zutaten in meine Bowle zu mischen und für etwas Abwechslung zu sorgen. Auch wenn man natürlich doch immer wieder gerne zu bestimmten Lieblingsgenres oder -schauplätzen greift, möchte ich doch auch immer mal wieder Neuland entdecken und hier vorstellen. Schön, dass der Ausflug nach Finnland Gefallen gefunden hat. Herzliche Grüße und eine schöne restliche Woche! Barbara
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Eine wunderbare, ansprechende wie neugierig machende Besprechung. Ich bin gespannt auf die Lektüre. Der Band liegt schon bereit. Viele Grüße
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Dankeschön, Constanze! Dann bin ich schon gespannt darauf, Deine Meinung auf Zeichen & Zeiten zu lesen. Viel Freude auf der abenteuerlichen Reise durch Raum, Zeit, Fantasie und Finnland! Herzliche Grüße und ein schönes Wochenende! Barbara
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